FORVM, No. 455
Oktober
1991

Der ganze Stiefel, am Absatz rrrechts-um!

Italienisches Sommertheater mit wuchernder Parteienlandschaft unterwegs zur 2. Republik

Endlich sei der rasante Regierungswechsel eingebremst. Endlich die Inflation. Italien als fünfte oder sechste Industriemacht mit allen seinen Terroristen unter Dach und Fach. Das Auswandererland, das zum Einwandererland sich hochentwickelt hat, eine neue Bevölkerung, die endlich angefangen hat, Englisch zu lernen. Warum also gerade jetzt so viele intensive Bemühungen, von links bis rechts, die Verfassung zu ändern, den Staat umzugestalten, ja, geradezu eine Zweite Republik hervorzuzaubern? Schließlich tauchen in der Regierung wie auch in der neu gegründeten demokratischen Linken immer noch die gleichen Köpfe auf, wie es besseren Telenovelas so eigen ist. Entschlossen — endlich auch die umbenannten Kommunisten —, nur den Film zu wechseln, nicht die Protagonisten und auf keinen Fall das Genre. Während die einen aber nur größere Veränderungen innerhalb der Verfassung anstreben, wollen die anderen radikal eine neue Verfassung einsetzen und somit durch einen hausgemachten Staatsstreich einem bloß erwarteten und gefürchteten zuvorkommen (»la repubblica«). Und während die Diskussionen um das Was und Wohin ablaufen oder wegen der Sommerpause mehr oder weniger abgebrochen sind, versucht uns Italiens Staatspräsident Francesco Cossiga einen Vorgeschmack vom Presidenzialismus zu geben.

Überdies ist es wahrscheinlich, daß wenige in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei wissen, wer ich bin, wie vielleicht nicht einmal alle Italiener.

(Cossiga, nachdem sich das Attentat auf ihn im ungarischen Friedhof Rakoskeresztur vom 7. Juli als Irrtum herausgestellt hatte — bloß ein aufgeregter Hund, der eine nicht existente Bombe entdeckt zu haben glaubte.)

So wurde zum ersten Mal seit seiner Existenz das Parlament angehalten, über eine Botschaft des Staatspräsidenten zu diskutieren (23. Juli). Diese enthielt außerordentliche Vorschläge für die Zweite Republik, wie die endgültige Legitimation der Faschisten und die Tilgung der Kommunisten (die Rolle der Linken als Zauberwerk, von dem man sich trennen müsse). Die Komplimente an den MSI (Movimento sociale italiano, der laut einer »repubblica«-Umfrage Ende Juli bei den nächsten Wahlen auf 1,8 Prozent schrumpfen werde) wurden auch sofort von den Sozialisten unterstützt, die auf interessante und außerordentliche Übereinstimmungen zwischen PSI und MSI in den Vorschlägen für die konstitutionelle Reform hinwiesen. Wenn man bedenkt, daß ebendiese Neofaschisten die neue Sowjetunion, nach dem gescheiterten Putsch endlich „unterwegs in Richtung Diktatur“, dem PDS (Partito democratico della sinistra) als Vorbild hinstellten, dann scheint es gewagt, solche Briefe zu verschicken, nur um durch eine Regierungskrise endlich das Parlament auflösen zu können und dem sozialistischen Leader Bettino Craxi Neuwahlen zu ermöglichen. Schließlich spricht sich Cossiga wie Craxi für ein presidenzialistisches System aus, alla americana oder à la Frankreich, und findet in seinem Brief an die Kammern vor allem, daß Italien inzwischen „eine vollkommene und geregelte Demokratie braucht“. Auf der anderen Seite wird schon länger von einer großen Koalition geredet, governisimo (DCPDSPSI), oder von einer „linken“ Regierung, in der die reuigen Kommunisten samt Kleinparteien onorevole Craxi huldigen könnten, der bei den nächsten Wahlen laut »repubblica«-Umfrage den PDS um 2 Prozent überflügeln könnte. Allerdings hat der Parteien Kopfzerbrechen gar nicht viel Sinn, falls, nach Vorschlägen der Constituzionalisti (Verfassungstreuen) die Wähler direkt über Koalition und eventuell den Premierminister entscheiden.

