FORVM, No. 108
Dezember
1962

Demagogie statt Programm

Man frage um Gottes Willen nicht, warum die ÖVP gewonnen hat. In Österreich werden Wahlen zumeist nicht von der einen Partei gewonnen, sondern von der andern verloren. Man frage also, warum die SPÖ verloren hat.

Zu Beginn der Legislaturperiode hatte sich die ÖVP in einer Position befunden, die allgemein für ihre bisher schwächste gehalten wurde; die SPÖ, geistig und personell erneuert, hatte bei den Wahlen des Jahres 1959 beträchtliche Erfolge erzielt und war der objektiv gerechtfertigten Überzeugung, bei den nächsten Wahlen die Majorität nicht bloß der Stimmen, sondern auch der Mandate zu erlangen. Ein Rückblick auf diese Ausgangsposition sollte verhindern, daß die Sozialisten ihre entgegen solchen Erwartungen erlittenen, an sich recht geringfügigen Verluste leicht nehmen.

Die Niederlage hat sich freilich schon seit 1960 abgezeichnet. Parteioffiziell wurden zwar alle damaligen und seitherigen Rückschläge bei Landtags- und Gemeindewahlen mit Hilfe bewährter Zahlentricks als glorreiche Siege gefeiert, doch inoffiziell kam es soweit, daß man die Schlacht noch vor ihrem Beginn für verloren hielt. Die Frage liegt nahe, warum solche frühzeitige Erkenntnis nicht dazu geführt hat, daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, um durch einen Wandel in der Haltung und im Handeln der Partei jenem voraussehbaren Verhängnis noch zu entgehen. Daß es zu keiner derartigen Revision kam — genauer gesagt: daß sie unmöglich war — stellt die Tragik einer Erneuerungsbewegung dar, die nach triumphalem Aufbruch ausschließlich durch eigene Schuld in der Niederlage geendet hat.

Die Sozialistische Partei hatte sich 1958 ein neues Programm gegeben, mit dem sie versuchte, auf die Fragen der Gegenwart Antworten zu bieten, die — abgesehen von manchen Schönheitsfehlern (vgl. meinen Aufsatz „Auf halben Wegen und zur halben Tat“, FORVM V/55-56) — der modernen Gesellschaft und der modernen Wissenschaft gemäß waren. Das bedeutete die Abkehr von Marx, die Umwandlung seiner Quasi-Religion in eine mit der Demokratie vereinbare Weltanschauung. Diese Neuerung sowie die öffentlich geführte Programmdebatte, die Herausgabe einer weitgehend unabhängigen, objektiv informierenden sozialistischen Wochenzeitung und die durch alle diese Ereignisse entbundenen geistigen Energien lieferten die Voraussetzung für jenen kaum erwarteten Wahlerfolg des Jahres 1959. Die SPÖ gewann damals neue Stimmen von rechts wie von links; sie wurde mit allem identifiziert, was in diesem Land nach Neuem strebte, in die Zukunft wies, alte Konventionen und Schablonen durchbrechen wollte. Dieses Wahlergebnis konnte als Ausgangsbasis für die endgültige Umwandlung der politischen Kräfteverhältnisse in Österreich betrachtet werden. Ich schrieb damals:

Für die Sozialisten gilt es daher, die begonnene Politik weiterzuverfolgen. Das programmatische Fundament wäre zu festigen und zu verbreitern. Aber auch all dem Neuen, das in der Folge der Programmdiskussion zutage getreten ist, wäre größte Aufmerksamkeit zuzuwenden. So hätte das Argument in der politischen Diskussion immer mehr an die Stelle der Phrase zu treten. Auch könnte man getrost die primitive Kontrastmalerei endgültig den Organen anderer Parteien überlassen und sich in der politischen Auseinandersetzung einer gewissen Vornehmheit befleißigen.

(„Heute“, 30. Mai 1959)

Allerdings geschah das genaue Gegenteil hievon. Kaum war das neue Programm da, begannen innerhalb der Partei die Anhänger konservativer Ideen sich dagegen zu wenden, daß man es ernsthaft in Gebrauch nehme; ihr Widerstand war erst schüchtern und wurde dann immer kühner, als sie sahen, daß sie im — nach so viel Bewegung ruhebedürftigen — Parteiapparat bis zur Spitze auf vielfache Ermutigung stießen. Die Diskussion endete damit, daß der Parteifunktionär, der für die Verbreitung der Ideen des neuen Programms zuständig gewesen wäre, jene, die dies forderten, als „am Rande der Partei stehende Intellektuelle“ klassifizierte. Zur intellektuellen Klärung der ideologischen Probleme der Partei hat er damit nichts beigetragen; sein seit langem angekündigter Kommentar zum neuen Programm liegt, vier Jahre nach dessen Beschluß, immer noch nicht vor.

