FORVM, No. 220
April
1972

Der 3. Weg der Sozialdemokratie

Me-ti lehrte: Umwälzungen finden in der Sackgasse statt. [1]

Die grundsätzlichen Widersprüche des Kapitalismus sind in keiner Weise aufgehoben worden. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft seit dem Weltkrieg hat die objektiven historischen Entwicklungstendenzen, die sich als Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Akkumulation durchsetzen, bestätigt. Heute ist aber deutlicher geworden, daß die Aussicht für die Zerstörung des Kapitalismus abhängt von einer revolutionären Veränderung in der Sowjetunion selbst und dem Fortschritt der revolutionären Bewegung der „Dritten Welt“.

Im Gegensatz zu der Theorie von der „Einkreisung der Städte durch die Dörfer“ der chinesischen Kommunisten muß der Stellenwert der Revolution in den industriell fortgeschrittenen Ländern betont werden.

Die Sozialdemokratie hebt gerne die „Krisenfreiheit“ des modernen Kapitalismus hervor. Diese Behauptung ist völlig falsch. Wenn auch die Depressionen im Kapitalismus nicht das Ausmaß der vormonopolistischen Krisen [2] oder der großen Krise von 1929 erreicht haben: seit 1945 erlebte das kapitalistische System mehrere Krisen: 1948/1949, 1953/1954, 1957/1958 usw. und gegenwärtig die Krise und den Niedergang der USA, der imperialistischen Führungsmacht. In den Vereinigten Staaten betrug der Rückschlag der industriellen Produktion jeweils zwischen sieben und zehn Prozent. Die Niedergänge und Aufschwünge weisen kürzere Perioden auf als die Zyklen vorher: „Die Expansionsphase 1949-1953 dauerte etwa 45 Monate, 1954-1957 an die 35 Monate und 1958-1960 nur mehr 25 Monate“. [3]

Die gegenwärtige Krise findet ihren Ausdruck in einer stagnierenden Wachstumsrate und in einer zunehmenden Arbeitslosigkeit in den führenden Industrienationen. Gerade die Macht des US-Kapitals wurde von den „thirdworldists“ stark übertrieben. [4] „Mit Ausnahme einzelner Bereiche wie z.B. Computer waren die Wachstumsraten amerikanischer Unternehmen nicht so groß wie die kontinentaler oder sogar britischer Unternehmen“. [5] Das Ergebnis der Untersuchung von R. E. Rowthorne ist die Feststellung, daß die Vereinigten Staaten nicht mehr dominierende imperialistische Macht sind; man könnte sogar von einem „polyzentrischen“ Imperialismus sprechen.

Tab. 1: Internationale Investitionen Ende 1968 (in Mio. Dollar) [6]

  Art der Investitionen
  Direkt Aktien Summe
USA in Europa 19.368 2.899 22.285
Europa in USA 7.750 12.989 20.739
US-Aktiva +11.636 -10.090 + 1.546

Die imperialistische Politik der USA ist Ursache der internationalen Währungskrise, die Illusion der smarten „Herren der Welt“, der Wirklichkeit entfliehen zu können. Die Weltwährungskrise ist Symptom der amerikanischen Expansion, deren ökonomischer, politischer und militärischer Kosten; die weltweite Inflation ist eine Folge der kapitalistischen Investitions- und der antizyklischen Steuerpolitik; „... die arrogante Selbstsicherheit der amerikanischen Regierung Gold zu demonetisieren und den Papierdollar ... zum uneingeschränkten Autokraten des Welthandels und der Finanz zu erheben“, [7] bedeutet schließlich eine völlige Verkennung der Funktion des Geldes. Diese Krise — theoretisch gesehen die Durchsetzung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt — wird kaum die Restauration des Status quo ante bedeuten. Gegenwärtig ist ein Prozeß in Bewegung, der die politische und ökonomische Macht der westlichen kapitalistischen Länder neu verteilt.

Der gegenwärtige Niedergang des kapitalistischen Systems, der nach einer Periode der Expansion und des wirtschaftlichen Aufstiegs erneut eingesetzt hat, wird zugleich von schweren politischen und sozialen Krisen begleitet. Ende der sechziger Jahre verschärfen sich die Konflikte: Studentenrevolte und Generalstreik in Frankreich 1968, eine Welle von Massenstreiks in Italien 1969, die Repolitisierung der amerikanischen Jugend, die Revolte der schwarzen Amerikaner gegen den Kapitalismus, der neue Aufschwung der britischen Arbeiterbewegung 1970 und der bewaffnete Aufstand des nordirischen katholischen Proletariats. Das Ergebnis dieser Kämpfe wird aber nicht nur von der Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Wirtschaft abhängen, der „subjektive Faktor“, das Proletariat und seine Organisationen sind die entscheidendsten Machtfaktoren im Verlauf des sozialen Geschehens.

Eine Umstrukturierung des kapitalistischen Machtgefüges hat sich durch die Intervention des Staates ergeben. Schon Engels und später Lenin haben die wachsende Bedeutung des Staates hervorgehoben, der Austromarxist Hilferding sah im Staatsinterventionismus das Resultat der wachsenden Konzentration des Kapitalismus, die „offene Diktatur der Kapitalistenklasse“. Diese Verschiebung erlaubt nicht von einer Gesellschaft „jenseits des Kapitalismus“ [8] zu sprechen, eine geläufige Phrase des Sozialdemokratismus. Das Neue dieser Entwicklung liegt nicht in der Aufhebung der Bewegungsgesetze der Kritik der politischen Ökonomie, sondern vielmehr in den neuen Aufgaben, die der Bourgeoisstaat heute erfüllen muß. Die langfristige Expansion kann die kapitalistische Wirtschaft aufgrund eigener Gesetzmäßigkeit nicht mehr sichern. „Wie in der ‚Kindheit‘ des Kapitalismus bedeutet das Eingreifen des Staates in seiner Periode der ‚Greisenhaftigkeit‘ im Grunde, daß ohne staatliche Anreize und Hilfe die private Kapitalakkumulation nicht ausreicht, um das System normal funktionieren zu lassen.“ [9]