Inzwischen aber, vor den regulären Wahlen im neuen Jahr oder den vorgezogenen noch im Herbst, verändern sich innen- und außenpolitische Beziehungen der Parteien. So bemerkt ein süditalienischer Professor lakonisch über seine Wahlpräferenz: „Wenn ich ein Leben lang dieselbe Partei wähle, dann mache ich sowieso von links bis rechts alles durch.“ Dementsprechend eilig hatte es Giulio Andreotti, in die Sowjetunion zu reisen, um mit den Putschisten Kontakt aufzunehmen (mit der Entschuldigung, sich nur über die Gesundheit von Gorbaciov informieren zu wollen). Diese hatten nichts dagegen einzuwenden, anders als die linken italienischen Parteien, die, allen voraus die PDSler, sofort den Staatsstreich verurteilten und dafür Komplimente von Amerika einheimsten. Beleidigt darauf Forlani (Leader DC), daß diese Ex-Kommunisten jetzt nicht so philoamerikanisch tun sollten. Auf der anderen Seite wurde Friedensnobelpreisträger Dalai Lama von Regierungspräsident Giulio Andreotti nicht empfangen und ebensowenig von Cossiga. Auf die Kritik des Radikalen Giovanni Negri antwortete der Staatspräsident lediglich, man habe Ansprüche auf gute Kontakte zu Peking (Andreotti will in Kürze nach China reisen). Überhaupt scheint es den DC-Funktionären in letzter Zeit zu gefallen, Kommunisten und Restkommunisten heimzusuchen.

Ich hoffe, daß sie [die Leader der PDS] die Verantwortung erkennen, die sie für Hunderttausende von Bürgern tragen, die bis vor wenigen Jahren im PCI [partito comunista italiano] aktiv waren und im Grunde vielleicht bis vor wenigen Stunden auf die Reform des Kommunismus hofften.

(Cossiga nach dem Scheitern des Putsches auf dem DC-Meeting dell’-amicizia in Rimini.)

Francesco Cossiga erklärt seine „Haßliebe“ zur kommunistischen Bewegung, „von der ich in einem Teil meines Lebens fasziniert war“. (Interview in Cortina, 17. August) In diesem Sinn beendet er seinen Brief vom 28. August an die Tageszeitung »il manifesto«, die sogar den Mut habe, sich immer noch »quotidiano comunista« zu nennen, wie folgt: „Aber auch denjenigen braucht es, glaube ich, mysteriöserweise für den Freiheitsprozeß, der, wenn er auch mit kühner Ehrlichkeit und Leichtfertigkeit kämpft, so wie ihr für etwas kämpft, was nunmehr ‚gewesen ist‘ und nicht mehr sein wird! Und für das schätze ich euch! Schließlich seid Ihr (fast alle) eine Gruppe von sympathischen Personen, denen ich schon seit langem zugetan bin. Herzlich, Francesco Cossiga.“

Auf der anderen Seite macht sich unser Staatspräsident auf Don-Camillo-Art über Occhettianer (Anhänger des Leaders der PDS) und Reformkommunisten lustig:

„Wir können eines machen, wir geben dem Minister für Tourismus und spettacolo den Auftrag, Reservate zu schaffen, und organisieren Ausflüge für Touristen, um sie [die restlichen italienischen Realsozialisten] ihnen zu zeigen. Die ersten, die kommen werden, werden die Russen sein.“ (25. August, DC-Meeting)

Die Kommunisten und Ex-Kommunisten sind jedoch momentan in Tausenden von „Feste dell’unità“ verstreut, in denen sich zeigt, daß sie zwar nicht die „Stimme“ verloren haben — wie das KPÖ-Fest —, aber ihre Einheit (unità). Noch gibt es Stimmen, den Bruch zwischen Reformkommunisten und linken Demokraten zu kitten, auch um eine starke Opposition mit den Kleinparteien, den Grünen, den Antiproibizionisti und Radikalen zu bilden, gemeinsam mit UmweltfreundInnen, PazifistInnen und Katholiken aus denjenigen Bewegungen, die sich aus der DC-Hegemonie befreit haben (Paolo Cacciari im »manifesto«). Andererseits aber schielen einige linke Demokraten fast zu linkisch zu den Sozialisten, wie Napolitano, was einem Rechtsrutsch gleichkäme — vgl. oben, oder: Das intensive Engagement der Sozialisten für den Kriegsbeitritt im Golf. In diesem Sinn kritisiert Ugo Intini vom PSI den „Zementblock“ aus PDS und DC-Meeting, die ihren gemeinsamen Kampf gegen den Golfkrieg „zelebrieren“. „Es ist unglaublich, daß ... die Zutaten des alten Kathokommunismus den Kommunismus selbst überleben.“ Auch würden die ex-kommunistischen Parteileute dadurch endgültig ihre antiken Wurzeln in der Tradition verlieren, auf die sie so gerne hinweisen (besonders auf feste dell’unità). Vermutlich auch einige Stimmen, die laut Umfrage 15,2 Prozent ausmachen würden. So kritisiert Massimo D’Alema die Nachgiebigkeit seiner Parteikollegen, die schon von vornherein die ideologische Fomel des PSI akzeptiert hätten. Genauso verstört will Ingrao vom linken PDS-Flügel auf die nationale festa dell’unità verzichten, weil sich die »Unità«-Zeitung selbständig machen möchte. Dafür hat Francesco Cossiga einen Überraschungsbesuch angekündigt. Weniger überrascht waren die Christen vom konservativen DC-Flügel über den Besuch des PDS-Chefs Occhetto bei ihrem Fest in Rimini. Ihnen schien es angebracht, der PDS zur neuen Parteilinie zu gratulieren, wenn sie sich auch über die konservativen Kräfte besorgt zeigten, die parteiintern gesiegt hätten und frei von linken Idealen der Rechten den Platz streitig machen wollen. Der Schwung der Veränderung könne positiv sein, wenn die Traditionen herübergerettet werden könnten, die der alte PCI repräsentiert habe, so Carlo Cesena vom Movimento popolare. Der Occhetto-PDS hört zu und dankt.

