FORVM, No. 105
September
1962

Der Freund stand links (IV)

Italienische Beiträge zur Diskussion um Südtirol
voriger Teil: Der Freund stand links (III)

Die bürgerlichen Trienter Parteien, die lokalen Autonomiebewegungen und die Zentralregierung in Rom wollten von Anfang an eine Doppelautonomie Trentino—Südtirol. Und Ernesta Battisti bekämpfte diese „hybride Region“ von Anfang an. Am 15. September 1946 begrüßte sie im „Avanti“, dem Zentralorgan der damals noch einigen Sozialistischen Partei (PSIUP), das De Gasperi—Gruber-Abkommen als „Verpflichtung Italiens, die Autonomie der Provinz Bozen allein zu geben, ohne eine hybride Zwangsehe mit dem italienischen Trentino, die nur das Erwachen einer separatistiischen Bewegung in Südtirol fördern würde.“ [71]

Wie Ernesta Battisti 1954 in einem Brief an Piero Calamandrei schreibt, hat sie „diesen Gedanken — nämlich: Südtirol bekommt seine Autonomie, Trient teilt das Schicksal aller anderen italienischen Provinzen — naiverweise in zahlreichen Briefen hochgestellten politischen Persönlichkeiten und Parteiführern von damals vorgetragen“. [72] Hier einige Proben; die erste aus einem Brief an den republikanischen Senator Giovanni Conti (Anfang 1948):

Das Konzept der Einheitsregion mißachtet das Abkommen Gruber—De Gasperi. Dies wird einen ewigen Irredentismus diesseits und jenseits des Brenners (mit nationalen Ärgerlichkeiten und internationalen Gefahren) zur Folge haben ...

Die Republikaner streben, ihrem föderalistischen und regionalistiichen Programm entsprechend, die Einheitsregion an ... Aber wie kann man übersehen, daß Südtirol diese Vereinigung gar nicht will? ... Die Vereinigung Europas würde eher erschwert und gewiß nicht gefördert durch diese Ungerechtigkeit, die eine nationale Überrumpelung wäre ...

Aus all dem ergibt sich, daß es für Italien nicht nur nützlich, sondern notwendig ist, das Gruber—De Gasperi-Abkommen unter Ausklammerung des Trentino anzuwenden ...

Die historische republikanische Partei, die den Südtirolern als Garantin für Gerechtigkeit erscheinen könnte, ist im Trentino so klein, daß sie nicht ins Gewicht fällt. Hingegen sind jene Parteien stark, die dazu neigen, Südtirol wirtschaftlich auszubeuten (Klerikale und Liberale) oder dort ihr politisches Süppchen zu kochen (Kommunisten und Klerikale). [73]

Aus einem Brief an Alcide De Gasperi (24. Jänner 1948):

(Als Folge der Zwangsregion) sehe ich voll Angst einen langen, zähen, wahrscheinlich auch unterirdischen Widerstand voraus. [74]

Aus einem Artikel im „Gazzettino“, Venedig (4. Februar 1948):

Ich war immer gegen eine Autonomie für das Trentino. Seit 1946 habe ich die Ansicht verfochten, daß Südtirol gemäß dem Gruber—De Gasperi-Abkommen die volle Autonomie erhalten sollte; das Trentino aber sollte das Schicksal aller anderen italienischen Provinzen teilen. [75]

Ihre Motive für diese Predigten an die Italiener, die sie für „Europäer ohne Geographiekenntnisse“ hielt, legt sie aus der Rückschau in einem Brief vom 24. Dezember 1955 an Piero Calamandrei dar:

Sie wissen, wie sehr ich in diesem Regional-Statut das Werk jener langen Hand der vatikanischen Politik sehen muß, die zur Zeit des habsburgischen Österreich bis nach Wien reichte ... Und Sie können sich auch vorstellen, wie sehr es mich schmerzt, daß man das Trentino, für welches Battisti im Namen der Freiheit gestorben ist, als Wachhund vor die Tür Südtirols gesetzt hat. [76]

Am 11. Februar 1946 beschließen die Trienter Sozialisten eine Resolution, die den Weg zu einem Kompromiß zwischen der vom Staat angestrebten Doppelregion und der im Pariser Abkommen vorgesehenen „Solo-Autonomie“ für Südtirol weist. Gigino Battisti erläutert dieses Dokument, das noch heute mehr als bloß historischen Wert hat, in einem Artikel („Bandiera rossa al Brennero“, „L’Internazionale“ vom 15. März 1946, Trient):

