FORVM, No. 111
März
1963

Der alte Mann und der Westen

In Kennedys „Grand Design“ spielt der Gedanke der Partnerschaft zwischen Europa und Amerika eine wesentliche Rolle. Und von Jean Monnet — einem gewiß vorzüglichen Europäer — soll der Satz stammen, daß eine „Atlantische Gemeinschaft abzulehnen sei und als einzig praktikable Lösung eine Partnerschaft zwischen dem Vereinten Europa und den USA angestrebt werden müsse“. Wirkliche Partnerschaft kann jedoch nur zwischen einigermaßen gleichen entstehen. Präzise gesagt: Partnerschaft in der NATO setzt voraus, daß der gegenwärtigen Situation ein Ende bereitet wird, in welcher die NATO weniger eine Allianz als vielmehr ein Schutzsystem des Mächtigen für die Kleinen ist.

Deshalb ist eine recht verstandene Politik der europäischen Einigung gleichzeitig eine Politik der Stärkung der NATO; denn sie dient dem Ziele, eben jenen gleichwertigen europäischen Partner für die bisherige Vormacht USA zu schaffen. Und gerade deswegen ist es wünschenswert, daß Großbritannien ein wesentlicher Bestandteil des Vereinten Europa wird.

Nun wird gesagt, de Gaulles Weigerung, Großbritannien zum Gemeinsamen Markt zuzulassen und den amerikanischen Vorschlag einer „multinationalen NATO-Atom-Streitmacht“ anzunehmen, habe den Prozeß der europäischen Einigung und der atlantischen Zusammenarbeit entscheidend gestört. Ohne Frage hat de Gaulle tatsächlich eine im Gang befindliche Entwicklung abrupt aufgehalten und damit diesseits wie jenseits des Atlantik einen Schock ausgelöst. Aber nach den ersten zum Teil beinahe hysterisch zu nennenden Reaktionen der öffentlichen Meinung in den USA wie in den meisten europäischen Ländern scheint nun eine etwas ruhigere Atmosphäre eingekehrt zu sein, die eine sachliche Beurteilung der Situation ermöglichen sollte.

Vor allem müßte diese Sachlichkeit sich darin erweisen, daß endlich jene reichlich emotionalen und vorurteilsbedingten Unterstellungen aus der öffentlichen Diskussion verschwinden, die de Gaulles Handeln einfach einem mit Anti-Amerikanismus gepaarten französischen Nationalismus zuschreiben wollen. Derartig primitive Erklärungen werden dem gewiß eigenwilligen, gleichzeitig aber höchst realistisch denkenden französischen Präsidenten nicht gerecht. Allein die Hochachtung vor seiner bisherigen Lebensleistung sollte es jedem zur Pflicht machen, den Vernunftgründen nachzuspüren, die ihn zu seiner unpopulären Entscheidung veranlaßt haben.

In welch abenteuerliche Regionen die Gegner de Gaulles von ihrer eigenen Kampagne fortgetragen wurden, beweist die offen ausgesprochene Vermutung, die Abneigung des französischen Präsidenten gegen Amerika gehe so weit, daß er versuchen werde, sich auf eigene Faust — möglicherweise sogar unter Billigung Adenauers — mit Moskau zu arrangieren. Dabei kann doch füglich nicht bestritten werden, daß die Solidarität des Westens etwa in der Kuba-Krise jedenfalls nicht durch Frankreich oder Deutschland gefährdet war. Überhaupt scheint es notwendig, Allianztreue weniger an der Elle eines atlantischen Konformismus und mehr an dem Maße der Bereitschaft zu messen, das die einzelnen Staaten zur gemeinsamen Meisterung kritischer Situationen aufbringen können, ohne der Versuchung anheimzufallen, den „eigenen Draht nach Moskau“ spielen zu lassen.