Auch bei der rifondazione comunista, die sich inzwischen ihre eigenen Feste organisiert und laut Umfrage 5,4 Prozent der Stimmen erhält, divergieren die Meinungen. Letztendlich aber stimmen sie zumindest grundsätzlich überein, daß der Tod des Kommunismus als Orthodoxie und Staatskult paradoxerweise dem als eine anarchistische Häresie verstandenen Kommunismus neues Leben einhaucht (Vendola am 26. August in der »Unità«). Schließlich wurde der Namens- und Symbolwechsel von PCI in PDS in Italien keineswegs durch Volksfeste gefeiert oder Massenjubel bestätigt, im Gegenteil, es wurde sogar ein Kummertelefon eingerichtet. Und während der PDS von Eltsin — wenn auch lieber gesehen in Zusammenarbeit mit Gorbaciov — keinen Abstand nimmt, verurteilen die Reformkommunisten Eltsin als Leader einer rechten Restaurationsbewegung und die Nachputschereignisse wie folgt: „Putschs beantwortet man nicht mit Putschs“.

Innenpolitisch im Sinne der Veränderungslust aller Parteien haben die (weiterhin vereinigten) Kommunisten einen runden Tisch organisiert, der über den Streit um einen gemütlichen Aufenthalt im Staat hinausgeht. Dabei kontrastierten am meisten die Reformvorschläge der Ex- und Nochkommunisten. Während erstere sich neben einer ziemlich komplizierten Mischung aus Mehrheitsphilosophie und pluralistischen Sorgen mehr auf die Einrichtungen der Regierung konzentrierten (»Il manifesto«), stellten die anderen, unerbittlich für das Verhältniswahlrecht, ihre Theorie vor, nach der Parlament und lokale Autonomien aufgewertet werden sollten.

So schlägt Salvi vom PDS eine Einigung der Linken für die Wahlen vor — auch gegen ihren Willen —, um der Zentrifugalkraft, die die DC begünstige, entgegenzuwirken. Sergio Garavini („Nochkommunist“) aber wirft der Mehrheitsphilosophie und den Presidenzialismusfreunden vor, die demokratischen Spielräume immer mehr zu verringern, nur um eine Regierbarkeit zu garantieren. Statt dessen würde er die beiden Zweige (Senat und Abgeordnetenkammer) des Parlaments vereinigen und die Abgeordnetenzahl radikal reduzieren (mehr Transparenz, schnellere Durchführung ...). Zudem möchten die „Wiedervereinigten Kommunisten“ viele Kompetenzen an die Regionen und autonomen Körperschaften abgeben und das Parlament nur mehr mit der Aufgabe betrauen, wenige große und richtungsweisende Gesetze zu erlassen und dort aber seine Autorität zurückzugewinnen. Giulio Amato vertrat seine sozialistische Presidenziallinie mit einem Semipräsidenten, direkt vom Volk gewählt, der mit beinahe gleicher Macht ausgestattet werden solle wie bisher, bloß mit „erweiterter Zielsetzung“, daneben ein Premierminister, der sich die übrigen Minister aussuchen könnte. (Auch wer die politische telenovela nicht regelmäßig verfolgt, kann rückschließen, daß Craxi kaum leer ausgehen würde ...) Das Wahlsystem solle proportional bleiben und bloß durch eine höhere Mindestklausel „korrigiert“ werden, was logischerweise zum Absterben der vielfältigen Kleinparteien führen würde. »Il manifesto« kommentiert wie folgt: „Auch wenn man naiv ist, muß man sich sagen: ‚Dahinter steckt ein Schwindel‘.“

Und die DC?