I. Jenseits des Kapitalismus

1948 erscheint „Jenseits des Kapitalismus“ von Paul Sering, alias Richard Löwenthal, heute Mitbegründer des antisozialistischen „Bundes freier Wissenschafter“, ein Beitrag zur „sozialistischen Neuorientierung“. Der Staat erhält bei Sering Eigenständigkeit und kann als übergeordnete Instanz funktionieren: „... (das bedeutet), daß der Staat nicht als Werkzeug der Unterdrückung angesehen wird, das die Massen zerschlagen wollen, sondern als der Retter aus der Not, dem die Massen bereit sind, umso mehr Macht zu geben, je verzweifelter ihre Lage ist“. [10] Aus der Souveränität des Staates resultiert auch eine spezifische „politische Strategie“, denn „die tatsächliche Einkommensverteilung (wird) nicht durch unveränderliche ökonomische Gesetze entschieden, sondern durch den politischen Kampf“. [11] Die Spaltung der Gesellschaft in verschiedene untereinander autonome Bereiche ist nicht erst eine Innovation des sozialdemokratischen Theoretikers Sering, diese Form der „Analyse“ ist Hauptstück jeder revisionistischen Abhandlung. Der Unterschied der gegenwärtigen sozialdemokratischen Theoretiker zu Sering ist jedoch beträchtlich, die Apologeten der Sozialdemokratie können in keinem Augenblick das theoretische Niveau ihrer Vorläufer erreichen. [12] Kienzl etwa erblickt im Kapitalismus bloß ein definitorisches Problem.

Die Grundsätze sozialdemokratischer Politik sind:

  1. die ethische Fundierung des Sozialismus: „In erster Linie also ... ist der Sozialismus eine Revolte des Menschen gegen das Unrecht, das ihm in der Neuzeit, als immer mehr politische Freiheiten errungen wurden, die wirtschaftlichen Verhältnisse zufügten ... Und daher ist der Sozialismus in erster Linie wohl eine Herzenssache, jedoch auch eine Frage des rationalen Denkens“. Kapital ist nicht mehr aufgespeicherte Arbeit, die Gewalt des Kapitalisten erscheint mehr auf persönlichen Eigenschaften zu ruhen und nicht in der kaufenden Gewalt des Kapitals. Aus dieser grundsätzlichen Verkennung leiten die Ideologen des Sozialdemokratismus ihre „humanistische“ Ideologie ab, die mit Marx nichts mehr gemeinsam hat. „Sozialist wird man aus ethischen Erwägungen. Auch Marx ist aus ethischen Erwägungen Sozialist geworden ...“ [13]
  2. Walter Benjamin hat zur sozialdemokratischen Theorie und Praxis bemerkt, daß sie von einem dogmatischen Fortschrittsbegriff bestimmt werde. „Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen der Sozialdemokratie malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit selbst (nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse). Er war, zweitens, ein unabschließbarer (einer unendlichen Perfektibilität der Menschheit entsprechender). Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer (als ein selbsttätig eine gerade oder spiralförmige Bahn durchlaufender)“. [14] Das verdunkelte Erkenntnisvermögen der SPÖ spiegelt sich gerade in der omnipotenten Kraft von Wissenschaft und Fortschritt. „Daher sollen solche Machtpositionen in der Wirtschaft einer wirksamen Kontrolle durch unparteiische und objektive Fachleute unterworfen werden“, schreibt die österreichische Sozialdemokratin, E. Reich, über die Kontrolle der Macht in der Wirtschaft. [15] Kreisky glaubt seit 1958 Entwicklungen zu erkennen, „von einer gesellschaftlichen Tiefenwirkung wie kaum zuvor in der Geschichte“, nämlich die ethischen und politischen Probleme der Atomphysik. [16]
  3. Ein besonders verschlissenes Versatzstück des Sozialdemokratismus ist die These von der Herrschaft der Manager. James Burnhams, „Die Revolution der Manager“, 1949 im Verlag des ÖGB erschienen, behauptet die Unabhängigkeit der Ingenieure, Wissenschafter und leitender technischer Angestellter. [17] In der Nachfolge Burnhams erklären liberale Ökonomen wie Galbraith den Funktionswechsel der Wirtschaft. Die Verfügungsmacht gründet sich nicht mehr auf dem Eigentum an den Produktionsmitteln, „sondern in der Herrschaft der Manager, die eine ‚oligarchisch sich selbst ergänzende Gruppe‘ darstellen“. [18] An dieser Behauptung stimmt überhaupt nichts. Die leitenden Manager haben ebenso wie die „großen“ Aktienbesitzer direktes Interesse an der Maximierung des Profits. „Vorsitzender F. C. Donner, zum Beispiel, besitzt nur 0,017 Prozent der Aktien von General Motors, die zuletzt 3.917.000 Dollar wert waren. Der Vorsitzende L. A. Townsend von Chrysler besitzt 0,117 Prozent der Aktien im Wert von 2.380.000 Dollar.“ [19] Diese Beispiele sind beliebig zu erweitern. Hinzuzufügen ist auch, daß relativ kleine Aktienpakete zur Kontrolle einer Aktiengesellschaft ausreichen, vor allem bei einer Mehrheit von Kleinaktionären, die durch ihre Kommunikationslosigkeit keinen Einfluß nehmen können.