Statt de Gaulle derartige Motive zu unterschieben, wird man gut daran tun, die Gründe zu untersuchen, die er selbst — offen oder zumindest in unmißverständlichen Andeutungen — angegeben hat. Ohne Zweifel wird man dabei entdecken, daß auch de Gaulle — wie Kennedy und die „Europäer“, für die Monnet bereits zitiert wurde — eine Partnerschaft zwischen einem starken Europa und einem starken Amerika herbeizuführen wünscht. Solche Partnerschaft ist aber gewiß das genaue Gegenteil einer „Dritten Kraft“ zwischen den USA und der Sowjetunion. Sie bezeichnet ein Europa, das neben und gemeinsam mit den Vereinigten Staaten dem sowjetischen Gegner gegenübertreten soll.

Realist de Gaulle

Weiters wird der objektive Beobachter entdecken, daß de Gaulles doppeltes Nein gegenüber London und Washington in seiner Befürchtung gründet, daß der gegenwärtige englisch-amerikanische Kurs eben nicht zu atlantischer Partnerschaft, sondern zu einer endgültigen Festlegung der amerikanischen Hegemonie in der NATO führen werde.

Auch de Gaulle kennt die Binsenweisheit, daß Europas Sicherheit auf Amerika angewiesen ist. In seiner Pressekonferenz vom 14. Januar hat er dies mit den Worten neu bekräftigt, daß es „für Frankreich in der augenblicklichen geschichtlichen Ära eine Selbstverständlichkeit sei, Verbündete zu haben, da kein Land mehr alleine einen großen modernen Krieg führen könne“. Auch das in der gleichen Pressekonferenz enthaltene Angebot, die französischen Atomstreitkräfte mit jenen der Alliierten zu „kombinieren“, weist in die gleiche Richtung.

In Wahrheit besteht kein Anlaß, de Gaulle etwa als prinzipiell NATO-feindlich hinzustellen. Hingegen wäre es höchst interessant, einmal die Gründe aufzuspüren, warum im außerfranzösischen Blätterwald de Gaulles Äußerungen so oft unvollständig und damit entstellt wiedergegeben werden. Wer zum Beispiel das Echo seiner spektakulären Pressekonferenz vom 14. Januar untersucht, wird unschwer feststellen, daß zwar jedes gegen Englands oder Amerikas Wünsche gerichtete Wort überall zu finden ist — daß man aber einige Mühe hat, diejenigen Passagen zu entdecken, die de Gaulle darauf verwendet hat, den Weg in die Zukunft zu zeigen.

De Gaulle geht es nicht um den Ersatz der NATO durch irgendeine andere utopische Sicherheitskonstruktion. Er wünscht die Anpassung der NATO an die Gegebenheiten der Sechzigerjahre. Seine Vorschläge gerade auf militärischem Gebiet sollten um so aufmerksamer geprüft werden, als er schon einmal — nämlich vor dem Zweiten Weltkrieg — militärische Weitsicht bewies, welche sehr zum Schaden Frankreichs von den Verantwortlichen verkannt wurde. So mögen durchaus die Auffassungen de Gaulles über die Struktur einer Allianz im Atomzeitalter sich eines Tages als wirklichkeitsnäher herausstellen als manche Theorie seiner Kritiker, die ihn als ein Relikt des 19. Jahrhunderts darzustellen versuchen.

So wenig richtig es also ist, de Gaulle Gegnerschaft gegen die NATO als solche zu unterstellen — so wenig Anlaß besteht, ihn etwa als Gegner der Einigung Europas zu bezeichnen. Er ist beides nicht, und seine Kritiker täten besser daran, sich mit seinen Argumenten auseinanderzusetzen, statt diese — wie es meist geschieht — zu verschweigen. Sicher klingt es zunächst paradox — aber de Gaulle hat für seine Ablehnung des englischen Beitritts zur EWG „europäische“, und also nicht französische Gründe vorgebracht. Gewiß hält manches, was er bei seiner Pressekonferenz sagte, näherer Nachprüfung nicht stand. So etwa seine Ausführungen über das unverändert insulare „Wesen“ Englands — über die britische Unfähigkeit, sich dem wirtschaftlichen Konzept der EWG einzufügen — über die Änderung des Charakters des Gemeinsamen Marktes nach dem Beitritt Englands oder auch über den Stand der Brüsseler Verhandlungen. Aber all dies waren wohl nur Randargumente, Beiwerk, Erklärungsversuche vor allem für jenen britischen Schritt, der de Gaulles Nein trotz monatelanger französischer Teilnahme an den Brüsseler Verhandlungen dann hervorgerufen hat: den Schritt Macmillans, den de Gaulle bei einem Empfang französischer Parlamentarier mit den Worten gekennzeichnet haben soll, daß „Großbritannien in Nassau das Wenige, was es an Atombewaffnung besitzt, Amerika und nicht Europa gegeben hat“.