Es kann nicht bloß die Revolution vom Orient sein; es muß auch die Revolution vom Westen sein und von uns zu Hause.

(Cossiga nach dem Putschversuch)

Wahrscheinlich wird sie die einzige Partei sein, die sich Ende Sommer ihre kleine Wahlreform verwirklichen wird, durch die sie durch zusammengeschrumpfte Wahlbezirke dem Referendumsentscheid entgeht. (»manifesto«) — Trotz massiven Medienboykotts der DC- und PSI-Zeitungen sowie mangelhaftester Informationen in den RAI-Sendern beider Parteien hatten sich die Italiener für die Reduzierung der Vorzugsstimmen von 4 auf 1 entschieden, was die Wahlkorruption im Süden erschwert.

Ist das denn alles, was die Christdemokraten zu bieten haben? Laut Umfrage soll die DC von 34,3 auf 28,8 Prozent sinken, doch bemerkt die »repubblica« hierzu, daß die Wahltests immer noch — bis auf wenige Ausnahmen — einen zu niedrigen Stimmenanteil der Democrazia cristiana aufwiesen, weil nicht alle, die DC wählen, es zugeben wollen. Und während Cossiga auf dem christlichen Fest von Rimini den treuen Anhängern erklärt, daß die Katholiken — nach dem Fall der Kommunisten — nun auch andere Parteien wählen könnten, wogegen kirchliche Vertreter sofort heftig protestierten, fordern die Christen vom linken DC-Fest in Lavarone das Ende der „Dc brezneviana“ und ihrer jetzigen Nomenklatura. Dazu nur auszugsweise eine kleine Liste von skandalösen Verwicklungen aus der Vergangenheit Andreottis und Cossigas: Die Organisation »Gladio« („Patrioten“, laut Cossiga), 600 schwerbewaffnete Geheimpolizisten, die, finanziert vom CIA, dazu da waren, den italienischen Kommunismus zu bekämpfen; die Geheimloge P2, deren Chef Licio Gelli ungeschoren davongekommen sagt: „Die P2 ist tot, aber ich bin durchaus nicht in Pension gegangen.“ (Interview in »L’Espresso«) Cossiga spricht von „Gentlemens“; ihr ungeklärter Beitrag (?), ihr Mitwissen (?) beim militärischen Abschuß eines Passagierflugzeugs bei Ustica mit 81 Toten vor elf Jahren; die Verdeckungskünste der Verantwortlichen für das Attentat in Bologna und nicht zuletzt ihre undurchsichtige Rolle bei der Entführung und Ermordung des DC-Leaders Aldo Moro, für die sich Cossiga am 17. August als „tatsächlich schuldig“ bezeichnet.

Um gewisse Unklarheiten über die Verantwortlichkeiten für diese Vorfälle und Zwischenfälle zu beseitigen, wurde jetzt eine eigene „Kommission für Blutbäder“ (commissione stragi) ins Leben gerufen, zu der Cossiga am 17. Juli wie folgt Stellung bezieht:

„Hier muß man eine Sache verstehen: Ob es etwas aufzudecken gibt, oder ob man auf jeden Fall etwas aufdecken will. Ob man untersuchen will, um zu verstehen, oder ob das Verstehen außerhalb der Absichten der Untersuchung liegt. Ob man hier jenes klären möchte, was nicht klar sein könnte, oder ob man will, daß alles wenig klar bleibt, um es als Mittel verwenden zu können.“

Wenn ich mir auch vorstellen könnte, daß Giulio Andreotti diese Stellungnahme gern unterschreiben möchte, so sind inzwischen die Differenzen zwischen den beiden Politikern nicht mehr zu übersehen. Während der eine sich bereits am Ausgang seiner politischen Karriere sieht und dadurch endlich etwas mehr zu erzählen wagt (Cossiga am 17. August), möchte der andere, Andreotti, als buckliger Staatspräsident sein DC-Leben besiegeln, d.h. das Amt seines Parteifreundes besetzen. So kommt es vor, daß Francesco den Giulio gar nicht getroffen hat. „Aber sich zu treffen ist Gewohnheitssache bei den italienischen Politikern, besonders bei denen der DC.“ (Cossiga am 17. Juli.) Schließlich waren die demokratischen Christen katholisch und gegen die Kommunisten vereint, was in der jetzigen Situation eine Veränderung der Partei notwendig macht, will sie nicht „jenes Etwas werden, das reiner Ausdruck von Macht ist“ (Cossiga, 25. August).