Die verhältnismäßig lange Periode der progressiven kapitalistischen Entwicklung, die erst mit dem Ersten Weltkrieg zum Abschluß kam, hatte mit der reformistischen Praxis der österreichischen (als auch der internationalen) Arbeiterbewegung die theoretischen Ansätze deformiert und schließlich den Revisionismus hervorgebracht. In der revisionistischen Auffassung entwickelt sich der Kapitalismus anders, als Marx in der Kritik der politischen Ökonomie angenommen hatte. Die Revisionisten nehmen an, der Entfaltung des Kapitalismus wären keine objektiven Grenzen gesetzt. Bernstein etwa definiert dieser Ansicht nach die Aufgabe der Arbeiterbewegung, „daß sie auf die materielle Vermehrung der Lebensgenüsse der Arbeiterklasse gerichtet ist“. [20] Da ein ökonomischer Zusammenbruch des Systems nicht zu erwarten ist, beschränkt sich der Revisionismus auf politische Veränderung. Mittels der bürgerlichen Demokratie kann der Aufstieg der Arbeiterklasse gewährt werden und schließlich zur sozialistischen Gesellschaft führen. Den Bankrott des Reformismus und Revisionismus hat die österreichische Arbeiterbewegung erlebt, sie hat aber nicht die Konsequenzen gezogen. [21]

II. Sozialdemokratische Praxis

In der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung gibt es verschiedene Beispiele für die Bündnispolitik der Arbeiterparteien mit konservativen oder rechten Fraktionen des Bürgertums. Die Rolle vieler kommunistischer Parteien, die heute eine der klassischen Sozialdemokratie ähnlichen Politik verfolgen, werden wir hier nicht behandeln, dies wäre nur mit Rückgriff auf die Geschichte der kommunistischen Internationale und der Sowjetunion sinnvoll.

Die Sozialdemokratie geht von der Annahme aus, die Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft kann durch „schrittweise Reformen“ erfolgen; ausgenommen sind rechte Sozialdemokraten, die mehr oder weniger traditionelle liberale Ideologie vertreten. Die Vorstellung, durch die Übernahme der Regierungsgeschäfte die Lage der Lohnabhängigen zu verbessem, hat sich in der historischen Perspektive nicht bewährt. Tatsächlich gibt es auch nur ein Beispiel in der jüngeren Geschichte, wo eine Regierung einschneidende soziale Reformen durchgeführt hat. Es war eine Regierung, welche von der Rationalität des kapitalistischen Systems überzeugt war und ohne Zögern unabwendbare soziale Verbesserungen einleiten konnte: der „New Deal“ der Regierung von F. D. Roosevelt. Alle anderen Regierungen, mögen sie noch so radikale Vorstellungen verbal vertreten, haben, im Bereich des Staatsapparates vor die Entscheidung gestellt, die kapitalistische Ratio übernommen.

Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Regierung der britischen Labour Party nach 1945. Das Nationalisierungsprogramm, durch den Druck der Basis in der Labour Party Conference 1944 erzwungen, hatte zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen. Die Verstaatlichung von Kohle, Gas, Elektrizität, Eisenbahn, Stahlindustrie usw. erlöste das britische Kapital vor schweren Verlusten, die „linke“ Regierung entschädigte großzügig die Unternehmer, welche in profitreichere Bereiche umsiedelten. Es darf auch nicht übersehen werden, daß Tendenzen zur Nationalisierung in der Konservativen Partei selbst vorhanden waren, die eine Sozialisierung der Verluste bezweckten. Der entscheidende Punkt war das Versagen der Labour Party, welche nur ein Minimalprogramm durchsetzen wollte. Wesentlich war der Charakter der gesamten Durchführung: Geprägt von konventionellen Aktionen des bürokratischen Staatsapparates war das Unternehmen in seiner Struktur ein Schritt zur Wahrnehmung kapitalistischer Interessen, zugleich wurden Manager des Big Business mit der geschäftlichen Leitung beauftragt. Kein Arbeiter konnte den progressiven politischen Charakter dieser Maßnahme erkennen. Die nationalisierten Industrien wurden auch keine Herausforderung der. kapitalistischen Konkurrenten, wie es die Labouristen ursprünglich vorgesehen hatten. Der britische Kapitalismus wurde in seinen schwächsten Sektoren gestärkt, die Verstaatlichung wurde ein willkommenes Komplement. [22]

Ein ähnlicher Prozeß hat in Österreich stattgefunden. Sein Ausdruck sind die Verstaatlichungsgesetze 1946 und 1947. Die Erzeugung von Eisen, Stahl, Kohle, Erdöl, Aluminium usw. ist zur Gänze verstaatlicht, durch die drei verstaatlichten Banken wird auch ein beträchtlicher Teil der Erzeugung von Konsumgütern kontrolliert. Der Bund, die Städte und die Länder verfügen über mehr als 53 Prozent des gesamten Aktienkapitals. „Berücksichtigt man die Eigentumsrechte der drei verstaatlichten Großbanken, dürfte der öffentliche Anteil mehr als 60 Prozent ausmachen“. [23] E. März beschreibt, wie die niederen Grundstoffpreise der Verstaatlichten die Profite erhöhen, jedoch sieht er einen Vorteil darin, daß die österreichische Schlüsselindustrie nicht in die Hände des ausländischen Kapitals gelangt ist. [24]

Die Verstaatlichung war keine sozialistische Reform, wie manche „linke“ Sozialdemokraten uns glauben machen wollen. E. März schreibt u.a.: „Es ist bezeichnend, daß Dr. Margaretha, einer der Vertrauensleute des österreichischen Kapitals, das Verstaatlichungsgesetz dem Parlament als Berichterstatter vorlegte. Er mag sich mit dem Gedanken getröstet haben. daß die meisten der zu verstaatlichenden Unternehmungen eher deutschen als österreichischen Kapitalisten gehörten.“ [25]

Wenn ein Ideologe der SPÖ, H. Kienzl, in den „Roten Markierungen“ den Kapitalismus für überwunden glaubt und den „Beweis“ antritt: „Rund 35 Prozent des Bruttonationalproduktes werden im nichtprivatkapitalistischen Sektor der österreichischen Wirtschaft hergestellt“, [26] kann man über diese Ungebrochenheit nur staunen. Kein Wort wird über den Charakter der ÖIAG ausgesagt, geschweige denn über die Schwierigkeiten dieser Betriebe. Schon bürgerliche Ökonomen haben die Schwierigkeiten staatskapitalistischer Industrien untersucht. Koren bezeichnet als Hauptproblem, das sich durch die zunehmende Verschlechterung des Exportes ergibt, daß die „unzureichenden Kredithilfen die Finanzierungsprobleme (Kapitalaufstockung, W. B.) verstaatlichter Unternehmungen allein nicht lösen können, sondern grundlegende Veränderungen der Vermögensstruktur notwendig ...“ machen. [27]