Die Resolution ... wendet sich scharf gegen den Plan einer einzigen Autonomie für die ganze Region ... Die Trienter Sozialisten müssen befürchten, daß in einer gemeinsamen Verwaltung, in welcher die Mehrheit italienisch wäre, zum Schaden des deutschsprachigen Teils sich die gleiche wirtschaftliche und politische Unterdrückung wiederholen könnte, die auf dem Trentino lastete, als dieses ein Teil Österreichs war ... Deswegen schlagen die Trienter Sozialisten für Südtirol eine Reihe von Sonderregelungen vor, darunter für Angehörige der Minderheit auch das Recht, in der italienischen Armee keinen Pflichtdienst zu leisten. [77]

Der Sozialist Giuseppe Ferrandi kommentiert die gleiche Resolution:

Die italienische Mehrheit in der Region darf nicht in der Lage sein, die Südtiroler mit Hilfe der regionalen Organismen um die Erfüllung ihrer berechtigten Sonderwünsche zu bringen. Man vergesse auch nicht, wie man es in Trient bisher getan, daß zu einer Ehe zwei gehören ... Und man hüte sich davor, in Trient, wo man den staatlichen Zentralismus so sehr haßt, einen noch viel hassenswerteren regionalen Zentralismus aufzuziehen. [78]

Gigino Battisti ist der Ansicht, der von den Sozialisten vorgeschlagene Kompromiß gestatte es auch, „die nationale Gerechtigkeit zu wahren, welche durch die Beibehaltung der Brenner-Grenze verletzt erscheinen könnte.“ [79] Er will in Rom energisch für diese Lösung eintreten. Als er am 14. Dezember 1946 auf der Fahrt nach Rom bei einem Eisenbahnunglück ums Leben kommt, trägt er in der Aktentasche ein „Promemoria für die Genossen Minister und Unterstaatssekretäre“ und das Manuskript einer Rede, die er vor dem Plenum der Verfassunggebenden Versammlung zu halten gedachte. Turatis wiedererstandene Zeitschrift „Critica Sociale“ veröffentlicht die Rede im Frühjahr 1947; sie gipfelt in den Sätzen:

Südtirol die Autonomie zu verweigern, würde nur die Verschärfung der irredentistischen Bestrebungen zugunsten Österreichs bedeuten. Ich verrate nichts Neues, wenn ich sage, daß der Großteil der Südtiroler noch voll Mißtrauen gegenüber Italien ist ... Ich wünschte, daß aus allen Sektoren dieser Versammlung sich Stimmen erhöben zugunsten unserer heiligen und unwandelbaren Verpflichtungen für die Autonomie der deutschen Südtiroler. [80]

In der Südtirol-Debatte der Deputiertenkammer vom 3. Februar 1961 — die erste Parlamentsdebatte über Südtirol seit 1945! — erklärt der Trienter Sozialist Renato Ballardini:

Wir — die verantwortlichen Vertreter der Republik Italien — müssen uns nun die Frage stellen, ob nicht der Augenblick gekommen ist, dieses Autonomiestatut in einigen Punkten abzuändern. Es gibt einige Punkte, in denen solche Abänderungen geradezu dringend sind ... Die Forderungen (der Südtiroler) sind schon Jahre alt, und man hat darauf immer negativ geantwortet; diese Forderungen haben sich in der Folge verwandelt, ... sie haben die Situation verursacht, der wir heute gegenüberstehen, sie haben zu den Attentaten geführt. [81]

Ballardinis Vater war der Kampfgefährte Cesare Battistis, der junge Renato Ballardini hat zusammen mit Gigino Battisti in der Résistance gekämpft. Er knüpft folgerichtig dort an, wo die Trienter Sozialisten 1946 scheiterten. Auch für ihn ist, wie er auf der Bozener Südtirol-Enquête der Zeitschrift der christlich-demokratischen Linken, „Il Mulino“, erklärt,

nicht nur das Pariser Abkommen normative Quelle für das Verhalten in der Südtirol-Frage, sondern vor allem das demokratische, das antifaschistische Gewissen des aus der Résistance hervorgegangenen Volkes ... Es gilt nun festzustellen, ob der derzeitige Rahmen der Region ausreicht ..., um die Zielsetzung des Pariser Vertrages einerseits sowie der Artikel 5 und 6 unserer Verfassung anderseits [82] zu garantieren. Die Antwort darauf ist unzweifelhaft negativ. Wir stimmen alle darin überein, daß das Autonomiestatut abgeändert werden muß. [83]

Die Ereignisse in Südtirol hätten möglicherweise einen anderen Verlauf genommen, wenn die Sozialistische Einheitspartei (PSIUP) 1947 nicht gespalten worden wäre; der inneritalienische und innersozialistische „kalte Krieg“ absorbiert einen Großteil der politischen und moralischen Kräfte. Die Diskussion über Südtirol bleibt jahrelang ein Reservat der demokratischen Elite um die Zeitschriften „Il Mondo“, „Il Ponte“, „Tempo Presente“, „Critica Sociale“, „Nuova Repubblica“, „Il Mulino“, „Umana“ u.a. Die Unterrichtung der breiten Öffentlichkeit und somit die Meinungsbildung bei den Massen besorgen „in mythologisch-vager und sentimentaler Weise“ (Menapace—Farias [84]) die bürgerlich-nationalistischen Blätter, die sich stets damit begnügen, getreu dem Regierungskurs zu folgen. Kein Wunder, daß die zur christlich-demokratischen Linken gehörenden Professoren Lidia Menapace und Giuseppe Farias feststellen, die italienische Öffentlichkeit würde

völlig überrascht sein, wenn sie das — wahrscheinlich von keiner Tageszeitung je veröffentlichte und in angemessener Weise kommentierte — Pariser Abkommen läse. [85]