Protektionskind England

Es spricht alles dafür, daß man in diesem Satz den Schlüssel zu de Gaulles Haltung sehen muß. Wenn dies aber so ist, sollte man aufhören, den französischen Präsidenten als engstirnigen Nationalisten und Verderber Europas zu sehen. Dann hat nämlich seine Ablehnung des englischen Eintritts in die EWG einen sehr „europäischen“ Grund: den nämlich, daß Macmillan mit seiner Zustimmung zum „multinationalen Atomprojekt der NATO“ gezeigt habe, daß er im Zweifel weniger an der Schaffung eines starken europäischen Partners der USA als vielmehr an der Aufrechterhaltung der privilegierten Rolle Großbritanniens als „nächster Verwandter der USA“ interessiert sei.

Unbestreitbar ist die Stellung Englands innerhalb dieser geplanten NATO-Atomstreitmacht keinem anderen NATO-Staat zugebilligt worden. Dies hat de Gaulle bei seiner Pressekonferenz mit den Worten ausgedrückt, daß die Engländer „beim Bau der U-Boote und Sprengköpfe für die „Polaris“-Rakete Hilfe der Amerikaner erhalten, während Frankreich (als das einzige weitere NATO-Land mit einer gewissen nuklearen Kapazität) diese Hilfe niemals angeboten wurde“. Damit würde zwar Großbritannien — Macmillan hat dies im Unterhaus betont — trotz der Einfügung seiner Atomstreitmacht in das multinationale NATO-Projekt noch immer eine gewisse, wenn auch stark eingeschränkte atomare Souveränität für besondere Notfälle behalten, Frankreich jedoch schon aus technischen Gründen auf eine solche Möglichkeit verzichten müssen.

Erstaunlich ist die Tatsache, daß niemand in den USA oder in Europa auf die Idee kam, Macmillan für den Satz zu tadeln, den er im Unterhaus sagte: „Es wäre nicht gut für die innere Gesundheit der atlantischen Allianz, wenn die Amerikaner ein Kernwaffenmonopol hätten und Staaten wie Großbritannien und Frankreich auf einen Satellitenstatus herabsänken.“ De Gaulle hat man für weniger harte Worte in der gleichen Sache verdammen wollen und dabei geflissentlich übersehen, daß Macmillan seine Zustimmung zum Projekt von Nassau von der Aufrechterhaltung gewisser britischer Rechte abhängig machte, die man den Franzosen gar nicht erst angeboten hatte.

Darüber hinaus hegt de Gaulle offenbar die keineswegs von der Hand zu weisende Befürchtung, daß sowohl aus Gründen der militärischen Kommandostruktur wie vor allem wegen der in den Vereinbarungen von Nassau implizierten europäischen Abhängigkeit von der amerikanischen Waffenproduktion das sogenannte Projekt einer multinationalen Atomstreitmacht vor allem den Zweck verfolge, die europäischen Sonderentwicklungen auf dem nuklearen Gebiet „einzufangen“ und damit der Aufrechterhaltung des amerikanischen Atommonopols zu dienen.