Die „Gemeinwirtschaft“ hat sowohl krisenaufschiebende Wirkung als auch ideologische Bedeutung: in der Vortäuschung einer sich ausdehnenden „sozialistischen“ Wirtschaft. Der marxistische Ökonom Paul Mattick erörtert diese Frage: Erhöhte öffentliche Ausgaben gleichen die privaten Kapitalanlagen zur Erhaltung der Vollbeschäftigung aus. Größere öffentliche Ausgaben können durch Staatsanleihen gedeckt werden. Eine langfristige Budgetpolitik wieder soll den Zyklus von Krise und Hochkonjunktur eindämmen. Die Disparität zwischen Ersparnis und Investition soll Keynes zufolge staatlich aufgehoben werden.

Der Ursprung der verstaatlichten Wirtschaftszweige liegt historisch im Versuch, Massenarbeitslosigkeit zu verhindern und später in der Kriegsproduktion. Durch die „Sozialisierung des Verbrauches“ wollte man aber auch in Friedenszeiten Vollbeschäftigung erreichen. (Die Entstehung der Verstaatlichten Industrie entspricht dem.) Das Einspringen des Staates ist deshalb schwierig, weil er nur begrenzt Kapital und Produktionsmittel besitzt. Um mehr auszugeben, als er einnimmt, muß der Staat die Differenzierung auf dem Kapitalmarkt erstehen. Zugleich unterliegt der Staat nicht einer Eigengesetzlichkeit, er ist vom Kapital abhängig bzw. ihm unterstellt. Die staatlich vermittelte Produktion fällt entweder unter die allgemeinen Gesetze der Konkurrenz oder sie handelt von einer Produktion, die aus dem Marktbereich herausfällt, die nicht in die allgemeine durchschnittliche Profitrate eingeht usw. Prinzip bleibt, daß zwischen staatlichem und privaten Sektor keine Konkurrenz bestehen darf, denn das private Kapital würde der staatlichen Konkurrenz bald unterliegen, die Wirtschaft wäre dann staatskapitalistisch organisiert. „Das Prinzip der Vollbeschäftigung steht im Widerspruch zu den Notwendigkeiten der Akkumulation. Um dieser Notwendigkeit nachzukommen, muß die unprofitable staatliche Produktion in bestimmten Grenzen gehalten werden“ (Mattick).

„Die Akkumulation des Kapitals hat die unbestrittene Tendenz, die Profitrate zu vermindern — ein Prozeß, der sich durch ein beschleunigtes Akkumulationstempo latent halten läßt. Die relative Stagnation des Kapitals, die die staatlichen Eingriffe erzwang, vermindert die Profitrate trotz und wegen der mit diesen Eingriffen verbundenen steigenden Produktion“ (Mattick). Kommt es nun zu Arbeitslosigkeit, versucht der Staat einzugreifen, gleichzeitig wird es stets schwieriger die notwendigen Profite zu erreichen, denn die unprofitable Wirtschaft dehnt sich auf Kosten der profitablen aus. „Da sich durch staatliche Wirtschaftseingriffe nichts an der Dynamik der kapitalistischen Akkumulation ändern läßt, setzt die ihr immanente Tendenz der fallenden Profitrate auch die Grenzen der unprofitablen staatlichen Produktion. Sie kann nur vorübergehende Wirkung haben und verliert diese Wirkung in zunehmendem Maße durch ihre Ausdehnung“ (Mattick).

Die Belebung der Wirtschaft erfolgt durch Kreditausweitung, am wirklichen Zustand der Wirtschaft ändert sich aber nichts. „Fallende Profite und die zunehmende Schwierigkeit, sie auf inflationistischem Wege auf dem notwendigen Niveau zu halten, führen dann wieder zu dem Verlangen, die Belastung der öffentlichen Ausgaben einzuschränken“ (Mattick). Um die Vorherrschaft des privaten Kapitals zu sichern, wird dieser Forderung nachgekommen. „Die unprofitable Produktion muß reduziert, die Arbeiterzahl den Akkumulationsnotwendigkeiten angepaßt werden, und dem kapitalistischen Konzentrations- und Zentralisierungsprozeß muß freies Spiel gewährt werden“ (Mattick). [28]

Dieser Exkurs soll verdeutlichen, daß die Einführung der „Gemeinwirtschaft“ die Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation nicht aufheben kann und nur eine Frist setzt.

Als Musterland sozialdemokratischer Praxis gilt Schweden. Kreisky bestreitet zwar jede Nachahmung, er unterläßt es aber nie, seine Verbundenheit mit dem schwedischen Beispiel zu bekräftigen. Der Alva-Myrdal-Report der schwedischen Sozialdemokraten beweist eindeutig, daß es nicht möglich ist, durch permanente innere Reformen den Kapitalismus zu überwinden. [29] Die letzte „Reform“ war die Verstaatlichung der Apotheken 1971. In den meisten Wirtschaftszweigen (Lebensmittelproduktion ausgenommen) beträgt der private Anteil nach wie vor weit über 90 Prozent. Der größte Teil davon gehört 15 Familien und zwei Großbanken. Die Familie Wallenberg kontrolliert 70 Prozent der Privatunternehmen mit 20 Prozent der Lohnabhängigen. Seit 1932 sind in Schweden ununterbrochen sozialdemokratische Regierungen im Amt. Die spontanen Streiks 1969 und 1970 haben aber die Beschränktheit des sozialdemokratischen Regierens entlarvt. Wäre die Gesellschaft so, wie die Sozialdemokratie es behauptet, dann gäbe es weder eine Klassengesellschaft noch Strukturprobleme. Mit dem steigenden Rationalisierungstempo in den Betrieben, dem Anstieg der Konzentration und den Monopolbildungen wird die Lüge vom neuen und „friedlichen Kapitalismus“ zerstört. [30]