Die Kommunisten sind die ersten, die — wie Ernesta Battisti vorausgesagt hat — ihre Chancen im Konflikt um Südtirol erkennen. Der Autonomiespezialist der Partei, Senator Mauro Scoccimarro, hält am 22. Jänner 1956 in Bozen eine höchst beachtliche Rede. [86] Zunächst leugnet er, daß sich je ein Vertreter der Linken außer den Kommunisten für die Minderheit verwendet habe (wahr ist vielmehr, daß sich von 1918 bis 1956 nie ein prominenter Kommunist für die Minderheit verwendet hat). Dann biedert er sich der Südtiroler Volkspartei in einer Weise an, die heute zur Vermutung berechtigt, die KPI habe damals in Südtirol das zwei Jahre später auf Sizilien realisierte Milazzo-Experiment — die Koalition der Extreme — verwirklichen wollen.

Die neue politische Aktivität der Nenni-Sozialisten (PST) beginnt in der Budgetdebatte 1948 im Regionalrat. Ihr Vertreter Pietro Arbanasich konstatiert damals „den völligen Bankrott der zehnjährigen DC-Politik in Südtirol“. [87] Beim Wahlkampf 1960 ist es soweit, daß die Rechte gegen die Nenni-Sozialisten mit der Parole operiert: „Jede Stimme für den PSI — eine Stimme für die SVP.“

Der Ausbruch der demokratischen Eliten aus dem engen Kreis der Publizistik in die Parteipolitik und in einige Tageszeitungen berechtigt zur Erwartung, daß sich die öffentliche Meinung Italiens in absehbarer Zeit soweit gewandelt haben wird, daß eine Regierung ohne Furcht vor eventuellen Folgen eine vernünftige Lösung des leidigen Familienstreits wagen kann. Das wird dann nicht zuletzt das Verdienst jener vielfach auch in Österreich „unbekannten italienischen Stimmen“ sein, die nie aufgehört haben, zu warnen und Wege zu weisen. Dann wird der Brenner nicht mehr „eine heilige Grenze“ sein, sondern, wie Altiero Spinelli sagt, „ein historischer Zufall, dem wir den Inhalt nehmen müssen“. Die Minderheit wird dann nicht mehr als „fremdstämmiges Relikt alter Wanderungen oder Invasionen“ (Rossi [88]) betrachtet werden, sondern als „andere Nationalität, der wir Respekt schulden“ (Turati). Und dann erst wird aus dem nationalen Nebeneinander ein menschliches Miteinander werden.

[71„Ernesta Battisti Bittanti“.

[72„Ernesta Battisti Bittanti“.

[73„Ernesta Battisti Bittanti“.

[74„Ernesta Battisti Bittanti“.

[75„Ernesta Battisti Bittanti“.

[76„Ernesta Battisti Bittanti“.

[77„Ernesta Battisti Bittanti“.

[78Giuseppe Ferrandi in: „Liberazione Nazionale“. Zitiert nach: „Dolomiten“, Bozen, 14. Februar 1946.

[79„Ernesta Battisti Bittanti“.

[80„Critica Sociale“, Mailand, 1947/VI. — Deutsch in: „Dolomiten“, Bozen, 7. Mai 1947.

[81Atti Parlamentari — Camera dei Deputati, III. legislatura CCCXC (Seduta del 3 febbraio 1961).

[82Art. 5: „Die Republik anerkennt und fördert die lokalen Autonomien ...“ Art.6: „Die Republik schützt die sprachlichen Minderheiten auf Grund besonderer Normen “.

[83Renato Ballardini in: „Una politica per l’Alto Adige“.

[84Lidia Menapace—Giuseppe Farias in: „Una politica per l’Alto Adige“.

[85Menapace—Farias in: „Una politica per l’Alto Adige“.

[86Mauro Scoccimarro: Il Partito Comunista in Alto Adige, Rom 1956.

[87PSI — Federazione di Bolzano, „Alto Adige — Fallimento di una Politica“, Rom 1958.

[88Prof. Paolo Rossi, Kammer-Vizepräsident und Präsident der „Kommission der 19“, in der Südtirol-Debatte vom 3. Februar 1961. Siehe: Atti Parlamentari (Fußnote 81).

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