Man kann de Gaulle wohl schwerlich für die Vermutung tadeln, daß es Frankreich eines Tages hinsichtlich der „Polaris“-Raketen ähnlich ergehen könnte, wie es England soeben mit den „Skybolt“-Raketen erging. London hatte einen entscheidenden Teil seiner eigenständigen Verteidigungspolitik auf die Lieferung dieser amerikanischen Waffen eingestellt, die dann plötzlich nach dem Wunsche Washingtons aus der Produktion genommen werden sollten. Hinzu kamen für Paris weitere Überlegungen, die das „multinationale Projekt“ von Nassau weniger als ein verlockendes Angebot und mehr als ein Instrument der amerikanischen Politik zur Straffung des eigenen Monopols erscheinen lassen mochten. Einmal hätte die Umstellung der französischen Nuklearrüstung von ihren bisherigen Zielen auf die Erzeugung von Sprengköpfen für die „Polaris“-Rakete eine Verzögerung von mehreren Jahren bis zur endgültigen Errichtung einer französischen Abschreckungsmacht bedeutet. Und zweitens hatten die Vereinigten Staaten Frankreich zwar „Polaris“-Raketen zum Kauf angeboten, gleichzeitig aber ihre Politik der Einstellung der Atomversuche fortgesetzt, deren erklärtes Zieles unter anderem ist, auch Frankreich an derartigen Versuchen zu hindern, ohne die es jedoch nie in den Besitz der entsprechenden Sprengköpfe zu diesen Raketen kommen könnte.

Geboten: Schwert statt Bombe

Daß es im Augenblick eine Tendenz der amerikanischen Politik gibt, das eigene Monopol zu erhalten, ja sogar in einem Vertrag mit der Sowjetunion festzulegen — das ist nicht bestreitbar. Über einen amerikanisch-sowjetischen Pakt über die Nichtweitergabe von Atomwaffen wurde beinahe während des ganzen Jahres 1962 verhandelt. Niemand känn überhört haben, daß der amerikanische Verteidigungsminister McNamara sozusagen als Begleitmusik zu einem solchen Pakt erst kürzlich die Umkehrung der bisher gültigen „Schwert-Schild-Theorie“ der NATO verkündet hat. In kurzen Worten: Parallel mit dem Wunsch, die Schließung des Atomklubs mit der Sowjetunion zu vereinbaren, versucht Washington, eine Strategie zu entwickeln, die in Hinkunft die Verteidigung Europas weitestgehend einem „konventionellen Schwert“ überlassen will. Niemand wird den Amerikanern übelnehmen, daß sie von der Strategie der „massiven Vergeltung“ abgerückt sind. Mit dem Aufbau einer beträchtlichen sowjetischen Atommacht mußte dieses Konzept des Alles-oder-nichts endgültig unglaubwürdig werden. Und niemand wird heute den Amerikanern verwehren wollen, daß sie sich Gedanken über ihre eigene Lage machen, da die Sowjetunion dabei ist, einen Stand der Atomrüstung zu erreichen, der — nach den Worten de Gaulles — „ausreicht, selbst das Leben Amerikas zu gefährden“. Es ist begreiflich, daß man in Washington der konventionellen Verteidigung Europas den Vorzug geben will, um nach Möglichkeit den atomaren Konflikt zu vermeiden, der auch das eigene Land verwüsten müßte.

Anderseits muß man aber auch in den Vereinigten Staaten Verständnis für einige europäische Überlegungen aufbringen. Man sollte begreifen, daß das ängstliche Hüten des amerikanischen Kernwaffenmonopols in Verbindung mit einer Forçierung der konventionellen Rüstung Europas nicht geeignet sein kann, den europäischen Staaten, die auf lange Zeit sowohl konventionell wie atomar unterlegen bleiben werden, das Gefühl der Sicherheit zu geben. Und man sollte in Washington auch nicht länger die alte Wahrheit übersehen, daß niemand absolutes Vertrauen in die eigene Zuverlässigkeit und Vernunft erwarten kann, der nicht selbst bereit ist, seinen Freunden das gleiche Vertrauen einzuräumen.

Gewünscht: Bombe statt Mißtrauen

Für de Gaulles Haltung läßt sich also mindestens dies sagen: europäisch-amerikanische Partnerschaft setzt ein starkes Europa voraus; ein starkes Europa kann nur ein atomar gerüstetes Europa sein; und ohne eigene europäische Produktion solcher Waffen wird es angesichts des gegenwärtigen amerikanisch-englischen Kurses kein atomar gerüstetes Europa geben. Zudem wäre es einfach unverantwortlich, wollte man Europas Sicherheit für alle Zukunft von der amerikanischen Bereitschaft abhängig machen, das Risiko der Selbstvernichtung zugunsten Europas uneingeschränkt auf sich zu nehmen. Denn wer wollte wirklich voraussagen, welchen Kurs die Regierung irgendeines Landes — also auch der USA — in 15 oder 20 Jahren einschlagen wird? Aber voraussichtlich wird es dann noch immer Atomwaffen geben, mit denen Europa bedroht werden könnte.