Ist die Periode des Aufschwunges der kapitalistischen Wirtschaft vorüber, wird auch die Sozialdemokratie gezwungen, ihre opportunistische Ideologie gegen Stabiles aus der Tradition des Trade-Unionismus einzutauschen. Das ist im Sinne von Lenin zu begreifen, der die trade-unionistische Politik der Sozialdemokraten damit charakterisiert, daß sie sich das Ziel setze, „... das gemeinsame Bestreben aller Arbeiter zu erreichen, daß der Staat diese oder jene Maßnahmen ergreift, die den mit ihrer Lage verbundenen Nöten abhelfen, aber diese Lage selbst nicht beseitigen, d.h. die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital nicht aufheben“. [31]

III. „Linke“ Sozialdemokraten: Demontage eines Denkmales

Der Mangel an „linken“ Sozialdemokraten in Österreich ergibt sich nicht nur aus der unterdrückten Aktivität der Parteibasis, er ist zugleich Ausdruck einer andauernden wirtschaftlichen Hochkonjunktur, welche die Notwendigkeit einer theoretischen und strategischen Diskussion nicht deutlich machte und praktische Ansätze schon im Keim erstickte. Erst die erfolglose Koalitionspolitik der SPÖ in den sechziger Jahren, das Abflauen des Antikommunismus (der damals seine Wirkung teilweise verloren hatte) und die Studentenbewegung in der Bundesrepublik machte einen „linksgerichteten“ Verband Sozialistischer Studenten möglich. Gleichzeitig unterstützte eine Gruppe „austromarxistischer“ Sozialdemokraten diese Bewegung. Jedoch waren die Intentionen zu verschieden, mit dem Aufschwung der internationalen Studentenbewegung zerbrach dieses unfertige Bündnis.

Es soll aber nicht die Geschichte der österreichischen Studentenbewegung geschildert werden, wichtiger ist die Aufgabe zu beschreiben, die jenen jungen Sozialdemokraten zugeschrieben wurde. Die SPÖ unter der Führung Kreiskys wollte weniger eine Parteilinke aufbauen, viel eher lag es in ihrer Absicht, über die sozialistischen Studenten Einfluß auf die Studentenpolitik zu nehmen und Kader für eine zukünftige sozialdemokratische Technokratie zu rekrutieren.

Beides gelang nur halb. Die SPÖ bekam weder ausreichend Technokraten für Partei und Regierung, noch gelang es, alle politische Initiative an den Hochschulen zu ersticken.

Kreisky und später das Zentralsekretariat der SPÖ konnten durch Entzug der Finanzen und geschickte Taktik den Bundesvorstand des VSStÖ meist ausspielen (der Autor war selbst 1969/1970 einer der Bundesobleute). Als der VSStÖ 1970 endlich bereit gewesen wäre, sich von der SPÖ zu trennen, war es bereits zu spät. An der Hochschule war durch opportunistische Politik die Basis verloren und das Zentralsekretariat, das wie alle Bürokratie Unordnung nicht dulden kann, hatte mit einer Gruppe willfähriger Studenten die „Linke“ ausgebootet. Heute ist der VSStÖ nur mehr durch seine Untätigkeit bekannt. [32]

In der Entwicklung der österreichischen Studentenbewegung erscheint 1968 ein Mann, der noch wenige Jahre vorher als typischer „rechter“ Sozialdemokrat galt: Günther Nenning. Er kann sich politisch wieder profilieren, weil die Studenten zu diesem Zeitpunkt noch kein theoretisches Fundament aufweisen. Noch 1958 schreibt er „Ist die Sozialistische Partei noch fortschrittlich?“ in gründlicher Verkennung der Klassengegensätze (und in der Nachfolge Renners): „Die Gesellschaftsklassen der pluralistischen Demokratie kontrollieren und balancieren einander, weil hinter ihnen ökonomische Macht steht, das heißt Eigentum an Produktionsmitteln ...“. [33] 1971 hat Nenning schon die Verstaatlichte Industrie als Gegenstück zur privatkapitalistischen Wirtschaft aufgegeben, an das pluralistische Konzept klammert er sich aber noch immer. Die Sozialdemokratie befindet sich glücklicherweise — zumindest seiner Vorstellung nach — „in einer, sei’s auch spannungsreichen Interessenidentität mit dem Kapitalismus, zumindest dessen progressivem Flügel: dem großen Kapital“. [34] Das ist ein alter Traum Nennings, die „sozialistische Gesellschaftsordnung“ fordert, „das absolute Privateigentum an Produktionsmitteln“ zu verwerfen und strebt nach „einer Eigentumsform, die ausschließlich oder doch in ausreichendem Maße der Allgemeinheit dient“. [35] Was das genau bedeutet, vermag zwar niemand zu erkennen, doch Nenning erscheint heute mit den gleichen Sprüchen als „linker“ Sozialdemokrat, der mit großem Geschick an der Linksentwicklung der Jugend partizipiert, ohne jedoch die SPÖ preizugeben.