Solcherart verschwand das neue Programm aus dem Gesichtskreis der Öffentlichkeit. Die Behauptung der ÖVP schien bestätigt: das ganze sei nur ein Schwindel; tatsächlich bleibe alles beim alten.

Provinzialismus statt Modernität

Daß nach dem Beschluß des neuen Programms die Anhänger konservativer Auffassungen innerhalb der Sozialistischen Partei wiederum sich zu Wort meldeten, war nur natürlich. Daß jedoch jegliche autoritative Stellungnahme im Sinne des neuen Programms unterblieb, war überaus seltsam. Die Folgen stellten sich pünktlich ein. Sehr rasch verlor die SPÖ ihre Reputation, eine wahrhaft moderne Partei zu sein. Daß, wer mit der Zeit geht, SPÖ wähle, reduzierte sich auf ein bloßes Schlagwort. Die liberalen und linkskatholischen Wählerschichten, die sich der SPÖ zugewandt hatten, sobald sich diese von Marx abgewandt hatte, wurden mißtrauisch und verliefen sich.

Innerhalb der Partei hatte die halbschlächtige Rückkehr zu konservativen Vorstellungen die Folge, daß anstelle jener geistigen Bewegtheit und Beweglichkeit zur Zeit der Programmdiskussion wiederum der radikal tuende Provinzialismus Platz griff, wie er für altgewordene ehemals revolutionäre Gruppen kennzeichnend ist.

So mußte denn die Wochenzeitung „Heute“ sterben, mit deren Stil und Qualität man nicht unbedingt einverstanden sein mußte, die aber eine Stätte freier Geistigkeit war. Übrig blieb ein als Tageszeitung getarntes Verordnungsblatt quasi-religiösen Charakters und eine ordinäre Boulevardzeitung.

Viele Funktionäre, die eben erst für das neue Programm eingetreten waren — Grundsatztreue hin oder her —, hatten gemeint, man könne die dagegen zu Felde ziehenden Konservativen innerhalb der Partei ausschreien lassen, und dann werde Ruhe einziehen. Es trat Ruhe ein, aber erst, nachdem die Partei-Konservativen nicht nur geschrien, sondern ihr Ziel erreicht hatten. Dies zeigt, „daß man der Demagogie nicht Herr werden kann, indem man sich an sie anhängt: die Ängstlichen, die vor dem entfesselten Radikalismus zurückwichen, haben diesen sanktioniert“. Das schrieb der gegenwärtige Chefredakteur der „ArbeiterZeitung“ in deren Nummer 117/72 und meinte den Radikalismus der ÖVP-Ärzte im Konflikt mit den Krankenkassen; aber es gilt geradeso vom Radikalismus in der eigenen Partei. Die Ängstlichen wichen vor dem entfesselten Radikalismus zurück und haben ihn sanktioniert. Das neue Programm ist in der Schublade verschwunden.

Die umsichgreifende Impotenz führte zu sehr konkreten Schwierigkeiten auch in wirtschaftspolitischen Fragen, soweit diese über die unmittelbare Tagespolitik hinausgehen. Die wiederum etablierte konservative Auffassung, daß im Sozialismus ja doch alle Produktionsmittel vergesellschaftet sein würden, verhinderte die klare Vorstellung über eine gemischtwirtschaftliche Ordnung sozialistischer Art. Und damit auch die Festlegung, welche nächsten Schritte zur Realisierung einer solchen gemischten Wirtschaft zu unternehmen wären. Erst in jüngster Zeit — freilich unter der Ägide des revisionistischen Gewerkschaftsbundes und zum Teil auf tagespolitische Fragen abgestellt — hat man ein Wirtschaftskonzept ausgearbeitet, das eine echte geistige Leistung darstellt („Währungsstabilität und Wirtschaftswachstum“, Europa-Verlag, Wien 1962).