Viele werden sagen, daß dies eine allzu wohlwollende Interpretation der Politik de Gaulles sei. In Wahrheit — so heißt es allenthalben immer noch — gehe es de Gaulle nach wie vor nicht um Europa, sondern um Frankreichs Eintritt in ein Dreierdirektorium der NATO. Es ist reichlich unklar, woher Kritiker dieser Schule ihre Weisheit nehmen wollen. Denn wenigstens davon sollte auch sie der deutsch-französische Vertrag überzeugt haben, daß sich de Gaulles Politik nach der Liquidierung der algerischen Misere Europa zugewandt hat. Wer die Pressekonferenz de Gaulles vom 14. Januar studiert hat und nicht zu jenen gehören will, die glauben, die Motive und Ziele des französischen Präsidenten besser zu kennen als dieser selbst, kann nicht bestreiten, daß de Gaulle diesen deutsch-französischen Vertrag als „Voraussetzung und Fundament für die Schaffung Europas“ ansieht, sich gegen den Aufbau einer „exklusiven Gemeinschaft zwischen Frankreich und Deutschland“ wendet, beide Länder für verpflichtet ansieht, „integrierende Bestandteile Europas“ zu sein und in der engeren Zusammenarbeit der Franzosen und der Deutschen ein „Beispiel sieht, das nützlich für die Zusammenarbeit aller sein kann“.

Es ist nicht ganz verständlich, daß gerade die überzeugtesten „Europäer“ in den sechs Teilnehmerstaaten der EWG die härtesten Tadelsworte für de Gaulle gefunden haben. Gewiß, sie mögen noch immer nicht ganz an die französische Bereitschaft glauben, den Integrationsprozeß zu vollziehen, den die römischen Verträge vorschreiben — obwohl sie nicht bestreiten können, daß die anfänglichen Vorbehalte Frankreichs gegen diese Verträge unter de Gaulle Stück um Stück abgebaut wurden. Trotzdem mag dies Ressentiment noch verständlich sein; weniger verständlich ist die Verbindung ihres Vorwurfes gegen de Gaulles Konzept des „Europa der Vaterländer“ mit ihrem glühenden Wunsch, Großbritannien als siebentes Mitglied des Kreises aufzunehmen — ein Land, von dem wohl niemand ernsthaft erwarten kann, daß es sich sogleich zum Vorkämpfer des „Vaterlandes Europa“ entwickeln wird.

Im übrigen gibt es jenes Problem, das der Publizist Friedländer das Problem der „Breite und Tiefe“ der europäischen Integration genannt hat. Selbst wenn man unterstellen will, daß das neue Mitglied Großbritannien und in seinem Gefolge etwa Norwegen und Dänemark den gleichen politischen Integrationswillen in die Gemeinschaft einbringen würden, den die sechs Erstmitglieder teilweise erst sehr mühsam entwickeln mußten, so müßte man doch sehen, daß jedes dieser neuen Mitglieder der Natur der Sache nach auch neuen und zusätzlichen „nationalen Ballast“ mitbringen wird und die Maschinerie der EWG schwerfälliger und langsamer werden müßte. Die Breite würde — mindestens vorübergehend — auf Kosten der Tiefe gehen.

Deutschland braucht nicht wählen

All dies mag sich wie ein Plädoyer für de Gaulle lesen. In einem eingeschränkten Sinne ist es auch so gemeint. Denn es ist notwendig, die krassen und gefühlsbetonten Urteile zu revidieren, die noch vor wenigen Wochen von der „Brüsseler Katastrophe“ sprachen, die der „verspätete Napoleon“ in Paris angerichtet habe. Noch vor kurzem war alle Welt sich einig, daß der Gemeinsame Markt der Sechs und die deutsch-französische Aussöhnung zu den größten Erfolgen der Nachkriegszeit gehörten. Heute gibt es bereits Leute, die beides als Gefahr ansehen wollen, weil Großbritannien noch nicht Mitglied der EWG ist und Frankreich die Teilnahme an Kennedys Nassau-Projekt abgelehnt hat.

