FORVM, No. 140-141
August
1965

Der Mensch als Möglichkeit

Stegreif-Rede vor Wiener Studenten

Am 8. Juli 1885 wurde Ernst Bloch in Ludwigshafen geboren, von wohlhabenden Eltern. Zunächst Studium aus Lust am geistigen Abenteuer: Philosophie, Germanistik, Physik, in München, Würzburg, Berlin, dortselbst bei Georg Simmel. Hierauf Reisender großen Stils, aus gleicher Lust, schließlich aber aus Zwang, als jüdischer Emigrant: Zürich, Wien, Paris, Prag, New York, Cambridge (USA). Relativ spät, im 33. Jahr, reift der große Erstling: „Geist der Utopie“. Dann aber, in bis heute sich steigernder Fruchtbarkeit: 1921 „Thomas Münzer“, 1923 „Durch die Wüste“, 1930 „Spuren“, 1933 „Erbschaft dieser Zeit“, 1946 „Freiheit und Ordnung“, 1959 „Prinzip Hoffnung“, 1961 „Naturrecht und menschliche Würde“, 1964 „Subjekt — Objekt“ und „Tübinger Einleitung in die Philosophie“. Den Sprung aus dem Reich des Kapitalismus in das — erhoffte — Reich des Sozialismus ermöglicht 1949 eine Professur in Leipzig. Als der Stalinismus sich von seiner dümmsten und brutalsten Seite zeigt (Blochs Schüler Wolfgang Harich saß bis letzthin hinter Gittern), springt der Philosoph wieder retour, über die unterdessen errichtete Mauer; 75jährig, zeigt er, daß Hoffnung nicht Zuversicht ist, sondern, enttäuscht, dennoch Hoffnung bleibt. Die folgenden, explosiv arbeitsreichen Lehr- und Schreibjahre in Tübingen bringen ihm nicht nur, eigentlich erst jetzt, weltweiten Ruf, sondern, was mehr ist, die Herzen der Jugend. Wir freuen uns, zu seinem Geburtstag gerade dies dokumentieren zu können durch die unveränderte Wiedergabe einer Stegreif-Rede, aus Anlaß der 600-Jahr-Feier der Wiener Universität, vor anderthalbtausend Studenten. Wir halten dies für die Dokumentation einer sonst kaum noch anzutreffenden Fähigkeit des Philosophierens, nicht in fertiger Schrift- oder Vorlesungsform, sondern in freier, mit dern Gedankenfluß sich modulierender Rede.

Meine Damen und Herren, wir wollen beginnen, und zwar zum Teil zu herabgesetztem Preis, zum Teil aber auch kräftig und bunt, nämlich mit den Träumen.

Traum ist meist gedacht als Nachttraum, wir träumen aber nicht nur nachts, sondern auch der Tag ist von Träumen durchzogen, ohne daß man diesen Tagtraum bisher mit der gleichen Energie untersucht hätte wie den Nachttraum, ja, der Tagtraum gilt „offiziell“ sogar als bloße Vorstufe des Nachttraums.

Zwischen den beiden bestehen aber erhebliche Unterschiede, schon darin, daß das Ich im Tagtraum nicht verschwindet, im Gegenteil, sehr lebhaft da ist und keinerlei Zensur ausübt, so daß im Tagtraum die Wünsche erst recht funktionieren, sichtbarer als im Nachttraum, nicht verkleidet, sondern schamlos, hemmungslos offen, auch mutig, mit der Faust im Sack.

Die Straße wird durchzogen von Menschen mit Tagträumen, in den Auslagen unserer Läden wird auf dem Klavier der Tagträume gespielt, dieser elegante Schuh, dieses elegante Abendkleid, diese Waschmaschine, dieser Schaukelstuhl, und was es da alles gibt, das Traumhaus an der Spitze, wo das alles hinein soll, kurz und gut: es ist eine Welt, in der es windig hergeht, in der Luftschlösser gebaut werden, bei denen die Gestehungskosten nicht hoch sind.

Aber wir haben auf der anderen Seite doch auch dieses: daß so viele Luftschlösser von heute jeweils zu Palästen oder Städten oder auch Gesellschaftsformen von morgen werden.

Das läßt sich nun ausweiten zu der Beobachtung, ja zu der Rechenschaft, daß vermutlich überhaupt nichts Großes in der Geschichte entsteht, was nicht vorausgemalt und dann, in gekühlter Form, zu einigem Verstand gekommen, vorausgeplant wird. Grundsätzlich verschiedene Typen, Realpolitiker, wie Bismarck hier, Lenin dort, haben doch, der eine wie der andere, ihre luftigen Pläne gehabt. Lenin, ein nüchterner Typ, beklagt sich einmal, daß in seiner Bewegung das Träumen so gut wie ausgestorben sei.

Leicht beieinander wohnen die Gedanken, hart im Raume stoßen sich die Sachen: aber auch sie zuerst im Raum des Wunschgedankens, z.B. auf dem Papier, das nicht nur geduldig ist, sondern auch der Manöverplatz exakter Phantasie.