Und da man wieder daranging, die Welt in eine „kapitalistische“ und eine solche zu teilen, die zumindest nach ihrem Wirtschaftssystem eine „sozialistische“ war, und da all die schönen Legenden von „Kapitalismus, der die Rüstung braucht, um am Leben zu bleiben“ usw. usf. fröhliche Urständ feierten, konnte es nicht wunder nehmen, daß auch in der sozialistisch geführten Außenpolitik Maßnahmen, die an sich für mehr oder minder realpolitisch motiviert gelten durften, einen zusätzlichen ideologischen Drall erhielten, welcher sodann eine gewisse fatale Eigenwirkung zeitigte.

Nach fast fünfzehn Jahre währendem uneingeschränktem sozialistischem Bekenntnis zu Europa erklärte der Vizekanzler auf dem Vorarlberger Parteitag 1959: „Um seine europäische Position zu sichern, ist der Kartellkapitalismus zur Bildung der EWG geschritten. Der in der EWG geschaffene nationale Bürgerblock leitet eine Entwicklung ein, der man rechtzeitig entgegentreten muß.“

Daß Österreich, immerhin zur Hälfte sozialistisch regiert, dieser reaktionären Schöpfung (an welcher der Sozialist und Oberreaktionär Paul Henri Spaak maßgeblich beteiligt gewesen war) sich nicht anschließen konnte, verstand sich demnach plötzlich von selbst. Österreichs Neutralität hätte eine Vollmitgliedschaft in der Tat zumindest kompliziert, aber dieser einfache Sachverhalt mußte durch ideologische Fleißaufgaben unterbaut werden.

Eine andere solche Fleißaufgabe war die Pflege der Neutralitätslegende, wobei man in plumper Weise darauf spekulierte, die Leute würden schon vergessen haben, daß es gerade die SPÖ war, die sich gegenüber der Neutralität lange Zeit reserviert verhalten und diesbezügliche außenpolitische Bemühungen des Bundeskanzlers Raab mit mancher Unfreundlichkeit bedacht hatte (vgl. Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945-1955, Wien 1955, S. 345 und 348; auch Oskar Helmer, 50 Jahre erlebte Geschichte, Wien 1957, S. 302, spricht von „auferlegten Verpflichtungen“).

Durchaus konsequent versuchte man, dem völkerrechtlich völlig eindeutigen Begriff der militärischen Neutralität unter Berufung auf das Adjektiv „immerwährend“ neue, nebelhafte Konturen zu geben, offenbar um in der EWG-Frage größere Manövrierfähigkeit zu gewinnen. Daß die SPÖ durch das Fiasko der EFTA wieder auf Europa-Kurs gezwungen wurde, war gewiß nicht ihr Verdienst.

Neutralistische Neigungen fanden seit dem Abgang Dr. Pollaks auch in der „Arbeiter-Zeitung“ immer stärkeren Niederschlag. Man sprach dort mehr und mehr von den Übeltaten „beider Weltmächte“, wandte sich gegen „die Blöcke und Militärpakte“ und bekundete gegenüber der NATO steigende Animosität; die unwichtige Tatsache, daß wir, samt unsrer Neutralität, dem einen dieser „Blöcke und Militärpakte“ unsre vom andern dieser „Blöcke und Militärpakte“ bedroht gewesene Existenz verdanken, wurde mit keinem Wort mehr berührt.

So kam es, daß die berühmte „rote Katze“ zum erstenmal einen Funken Berechtigung erhielt.

Opportunismus statt Zielstrebigkeit

In Ermangelung revolutionärer Situationen in Europa, welche der Marx’schen Prophetie entsprochen hätten, avançierten die Mohren zu Protagonisten des Sozialismus und wurden Mitgliedern wie Wählern als Ausbünde edelster revolutionärer Inbrunst vorgestellt (womit die ethische Verpflichtung zur Entwicklungshilfe durchaus nicht verleugnet sei). Gewiß war dies nur ein lächerliches Nebenprodukt der geistigen Rückentwicklung, aber es ging sicherlich vielen Leuten ordentlich auf die Nerven.