De Gaulles spektakuläres Nein hat sichtbar gemacht, daß seine Konzeption der Partnerschaft zwischen einem starken Europa und den Vereinigten Staaten nicht mit der augenblicklichen amerikanisch-englischen Politik übereinstimmt. Man kann gewiß über die Methoden de Gaulles verschiedener Meinung sein. Man kann jedoch nicht leugnen, daß es ernsthafte Gründe für seine Haltung gibt. Woher bestimmte Kritiker jedoch das Recht genommen haben, etwa die deutsche Politik vor die Entscheidung zu stellen, zwischen der Freundschaft mit Frankreich und jener mit den Vereinigten Staaten zu wählen, ist einfach nicht zu sehen.

Für Bonn gab es keinen Augenblick so etwas wie eine Wahl zwischen Paris und Washington. Statt derart dramatische Worte zu gebrauchen, wäre es den Tatsachen angemessener, von den bestehenden Meinungsverschiedenheiten über den besten Weg zur amerikanisch-europäischen Partnerschaft zu reden. Man sollte hiebei aber nicht vergessen, daß de Gaulle und seine Auffassungen nach menschlicher Voraussicht noch eine Reihe von Jahren zu den entscheidenden Faktoren gehören werden, die Europas Schicksal bestimmen. Um so sorgfältiger muß deshalb den Gründen nachgegangen werden, die er für seine Politik angegeben hat.

Frankreich ist am Zug

Allerdings, so heilsam ein Schock auch sein mag — selbst wenn er überdosiert gewesen sein sollte —: seine Wirkung beschränkt sich meist darauf, Erkenntnis zu wecken. Erkenntnis in den USA, daß es wohl nicht nur an den Engländern, Franzosen und Deutschen liegt, wenn die Allianz in reichliche Unruhe geraten ist; Erkenntnis anderseits bei den Franzosen, Deutschen und Engländern, daß de-facto-Vormacht der USA mindestens in gewissen Grenzen auch de-facto-Führung bedeutet (weshalb Partnerschaft solcher Hegemonialverfassung eben vorzuziehen ist); und vor allem Erkenntnis in Paris, daß das Nein vom 14. Januar in eine positive Politik münden muß. Wenn das Nein de Gaulles die hier angegebenen Gründe hatte, kann man vielleicht auf einen baldigen französischen Vorschlag hoffen, der jeden Zweifel beseitigt, daß es de Gaulle nicht nur um die Position Frankreichs, sondern um das Konzept der „Partnerschaft zwischen Gleichen“ geht, das er der Aufrechterhaltung der amerikanischen Vormacht gegenüber Europa entgegenstellen will.

Ein solcher Vorschlag könnte nach entsprechender diplomatischer Sondierung die Einladung an die übrigen fünf EWG-Staaten sein, zu einer Beratung über die Schaffung einer europäischen Atomstreitmacht innerhalb der NATO zusammenzutreten. Ein solches Projekt stünde gewiß zunächst in Konkurrenz zu den amerikanischen Vorschlägen von Nassau. Aber solche Konkurrenz ist kein Unglück. Der italienische Verteidigungsminister, dessen Land dem multinationalen Projekt der Amerikaner bereits prinzipiell zugestimmt hat, äußerte erst vor einigen Tagen seine Sympathie auch für eine europäische Lösung der Atomfrage. In gleicher Weise könnten auch die anderen Betroffenen — einschließlich Amerikas und Großbritanniens — die Frage prüfen, welche Art der nuklearen Verteidigung für Europa die bessere wäre: jene nach dem Rezept von Nassau oder vielleicht eine andere, die sich die Europäer selbst verordnet haben. Fest steht jedenfalls dies: mindestens die Bundesrepublik und Italien, vielleicht aber noch andere europäische NATO-Staaten werden in absehbarer Zeit vor der Frage stehen, ihr Verteidigungskonzept und ihre finanziellen Mittel festzulegen. Sie werden sich für das Projekt von Nassau entscheiden, wenn nicht eine europäische Initiative erfolgt. Und diese kann nach Lage der Dinge nur von Paris ausgehen.

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