Inzwischen wird Andreotti in den DC-Reihen etwas unpopulärer, aber wohl besonders wegen seiner Zurückhaltung im Golfkrieg und nicht, weil er Gladio gedeckt hatte und mit Gelli bekannt war oder weil die Geheimloge, laut »repubblica«, bis in die Anfänge der 80er Jahre „hauptsächlich christdemokratische Sache war“. Außerdem wird er die hohe Staatsverschuldung kaum den EG-Richtlinien entsprechend reduzieren können. (Innerhalb von zwei Jahren müssen über 75.000.000.000.000 Lire vom Staatsdefizit und 600.000.000.000 Lire von der Gesamtverschuldung [1.370.000 Milliarden Lire] abgebaut werden.) Zieht sich damit die DC-Regierung selbst den Schlußstrich, den Cossiga so gerne unter die „Bleijahre“ der 70er und 80er mit ihren starken terroristischen Aktivitäten setzen möchte?

Auch Aldo Moro hat die Roten Brigaden respektiert.

(Cossiga am 17. August)

Den „Dottor Renato Curcio“, Leader der Roten Brigaden, „einer politischen Bewegung‘“, „die auch gespeist war von Teilen christlicher Utopie“ — freilassen, obwohl oder gerade deswegen, weil Cossiga in den 70er Jahren zu den härtesten und brutalsten Bekämpfern der linken Bewegungen gehörte? (17. August)

Immerhin vertraute die Klosterfrau Teresilla ihm und nicht dem Gericht die Rekonstruktion der Tage rund um Moros Entführung an, die sie sich von zwei inhaftierten Brigadisten schreiben ließ. Offenbar wurde den Terroristen Hafterleichterung oder Haftverkürzung versprochen, wenn sie nur Suor Teresilla informierten, im übrigen aber den Mund hielten. Angeregt wurden sie vielleicht auch durch den Mord an dem Journalisten Mino Pecorelli (1979), der als die wahren Verantwortlichen für die Entführung Moros internationale Geheimdienste angab (»Avvenimenti«, Wochenzeitschrift); Gladio? Oder bloß Teresilla? Mit dieser seiner Vergangenheit findet Cossiga heute seine neuesten Interpretationen der linken Geschichte. Wohl Lenin als Hühnerdieb, aber Rosa Luxemburg immerhin an der Spitze einer Revolution, die zwar gescheitert ist, aber „ein großer Versuch“ war. Den anderen Versuch, nämlich den der Roten Brigaden, findet er „theoretisch zulässig“, nur habe ihm „die Geschichtlichkeit gefehlt“ (17. August).

Spätestens nach derartigen Medienereignissen müßte das italienische Fernsehen die politische telenovela mit Werbung unterbrechen. Werbung für die laut »repubblica« „2/3 des Staates, die noch nicht von der malavita [Sammelbegriff für Verbrecherorganisationen] kontrolliert sind“? Oder für die Leghe, anerkannte Banden mit rassistischen, separatistischen Tendenzen, die sich über ihre vorausgesagten 8,6 Prozent zur stärksten Partei mausern sollten? Interessiert verfolgt die Mehrheit der italienischen Bevölkerung Wortwitz und Einfallsreichtum ihrer großen Medienpolitiker, während darunter, vielleicht auch daneben, wahrscheinlich auch dadurch ein Italien vor sich geht, das sich ganz anders auf die „2. Republik“ vorbereitet.

Der Staat ist keine abstrakte Sache.

(Cossiga, Erklärung am 29. August an sizilianische Arbeiter nach dem Mafiamord an Libero Grassi, einem bekannten Unternehmer, der sich geweigert hatte, Schutzgelder zu zahlen oder an bestimmte, vorgegebene Firmen Aufträge zu vergeben.)

Was dem Staatspräsidenten selbst als ironische Bemerkung gelten mag, findet seine Berechtigung in vielen kleinen Zusammenhängen zwischen Politik und (den in dieser Jahreshälfte begangenen 189) Mafiamorden (neben 11.367 Raubdelikten, 603 Erpressungen, 209 Entführungen, 430.341 Diebstählen, wovon 5 Prozent aufgeklärt wurden, und 18.522 scippi, Diebstähle durch Wegreißen). Seine konkrete Unterstützung liefert der Staat insbesondere durch seine völlige Abwesenheit und dadurch, daß er angeklagte Mafiabosse befreit, die sich meistens im DC-Dickicht ihr gemütliches Nest gebaut haben.