Da der theoretische Konservativismus für die Verbreitung sozialistischer Gedanken in der Gegenwart total unbrauchbar ist, entstand als sein notwendiges Nebenprodukt der propagandistische Opportunismus. In Fortsetzung der bei den letzten Wahlen präsentierten Gleichgewichtsparole sowie in Ermangelung konkreter politischer Ziele entdeckte man als neues Propagandaklischee die „Alleinherrschaft“. Den Wählern sollte der natürlichste demokratische Vorgang der Welt, die Regierung der stärksten Partei als düsteres Verbrechen erscheinen. Um dies zu bewerkstelligen, genügte keinesfalls der — durchaus realistische — Hinweis auf die zu erwartende Verschärfung der sozialen Spannungen im Fall einer Alleinregierung der ÖVP oder einer Koalition ÖVP-FPÖ. Man mußte vielmehr den Eindruck erwecken, daß die einzige Alternative zur großen Koalition der „Bürgerkrieg“ sei, und versuchte diese unsinnige Behauptung glaubhaft zu machen, indem man alles daran setzte, eine hysterische Atmosphäre der latenten Bürgerkriegsstimmung zu erzeugen.

Durch diese selbstgeschaffene propagandistische Notwendigkeit geriet man in treffliche Harmonie mit jenen Auffassungen der konservativen Rechten, welche den Klassenkampf nicht im Ministerrat, im Parlament oder in der paritätischen Kommission austragen will, sondern auf der Straße und womöglich mit der Faust. Es ergab sich die absurde Situation, daß die Gegner zur „Zusammenarbeit“ mit der Versicherung gezwungen werden sollten, daß man sie für Faschisten halte.

Schon im Sommer vor den Wahlen hatte Präsident Olah auf die Gefahren solcher Argumentationen hingewiesen: „Die Wähler müssen sich da doch fragen: Wo sind denn eigentlich die Demokraten in diesem Land, wenn die beiden großen Parteien, die wir seit langen Jahren treu wählen, eigentlich zum Großteil aus Nichtdemokraten bestehen?“ (FORVM IX/103-104).

Aus ähnlichen Gründen wurde offensichtlich auch die Habsburger-Frage hochgespielt. Es soll ohne weiteres zugestanden werden, daß sich in dem Habsburger-Nachfahren das jünglingshafte Bedürfnis nach Heroismus mit der Unfähigkeit vereint, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Daß sich aber eine Partei von der Größe und Bedeutung der SPÖ mit ihm auf so ausdauernde Weise befaßt, bliebe unverständlich ohne die Annahme, daß dies nur dazu diente, Öl in ein Feuer zu gießen, welches man noch nicht für ausreichend heiß hielt. Schlimmer noch war, daß es im Gefolge dieser Kampagne zu den übelsten Auslassungen über die Geschichte unsres Landes kam. Man schien von der Theorie auszugehen, daß die Behauptung, Rudolf von Habsburg sei ein Raubritter gewesen, die Wähler veranlassen würde, für die SPÖ zu stimmen.

Herrschte auf staatspolitischem Gebiet die radikale Phrase, so auf wirtschaftspolitischem der blanke Opportunismus, vor allem, sobald es sich um das Ressort „Verstaatlichte Betriebe“ oder, wie es jetzt so schön heißt, um die „Nationalindustrie“ handelte. Die Kohle wird als Brennstoff weitgehend durch das billigere Erdöl verdrängt, und die Kohlenkrise ist eine internationale Erscheinung. In Österreich wird sie dadurch verschärft, daß man hier zumeist qualitativ minderwertige Kohle fördert und daß die maschinelle Ausrüstung unsrer Bergwerke lächerlich altmodisch ist. Statt nun die Vorteile planwirtschaftlicher Maßnahmen zu demonstrieren, wie sie die sozialistische Programmatik verlangt; statt ein Konzept zu entwickeln, nach dem auf längere Frist die Gruben nach und nach stillgelegt werden; statt die Bergarbeiter — wie in der EWG — auf andere Berufe umzuschulen; statt durch entsprechend lokalisierte Wohnbauprogramme ihre Transferierung in andre industrielle Zentren vorzubereiten, wo man sie im Zeitalter des Arbeitskräftemangels freudig aufnähme — statt alledem tat man das, was sonst das Privileg konservativer Politiker ist: man verlangte Subventionen am unrechten Ort und zur unrechten Zeit. Die unangenehmen wirtschaftlichen Folgen sind auch prompt eingetreten (wenn auch nicht hiedurch allein).