Schon Eduard Bernstein sah in der Dialektik einen „Fallstrick“, von dem man sich befreien müsse. Der nachfolgende Revisionismus, von theoretischen Überlegungen bereits befreit, verwendet nicht mehr seine Kräfte gegen die Dialektik, Nenning etwa beschert uns die Kategorie: „Weil in der jungen Linken alles so verdammt marxistisch denkt, aber mit dem Holzhammer statt dialektisch ... — deswegen kann kaum gedacht werden, was doch ... gedacht werden muß: daß nämlich Sozialdemokratie nicht nur Agentur des Kapitalismus ist, sondern zugleich Agentur des Sozialismus“. [36]

Statt einer Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse will uns Nenning paternalistisch und mit radikalem Wortsalat den „richtigen Weg“ weisen: „Ein Häuflein linker Radikaler, von denen jeder täglich schon zum Frühstück Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus verspeist ...“. Nenning bietet die Alternative, versorgt mit einem bunten Strauß dialektischer Sprünge, besorgt er es uns. Den gescheiterten Versuch unternimmt er auf Grund einer falschen These. Sein Fetisch ist der automatische Fortschritt: „Die Sozialdemokratie als Modernisierungsagentur des Kapitalismus erfüllt eine historisch notwendige Funktion“. Dieses Kunststück gelingt wieder, weil es den Sozialismus erst dann geben darf, wenn der Kapitalismus „voll, vollendet“ ist. Wie das geschehen darf, erfährt der neugierige Leser allerdings nicht. Der Kapitalismus ist in der „Irrationalität des Profitinteresses“ gefangen und ist zur „Modernisierung“ unfähig. „Hier eben liegt die historische Funktion der Sozialdemokratie.“

Die Demagogie der Dialektik à la Nenning besteht in der wortgewandten Verkleidung des Leichnams sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Nenning hat der österreichischen Linken nur noch die SPÖ anzubieten, mit unserer Hilfe möchte er ihr wieder Leben einhauchen: „Ob Kreiskys Sozialdemokratie tatsächlich Voraussetzungen schafft für Sozialismus, wird abhängen von dem Druck, den progressive, radikaldemokratische, linke Kräfte auf sie ausüben können.“

IV. Die Perspektive

Die Diskussion über die Politik und Aufgabe der Sozialdemokratie kann nur dann sinnvoll geleistet werden, wenn ihre Bedingungen geklärt sind. Aus der bloßen Tatsache, daß die SPÖ von Lohnabhängigen gewählt wird, darf nicht die Identität von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie gefolgert werden; mit dem gleichen Argument müßte auch die österreichische Volkspartei einbezogen werden, die sich theoretisch und praktisch auf die Ideologie der christlichen Arbeiterbewegung stützt. Das Problem ist nicht die Sozialdemokratie als Arbeiterpartei, sondern die Sozialdemokratie als Volkspartei. Eine Diskussion über den Stellenwert der SPÖ muß dies einbeziehen, anderenfalls bleibt es beim Beklagen versäumter Gelegenheiten oder wird einfache Apologie.

Der Kapitalismus hat bis 1966/1967 einen beispiellosen Aufstieg erlebt. Erst die Rezession in der Bundesrepublik und ihre Auswirkungen auf Österreich verdeutlichten die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, die schon aufgehoben schien — zumindest im Bewußtsein der Lohnabhängigen. Die Aufstiegsperiode der österreichischen Wirtschaft wird Anfang der sechziger Jahre abgebremst ablesbar am Wachstum des Bruttonationalproduktes (= Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen in einer Periode). Erst durch den Import ausländischer Arbeiter kann sich die österreichische Wirtschaft wieder steigern. 1971 (Sommer) waren zirka 160.000 Gastarbeiter in Österreich beschäftigt. Im Baugewerbe ist jeder vierte Arbeiter ein „Gastarbeiter“. Nicht besonders muß hier betont werden, daß diese Arbeiter besonders leicht ausgebeutet werden, sei es durch niedrige Löhne oder durch unverschämt hohe Wohnkosten. Die entscheidende Steigerung des Bruttonationalproduktes geht eindeutig auf die nichtösterreichischen Proletarier zurück. [37]

Die „europäische Konjunkturflaute“ wird nach Schätzungen der OECD 1972 noch zunehmen. In Österreich glauben bürgerliche und sozialdemokratische Ökonomen dieser Krise begegnen zu können. Österreich hat eine der höchsten Investitionsquoten Europas (30%) und glaubt auf Grund der hohen Kapazitätsauslastung und Gewinne diese hohe Rate aufrechtzuerhalten. Das jüngste Beispiel ist der Zuckerpreis, der erst nach „sachlicher Überprüfung“ erhöht werden wird, so Kreisky. Die hohe Investitionsquote soll weiters durch beträchtliche Ausweitung der staatlichen Ausgaben erhalten werden. Nach dem Willen Androschs soll nominell die Investition um 17 Prozent gesteigert werden, vor allem bei den Bundesbetrieben, Gemeinden, Ländern und der Elektrizitätswirtschaft. Die Mittel kommen hauptsächlich aus den Preis- und Tariferhöhungen (ein Eventualbudget von 2,8 Milliarden wird bereitgestellt). Auf diese Funktion des Bourgeoisiestaates wurde bereits weiter oben hingewiesen. Zugleich muß aber Arbeitslosigkeit verhindert werden, vor allem muß ein Niedergang der Binnenkonjunktur vermieden werden. Alle Faktoren können aber nur ein Herausschieben der Rezession bewirken, denn spätestens 1973 müßte die bundesdeutsche Rezession Österreich ergreifen. Die österreichischen Kapitalisten, welche über die „Erosion“ ihrer Gewinne jammern, obwohl sie riesige Investitionen vornehmen und immer weniger Einkommensteuer aufbringen müssen (vgl. untenstehende Tabelle), sind mit Kreisky einig, der keine „systemüberwindenden Reformen“ will und kann: „Jede Reform soll darum dort ihre Grenzen finden, wo die Funktionsfähigkeit unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystemes in Frage gestellt wird. Hier wird auch Widerstand zu leisten sein. Österreich kann — noch! — aus schlechten Erfahrungen des Auslandes lernen.“ [38]

Relative Belastung

  a) Lohnsteuer (+ Zuschläge) in Prozent der Lohnsumme b) Einkommensteuer (+ Zuschläge) in Prozent der Gewinne Relation b:a
1950-59 4,6 10,6 2,30
1960-64 4,6 10,5 2,28
1965-691 6,0 12,8 2,12
1960-68 5,2 11,5 2,21
1950-68 4,9 11,0 2,26
1969 6,9 11,8 1,7
1970 76 11,6 1,5
1971 78 12,3 1.6
(1972)2 (8,4) (13,5) (1.6)
1969-72 77 12.5 1.6

1) Laut Volkseinkommensrechnung.
2) Schätzung laut Prognose.