So wurde im August dieses Jahres Antonino Scopelliti, Richter am Kassationsgerichtshof, erschossen, der immer wieder Mafiosi vor Gericht stellen wollte, was ihm aber immer vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Corrado Carnevale, dem Lieblingsrichter des Staatspräsidenten, vereitelt wurde. „Es ist nicht Aufgabe der Richter, die Mafia zu bekämpfen.“ So Cossiga und Carnevale einstimmig (»Avvenimenti«). Von wem aber sonst? Leoluca Orlando, Ex-DC und Ex-Bürgermeister von Palermo versucht mit Hilfe seiner Nicht-Partei »La rete« (Das Netz), als mutige Opposition der Mafia und der Parteipolitik entgegenzutreten. Neben offenen Grenzen für die Millionen Flüchtlinge aus Süd und Ost will Orlando die Parlamentarierzahl reduzieren und vor allem die parlamentarische Immunität abschaffen (»Alto Adige«). Bei den letzten Regionalwahlen erhielt seine Partei allein in Palermo 26 Prozent, und er selbst am meisten Vorzugsstimmen von ganz Sizilien. (Daraufhin kürzlich ein Freundschaftsbrief von Schewardnaze, der sich über die hausgemachte Mafia in der SU sorgt). Andererseits antwortet Francesco Taurisano, Richter in Trapani (Sizilien) auf die Frage, was es bedeute die Mafia zu bekämpfen: „Und wenn die Mafia hier schon gewonnen hätte?“ Die Hypothese von einem Maulwurf im Gericht korrigiert er schnell: „Es wäre verkürzt, von einem Maulwurf zu sprechen. Die Mafia betreibt ein viel komplexeres Kontrollsystem.“ So verschwinden brenzlige Akten, wie jene gegen einen Minister in Rom oder gegen Mafiabosse, für die das Beweismaterial endlich ausgereicht hätte, um sie anzuklagen. Und die Lokalpolitiker? Da stimmt Taurisano mit einem reuigen Mafioso überein, wenn dieser sagt, daß außerhalb von PCI und MSI alle anderen Parteien dem Spiel der Familien unterliegen. Taurisano: „Die Politiker sind, genau wie die Unternehmer, direkter Ausdruck der Mafiafamilien.“ (Interview im »manifesto«, 29. August.) Vom Alltag der Mafiabekämpfung rund um Napoli lese ich zufällig auf Seite 7 am 29. Juli in der »Gazzetta del mezzogiorno« (Zeitung des Südens). Frajese Pasquale, Profikiller, der sich selbst bezichtigt, 20 Morde verübt zu haben, war im „Mafiagefängnis“ in Frosinone eingesperrt worden und hatte 52 Camorristi durch seine Beschuldigungen hinter Gitter gebracht. Der Boß Ciro Mariani und sein rechter Arm Enzo Romano sind bereits aus dem Gefängnis geflohen. Diese Camorraorganisation soll unter anderem für das Blutbad in den Umkleideräumen eines Rudervereins verantwortlich sein, bei dem vier junge Napoletaner durch Genickschuß „gerichtet“ wurden, weil sie in der von Mariani kontrollierten Zone Schutzgelder erpreßt hatten. Doch mitten in den Untersuchungen der Polizei und nach 2000 Protokollseiten will der Gefängnisdirektor über Kläger Frajese ein psychiatrisches Gutachten einholen, das auch die übrigen 50 Häftlinge wieder in Freiheit setzen würde.

Solche Vorschußarbeiten aber könnten oder sollten sich die Behörden manchmal lieber schenken, so ein Volksschüler aus Casavatore (bei Napoli):

„Wenn ich gezwungen bin, in Casavatore außer Haus zu gehen, habe ich Angst. Gewisse Straßen sind dunkel. Gewisse Straßen sind schwarz. In Casavatore legen sie sich wegen jeder Kleinigkeit um. Ein Verkehrspolizist, der einen herbeipfeifen sollte, der bei Rot über die Straße fährt, tut so als ob er ihn nicht gesehen hätte. Wenn er ihn gesehen hat, bringen sie ihn um. Dieser Verkehrspolizist ist mein Onkel.“ (Aus: Io speriamo che me la cavo. Sessanta temi di bambini napoletani. A cura di Marcello D’Orta maestro elementare. Mondadori 1990, S. 57)

Wie also mit der Mafia in die 2. Republik, mit einer Mafia, die ihre Morddelikte heuer zu verdoppeln scheint, abgesehen von ihrer Verbreitung in die Provinznester und in andere Regionen wie Apulien und Basilicata?