Überdies wurden verstaatlichte Betriebe, die infolge der Weltmarktentwicklung ohnehin mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, gezwungen, diese Bergwerke zu übernehmen, wodurch sich ihre Situation weiterhin verschlechterte. Die Elektrizitätswirtschaft mußte den Bau der verhältnismäßig teuer produzierenden Kohlekraftwerke forçieren, während sie auf der andern Seite dringend billiges Kapital sucht. Denkt man an die Feiern und Ansprachen, die solchen Taten folgten, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, daß bei alledem weder das allgemeine Wohl noch das der Bergarbeiter ins Auge gefaßt wurde, sondern ausschließlich der propagandistische Effekt.

Dieser Eindruck vertieft sich an Hand der öffentlichen Erklärungen sonstiger SPÖ-Mandatare. Es läßt sich noch einigermaßen rechtfertigen, dem Finanzminister Schuldenmacherei vorzuwerfen, weil man schließlich nicht allein Forderungen an das Budget gestellt hat und bei diesem Vorwurf folglich die Forderungen der andern bzw. deren Erfüllung im Auge haben kann — wobei sicherlich weder die einen noch die andern Forderungen es dem Finanzminister leichter machten, sparsam zu sein. Ihm aber Defizitwirtschaft vorzuwerfen und im gleichen Atemzug zu verlangen, daß die Milchpreiserhöhung im Staatshaushalt untergebracht werde, überschreitet die Grenze der gerade noch statthaften Demagogie.

Nach dieser Schilderung könnte der Eindruck entstehen, die SPÖ sei bei dieser Wahl durch eine Kette von Fehlern und Irrtümern zusammengebrochen, wogegen sie doch — nach internationalen Maßstäben — kaum eine Einbuße erlitten hat. Doch in Österreich entscheiden eben wenige Zehntelprozente und wenige Mandate über Sieg und Niederlage. Die Herausarbeitung der negativen Tendenzen, die hier vorgenommen wurde, rechtfertigt sich gerade deshalb, weil — im Rahmen dieser prekären Balance — die unbezweifelbar vorhandenen Leistungen der Partei den Wählern nicht ausreichend erschienen: weder die Schulgesetze, noch die Verbesserung der Sozialversicherung, noch die Ausarbeitung des Strafrechtsentwurfes. Noch auch half die eigentlich zu erwartende Empörung über die Gemeinheiten der ÖVP im Wahlkampf, einschließlich des unterschwelligen Appells an den latenten österreichischen Antisemitismus.

Die Konsequenzen, die sich für die SPÖ aus dem Wahlausgang ergeben, liegen auf der Hand. Es gilt, die entsprechende personelle Erneuerung vorzunehmen. Es gilt dort anzuknüpfen, wo man 1959 aufgehört hat — nicht nur im Programmatischen sondern auch im politischen Stil. Es geht um eine mit Gegenwart und Zukunft übereinstimmende Ideologie, welche dann auch imstande ist, detaillierte Lösungen für tagespolitische Probleme zu liefern. Ist das Ziel klar, dann lassen sich auch die Mittel und Wege finden.

Gerede statt Demokratie

Es wäre an der Zeit, von Demokratie nicht nur zu reden, sondern sie auch zu praktizieren. Die erstarrte Struktur des politischen Lebens in diesem Land hätte neue Impulse dringend nötig. Wer nicht weiß, wie das zu geschehen habe, informiere sich auf dem Weg über die demokratische Publizistik im Ausland, etwa in „Le Monde“ oder in der „Süddeutschen Zeitung“ oder beachte Aktivität und öffentliches Auftreten des Ministers Broda oder des Präsidenten Olah, dessen Worte in diesem Zusammenhang wiederum des Zitierens wert sind: „Im politischen Leben macht sich zu guter Letzt die Grundsatztreue bezahlt. Schwankende, unklare, bloß aufs Populäre abgestellte Politik führt zu einer Erschütterung des Vertrauens, und von da bis zur Vertrauenskrise ist es nur ein kurzer Weg.“ (FORVM IX/103-104).

Sollte der österreichische Sozialismus auf seiner bisherigen Politik beharren, dann wird er — dank der angedeuteten Stabilität der beiden großen Parteien — auch bei der nächsten Wahl durchaus nicht zusammenbrechen, sondern weiterhin eine starke politische Kraft bleiben. Aber er würde einem ebenso allmählichen wie beständigen Prozeß der Schrumpfung unterliegen und binnen absehbarer Zeit den direkten Einfluß auf die Gestaltung der Gesellschaft verlieren. Denn die ÖVP wird, sobald sie die absolute Majorität erlangt hat, kaum davon abzuhalten sein, die Regierungsverantwortung allein zu übernehmen.

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