Die Krise der Weltwährung, der zunehmende Handelskrieg zwischen den kapitalistischen Staaten und Österreichs Assoziierung an die EWG werden sowohl ökonomische als auch politische Konsequenzen bringen. Wenn die Härte der ökonomischen Krise auch heute kaum abschätzbar ist, die politische Verunsicherung und die Krise der Sozialstaatsillusionn, hier besonders: die Sozialpartnerschaft, sind geeignet, verschiedene Schichten der Arbeiterklasse in Bewegung zu setzen.

Die Strategie und Taktik der KPÖ, die hier nicht im Detail abgezeichnet werden kann, ist eindeutig antikapitalistisch zugleich, sie ist aber ökonomistisch. Diese Reduzierung erlaubt, politische Agitation und politischen Kampf auf bloße ökonomische Reformen ohne politischen Inhalt zu beschränken. Die Lohnsteuerkampagne, welche die KPÖ gegenwärtig führt, scheint uns dafür ein deutlicher Hinweis zu sein. Theoretisch steht die KPÖ nicht nur auf dem Standpunkt der friedlichen Koexistenz und des friedlichen Weges zum Sozialismus, sie vertritt auch eine vulgarisierte Version des staatsmonopolitischen Kapitalismus. [39] Die unrichtigen Voraussetzungen dieser Theorie führen zu einer verfehlten Einschätzung der Nachkriegsentwicklung und enden in einer falschen Strategie, welche auf einem Ausbau der Verstaatlichten Industrie beruht und endlich den Ökonomismus hervorbringt. (In einer der nächsten Ausgaben des NF werden wir uns ausführlich mit Theorie und Praxis der KPÖ beschäftigen.)

Die Beschaffenheit des modernen kapitalistischen Staates erlaubt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Regierungspartei und Oppositionspartei, es besteht nur noch die Möglichkeit zwischen verschiedenen Ausführungen „sachlicher Politik“ zu wählen. In dieser Situation führt die SPÖ „Reformen“ durch, welche in Wirklichkeit die Auflösung vorkapitalistischer und vormonopolistischer Strukturen sind. Die SPÖ muß diese Aufgabe übernehmen, weil die heimische Bourgeoisie nicht stark genug ist. Die österreichische Bourgeoisie ist im Widerspruch ihrer nationalen und internationalen Interessen gefesselt, bedrängt von der Übermacht der ausländischen Monopole kämpft sie um ihr Überleben. Wer könnte das besser besorgen als die SPÖ, die so sehnlich ein modernes und leistungsorientiertes Österreich wünscht.

Der Österreichische Gewerkschaftsbund ist zwar ebensosehr der bürgerlichen Demokratie verpflichtet wie die Sozialdemokratie. In der Theorie und Praxis der Sozialpartnerschaft ist der ÖGB aber stärker als die SPÖ auf die Zustimmung der Basis angewiesen, das entspricht auch seinem ideologischen Charakter einer ständischen Interessenvertretung. Alle Forderungen, die nicht verhandlungsfähig sind oder keine Chance haben, von dem Sozialpartner Kapital akzeptiert zu werden, werden schon in ihrer Genesis unterdrückt. In Zeiten ökonomischer oder politischer Krisen wird diese Aufgabe der politischen und ideologischen Vermittlung erschwert oder gar unmöglich gemacht. Die Gewerkschaft muß in einer derartigen Situation das Unbehagen der Arbeiter und Angestellten formulieren und zugleich kontrollieren. Diese Kontrolle ist aber ihrer Natur nach zwiespältig. Wir haben in den letzten Jahren in den industrialisierten Staaten die Antwort der Massen auf die ideologische und soziale Kontrolle der Gewerkschaft gesehen. Die Folge war eine Radikalisierung der Arbeiterklasse, die sehr oft explosive Formen angenommen hat: Frankreich 1968, der große Streik der englischen Bergbauarbeiter 1972, die Versuche neue Organisationsformen zu entwickeln usw.

Unsere Schlüsselfrage ist nicht, wie man die Gewerkschaften oder gar die SPÖ besser organisieren oder „revolutionieren“ hilft. Die Frage ist die Organisation und Aufbau einer Gegenmacht, die in Gegenposition zu der Macht des Staatsapparates und des Kapitals steht und nicht Gefahr läuft, integriert zu werden. Die österreichische Linke ist derzeit zu desolat, um Strategien formulieren zu können. Unsere Aufgabe ist, die antikapitalistische Bewegung in den Betrieben zu unterstützen und formieren zu helfen. Die Frage nach dem Aufbau einer Partei ist gegenwärtig nicht zu stellen, denn vor uns steht nicht das Problem, die politische Macht zu erringen, sondern wie wir unsere Kräfte organisieren sollen und können.

Für die österreichische Sozialdemokratie wird diese Regierung einen entscheidenden Wendepunkt darstellen. Eine Korrektur ihrer theoretischen und praktischen Funktion ist nicht zu erwarten, sie wird daher in verschiedene Fraktionen zerfallen, verschiedene Teile werden endgültig zur Bourgeoisie übergehen. Die Aufgabenteilung zwischen ÖGB und Regierung konnte nur in einem langen Konjunkturaufschwung wirksam sein, in der Phase der Depression der Wirtschaft und der Zunahme der Klassenantagonismen bricht diese Konstruktion zusammen. Welche Rolle die Industrialisierung Westösterreichs einnimmt, vor allem im Gegensatz zum absteigenden Ostösterreich (insbesonders Wien), kann noch nicht abgeschätzt werden. Ohne Zweifel kann dieser Faktor bestimmte Teile der Sozialdemokratie radikalisieren.