Während die Leghe vorschlagen, Panzer in den Süden zu schicken und Fini vom MSI dort die Todesstrafe einführen möchte, demonstrieren Mütter schon seit einigen Jahren offen gegen eine Mafia, die, wie viele Süditaliener behaupten, es gar nicht gibt. Andere versichern, daß die Mafia in Rom sitzt, im Vatikan, wieder andere reden von Mailand. Dafür gibt es einige, die stolz darauf hinweisen, daß so ein kleines Land wie Sizilien schon Macht ausübt über ganz Italien, Amerika, New York besonders, Teile Südamerikas, während andere oder dieselben es vorziehen, vom Süden in den Norden „auszuwandern“, wo sie oft mit viel Heimweh ihre südliche Herkunft verleugnen müssen. Wahrscheinlich wird die 2. Republik schon wie die erste nur im Norden installiert werden, und wer sich im Süden dafür interessieren sollte, müßte schnellstens aus Mafia, democrazia und cristiana flüchten, wenn er auch Gefahr läuft, daß er, überall, wo er ankommt, als „terrone“ (Schimpfwort gegen Süditaliener) verteufelt wird.

Wie auch immer — die Geschichte geht, die Geschichte muß weitergehen.

(Cossiga in seinem Brief an die Regierung, mit dem er durch die Freilassung von Curcio einen Schlußstrich unter die Bleijahre fordert.)

Die Geschichte, vor allem die 40jährige DC-Geschichte bzw. die Parteienherrschaft (partitocrazia) scheint nicht mehr unantastbar. Cossiga zum Trotz entwickeln sich schon seit einigen Jahren abseits der statischen Politikerkategorien Gruppierungen, die der Kontrolle der Macht entwischen.

Wenn der steigende „menefreghismo“ (Gleichgültigkeit) nach oben hin keine Abstriche verursacht, so umso mehr die rassistischen Leghe, die in den nördlichen Regionen zum Steuerboykott aufrufen und vor allem Italien irgendwo in der Mitte abschneiden wollen. Ihr Engagement zeigt sich in zahlreichen Demonstrationen gegen Süditaliener im Norden ebenso wie gegen Albaner, Afrikaner und andere Ausländer. Parallel zu ihnen haben sich Gruppen organisiert, die extracomunitari (Nicht-EG-Bürger, wobei die Österreicher aber deshalb noch keine Angst haben müssen) zusammenschlagen oder ihre Behausungen anzünden. Blendend organisiert haben sich inzwischen Banden wie die „Falange armata“, die „Disoccupati italiani nazionalisti“ (it. nationalistische Arbeitslose) oder die Gruppe „Fiat Uno bianca“, die nach ihrem Tatauto, dem weißen Uno benannt wird (ein vielgefahrenes und vielgestohlenes Auto; vom 1.1. bis zum 23.8. wurden allein in der Region Emilia Romagna 160 weiße Fiat Uno gestohlen). Dieser Gruppe werden seit Anfang dieses Jahres 15 Morde zugeschrieben (und 27 Verletzte), alle in der links regierten Region Emilia Romagna, wo sie wahllos (oder doch gezielt?) Leute niederschießen, zuletzt Mitte August 2 Senegalesen.

Auf der anderen Seite organisieren sich viele Italiener in den unterschiedlichsten Gruppierungen sozialer, ökologischer, pazifistischer und linkspolitischer Art. Damit haben sie in Italien ein weites Netz an Drogenrehabilitationszentren zustande gebracht, das Referendum für strengere Jagdgesetze ohne Unterstützung der großen Parteien (DC, PSI, PCI) beinahe gewonnen und durch zahlreiche Protestaktionen gegen den Golfkrieg die lahme PDS vielleicht gezwungen, mindestens aber ermutigt, gegen diesen einzutreten. Wenn das Klischee des lebenslustigen Italieners irgendwo widergespiegelt wird, so vor allem auf Straßen und Festen, wo innerhalb von Gruppen und zwischen vielen chiacchierate (Unterhaltungen) diskutiert wird, was manchmal in sporadische Aktionen „ausartet“. Diese könnten — und davor hat erst kürzlich Kardinal Biffi auf dem DC-Meeting gewarnt — wenigstens dann, wenn politische Gruppierungen wie der alte PCI mit allen seinen Unterorganisationen diese auch finanziell unterstützen und Öffentlichkeitsarbeit leisten, der großen 2. Republik entweichen und, egal ob vom Süden oder Norden, als Inländer oder Ausländer, die Veränderungen herbeiführen (oder vor allem ganz andere), von denen die da oben jetzt einen ganzen Sommer lang geredet haben.