Wenn die Sozialdemokratie ihre Aufgabe als Ordnungspartei erfüllt hat, wird sie abtreten dürfen. Aber ihre Parodie als Partei der Lohnabhängigen war notwendig, um die Massen von der Tradition der sozialdemokratischen Ideologie zu befreien. Auch Kreisky kann, von den widerspruchsvollen Forderungen seiner Situation bedrängt, nicht durch ständige Überraschungen und Tricks sein Publikum täuschen, wenn er auch weit über seine Mitspieler zu stellen ist. In der Geschichte der Klassenkämpfe gibt es Situationen, die es nicht erlauben, zwischen Eigentum und Kapital auf der einen und der Masse der Lohnabhängigen auf der anderen Seite durchzuschlüpfen. „Aber wenn der Kaisermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte fällt, wird das eherne Standbild Napoleons von der Höhe der Vendôme-Säule herabstürzen.“ [40]

[1B. Brecht, Gesammelte Werke 12, Me-ti, S. 515.

[2F. Oelßner, Die Wirtschaftskrisen (Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus), Raubdruck.

[3M. Dobb, Studies in the Development of Capitalism, London 1963, S. 389.

[4a.a.O., S. 390.

[5R. E. Rowthorn, Die Bedeutung des Staates im modernen Kapitalismus, in: Kapitalismus in den siebziger Jahren, Frankfurt 1971, S. 88.

[6a.a.O., S. 106

[7J. Morris, Monetary Crisis of World Capitalism, Monthiy Review, Jänner 1972. Erscheint auf Deutsch in der nächsten Ausgabe des NF.

[8P. Sering, Jenseits des Kapitalismus, Wien 1948.

[9E. Mandel, Geschichte des Kapitalismus und seiner Bewegungsgesetze, in: Kapitalismus in den ..., S. 26.

[10P. Sering, S. 80.

[11P. Sering, S. 63.

[12Rote Markierungen, Beiträge zur Ideologie und Praxis der österr. Sozialdemokratie, Wien 1972.

[13E. Reich, Der österreichische Sozialismus nach 1945 und seine Stellung zur Wirtschaft, Wien 1962.

[14W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt 1965, S. 89.

[15E. Reich, S. 63.

[16Rote Markierungen, Kreisky, S. 7.

[17J. Burnham, Die Revolution der Manager, Wien 1949. S. 84.

[18Rote Markierungen, Kreisky, S. 8.

[19R. Milliband, Professor Galbraith and American Capitalism, in: Socialist Register 1968, London, S. 222.

[20E. Bernstein, Die Arbeiter-Bewegung, Frankfurt 1910, S. 192.

[21W. Burian, Arbeiterverräter?, Neues Forum, Mai 1971.

[22R. Milliband, The State in Capitalistic Society, London 1969. S. 96-118.

[23E. März, Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West, eine sozialistische Analyse, Wien 1965, S. 17.

[24a.a.O., S. 18.

[25a.a.O., S. 55.

[26Rote Markierungen, Kienzl, S. 109.

[27F. Koren, Sozialisierungsideologie und Verstaatlichungsrealität, in: Weber, Die Verstaatlichung in Österreich, Berlin 1964, S. 333.

[28In ausführlicher und zusammenhängender Darstellung findet sich die Problemstellung in „Gemischte Ökonomie und ihre Grenzen“, Offenbach 1971, Kleine Paperreihe, Texte zur sozialistischen Diskussion. Die marxistische Kritik an der keynesianischen Theorie und Praxis hat Paul Mattick dargelegt: Marx und Keynes, Politische Ökonomie, Geschichte und Kritik, Frankfurt 1971.

[29Ungleichheit im Wohlfahrtsstaat (Alva-Mydral-Report), Hamburg 1971.

[30Spontaneität und Massenaktion im „Wohlfahrtsstaat“. Die schwedischen Streiks im Winter 1969/1970. Frankfurt 1970.

[31W. I. Lenin, Werke — Band 5, S. 398.

[32Vgl. zur theoretischen Entwicklung des VSStÖ die Zeitschrift „Theorie und Praxis“. Eine prinzipiell zutreffende Kritik an den „linken“ Sozialdemokraten hat die MLS geliefert, siehe die Ausgaben des „Student im Klassenkampf“. Anzumerken wäre noch, daß nach wie vor die MLS die einzige organisierte marxistische Gruppe im Hochschulbereich ist.

[33G. Nenning, Ist die sozialistische Partei noch fortschrittlich, Die Zukunft. Nov. 1958. Die angeführten Zitate Nennings sind nur Bruchstücke einer bestimmten Ideologie, die hier nicht ausführlich dargestellt wird.

[34G. Nenning, Sozialdemokratie als Agentur des Sozialismus, NF Nov. 1971.

[35G. Nenning, Sozialdemokratisches Manifest, NF April/Mai 1966.

[36G. Nenning, Sozialdemokratie als Agentur des Sozialismus; vgl. auch Sozialdemokratie und gesamtsozialistische Strategie von G. Nenning, Die Zukunft, März 1972. Die folgenden Zitate stammen alle aus dem NF-Artikel Nennings.

[37Die Darstellung stammt aus der Expertise über die Lohn- und Einkommensteuer von Dr. Kausel, Arbeit und Wirtschaft 3/72. S. 7. Bis 1968 ist das Wachstum der Lohnsteuer auf die Erhöhung der Lohnquote zurückzuführen (einer Zunahme der Lohnabhängigen auf Kosten der „Selbständigen“) — seit 1968 kommt es aber zu einer „unproportionalen“ Steigerung der Lohnsteuer. Gleichzeitig hat die Zahl der Selbständigen abgenommen. Die Einkommensteuer„reformen“ haben sich nur zugunsten der besitzenden Klasse ausgewirkt: vgl. die Relationen. Die sozialdemokratische Regierung wieder wagt keine einschneidende Veränderung, denn sie müßte das Privatkapital in seiner Existenz antasten.

[38Die Industrie 6/1972, S. 5.

[39H. Kalt, Zum staatsmonopolistischen Kapitalismus in Österreich, Manuskript, Wien, Jänner 1972.

[40K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Marx (Engels, Ausgew. Schriften, Band I, S. 316).

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