Sie würden vielleicht wie ein Volksschüler aus Caivano (bei Napoli), wäre er Milliardär, alles den Armen geben, den Blinden, der Dritten Welt und den streunenden Hunden. Er würde Napoli neu bauen und Parkplätze. Den Reichen von Napoli würde er keine Lire geben, aber den Armen alles, hauptsächlich „den Erdbeben“. Dann ließe er die ganze Camorra umbringen und würde die Drogensüchtigen retten. Für sich würde er einen richtigen roten Ferrari kaufen und eine Villa und ein Dienstmädchen für Mamma. Seinen Vater würde er nicht mehr arbeiten und in der Pension ausrasten lassen und für Nicolino würde er Kleider und einen 126 kaufen, für Patrizia alle Platten von Madonna. Dann würde er ein neues Auto auch für seinen Lehrer kaufen, weil das seine total verbeult ist, und letztendlich würde er nach Venedig fahren, um Venedig zu sehen. Letztendlich würde er mit Maradona reden und Madonna nach Hause einladen, für seine Schwester Patrizia. All dies kann er nur machen, wenn er das Los von Agnano gewinnt, das sein Vater gekauft hat. (Aus: Io speriamo che me la cavo. A.a.O. S. 79 f.))

Und wir können die Veränderungen nur dann umsetzen, wenn wir die Zweite Republik nicht in ein nächstes Leben verlegen, eine Gefahr, für die die Italiener zum Glück weniger anfällig sind, als andere Leute im Norden.

Definitivi Regionali

Regionali 90 Regionali 85 Camera 87 Europee 89
Votanti 87,1% Votanti 89,7% Votanti 88,9% Votanti 82,4%
% Seggi  % Seggi % %
Dc 33,4 272 35,0 276 34,2 32,6
Pci 24,0 182 30,2 225 27,8 28,6
Psi 15,3 113 13,3 94 14,3 14,9
Msi 3,9 25 6,5 41 5,6 5,4
Pri 3,6 21 4,0 25 3,7 *
Pli 2,0 13 2,2 13 2,1 *
Psdi 2,8 21 3,6 23 2,9 2,6
Liste verdi 2,4 13 1,7 9 2,6 3,8
Verdi arcobaleno 1,4 7 2,4
Verdi uniti 1,2 8
Dp 1,0 4 1,5 9 1,7 1,3
Radicali 2,6
Antiproibizionisti 1,0 6 1,2
Leghe 5,4 24 0,6 2 1,4 2,1
Altri 2,6 11 1,4 3 1,1 0,7
  • Dc Democrazıa crıstiana — Christdemokraten, Staatspräsident Francesco Cossiga, Ministerpräsident Giulio Andreotti;
  • Pci Partito comunista italiano — KPI, mittlerweile aufgeteilt in: Pds Partito democratico della sinistra, Demokratische Partei der Linken, Achille Occhetto und Rifondazione comunista, Kommunistische Erneuerung, Lucio Libertini;
  • Psi Partito socialista italiana, Sozialisten, Bettino Craxi;
  • Msi Movimento sociale italiano, (als solche deklarierte:) Neofaschisten, Gianfranco Fini (24 Bürgermeister von Gemeinden mit jeweils unter 5.000 Einwohnern);
  • Pri Partito repubblicano italiano;
  • Pli Partito liberale italiano;
  • Psdi Partito socialdemocratico italiano;
  • Liste verdi Grüne Listen (Verdi arcobaleno — Regenbogengrüne; Verdi uniti — Vereinigte Grüne) — mittlerweile „Verdi“;
  • Dp Democracia proletaria — mittlerweile aufgegangen in der Rifondazione comunista
  • Radicali, Leader Pannella im Schatten Cicciolinas, tauchen immer wieder in verschiedenen Parteien unter, um diese von innen zu verändern;
  • Antiproibizionisti;
  • Leghe, übersetzbar als „Bündnisse“, Leader Umberto Bossi;
  • Altri Sonstige.

In der Provinz Napoli wurden vor den jüngsten Regionalwahlen im Mai vorigen Jahres die Kandidaten Antonio Bonaiuto (Ercolano/DC) und Vincenzo Agrillo (Pomigliano d’Arco/Psdi) umgelegt.

In Fiumara (Calabrien), wo gleichzeitig Gemeinderatswahlen stattfanden, war die Kandidatenzahl, aufgeteilt zwischen Dc und Psi, exakt identisch mit den 15 zu vergebenden Mandaten plus den Dc-Kandidaten Vincenzo Reitano; derart offensichtlich überzählig, wurde er bei einem Attentat zunächst nur verletzt und zwei Tage später im Krankenhaus doch noch umgelegt — da stimmte denn die Zahl der Kandidaten wieder. Den sozialistischen Vizebürgermeister Dionisio Modesto Crea hatte man bereits im März erschossen. — »Repubblica«: „Wollt ihr wissen, aus was für Leuten die Liste zusammengesetzt war? Solo da militari e tutti non residenti a Fiumara.“


Tabelle: La Repubblica

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