Wie aber — hart im Raume stoßen sich die Sachen — wie steht die Umwelt zum Wachtraum, nachdem er hoch gediehen ist und verantwortlich reflektiert wurde? Wir sind umgeben, in den allermeisten Fällen, von Spröde. Die Welt um unseren Traum erweist sich vielleicht nicht nur als konträr, sondern als disparat, als absolut unvergleichlich. Sie weist die kalte Schulter — oder nicht einmal die kalte Schulter, weil schon dies zu viel Beziehung wäre. Sie ist geladen mit Gegenkräften von gestern oder vorgestern. Das Alte will nicht vergehen, das Neue will nicht werden.

Reguläres Traumschicksal

In einem solchen Zustand wird der Traum in des Wortes unglücklichster Bedeutung zum bloßen Traum, zu dem, was man in abwertendem Sinn utopisch nennt, nichts als utopisch. Das ist reguläres Schicksal des Traumes. Aber es ist eines, dies Schicksal erkennen, und ein anderes, dies Schicksal nicht wenden wollen, sich ihm beugen. „Feiger Gedanken bängliches Schwanken wendet kein Elend, macht euch nicht frei.“

Damit ist gemeint: Widerstehen dem Übel, dem von außen hereingeschickten, zähen, sperrenden Übel. Es darf nicht so kommen, daß der Sauerteig nicht einmal richtig gären will, sondern bloß sauer ist. Es darf keine einsame Narretei werden, was wir dem Übel entgegensetzen.

Die Wirklichkeit ist keine feste Größe. Die Welt ist nicht fertig. Man kann ihr anders gegenüberstehen als bloß raunzend, aber sonst defaitistisch, opportunistisch, quietistisch. Die Dinge nehmen, wie sie sind, ist keine empirisch genaue Formel, kein Positivismus, sondern eine Formel der Gemeinheit, der Feigheit, der Armseligkeit.

Was sind denn die Dinge — diese Prozeßmomente, die wir Tatsachen nennen? Sie sind im Fluß, sie sind gemacht worden, und daher sind sie veränderbar. Es besteht die Möglichkeit des Andersseins. Damit ist, in einem schwierigen Sinn, vorausgesetzt, daß Zufall herrscht, daß Raum ist für Kontingenz — bis zur physikalischen Unsicherheitsrelation und bis zur historischen, die erst recht bedeutungsvoll ist.

Es kann auch anders sein, das heißt: es kann auch anders werden: hin zum Bösen, was zu verriegeln wäre, hin zum Guten, was zu fördern wäre.

Es gibt sehr viele Grade von Wirklichkeit. Es besteht kein unausweichlicher Zwang, der unabhängig von uns herrschte. Die Wirklichkeit hat keine Selbstgerechtigkeit, sie ist Offenheit nach vorne hin, worin Fortschritt zum Guten, auch Fortschritt als Verriegelung des Bösen, mehr als je Bild und, wenn wir nicht versagen, Platz hat.

Meine Damen und Herren, Wirklichkeit ist eine dem Zweifel preisgegebene und für Veränderung anfällige Kategorie. Sie scheint bloß einfach und solide. Der Realist gilt als einer, der sich auskennt — der mit beiden platten Füßen fest auf der platten Erde steht. Das ist eine Karikatur — wie die entgegengesetzte Karikatur des Träumers.

Thomas Mann sagt, daß Schriftsteller Leute sind, denen das Schreiben schwerer fällt als anderen; man kann das erweitern: Philosophen sind Leute, denen das Denken schwerer fällt als anderen (Gelächter). Tatsächlich ist im Denken jeweils sehr viel vor sich gegangen, bis wir zu einem glatten Begriff gelangen, der in bar ausbezahlt werden kann.

Das Sichtbare gilt als das, was sonnenklar da ist — aber die Zweifel haben in der Geschichte des Denkens genau hier ihren Ausgang genommen. Z.B. in der frühen griechischen Philosophie: der Stab im Wasser scheint gebrochen, in Wahrheit ist er gerade. Mit dem Zweifel an den Sinnen begann das Erwachen der Philosophie.

Was das Sonnenklare angeht: es gibt einen noch nicht genügend durchdachten Satz von Anaxagoras, wonach das Gleiche ohne Empfindung für das Gleiche ist; das Auge muß dunkel sein, um das Licht, der Körper kalt, um die Wärme zu empfinden. Damit gelangen wir zu dem Satz, daß dies der Grund ist, weshalb jede Wahrnehmung mit einem Gefühl der Unlust verbunden ist.

Der fliegende Pfeil ruht

Daher erscheint dann bei den Eleaten, bei Parmenides, gerade umgekehrt das Denken als das klare Licht, nicht die Sinneswelt; das Denken garantiert die Wirklichkeit, dergestalt, daß es gemäß den bekannten Beweisen Zenons keine Bewegung gibt, obwohl die Sinne sie uns zeigen — in Wahrheit ruht der fliegende Pfeil.

Denken und Sein haben demgemäß den selben Stoff, nämlich Geist. Freilich, in der Folge, gilt dies nicht von allem Denken. Ein Denken, das aus bloßem Meinen stammt, das stammt von Irrtum, ist Mythos in schlechtem Sinne. Es muß, damit Einheit von Denken und Sein entsteht, das Denken selbst geprüft werden; nun beginnt die Skepsis nicht an den Sinnen nur, sondern am Denken — bei den Sophisten, bei Sokrates.

Nur in der Philosophie, in der Ideenschau ist Wahrheit, so zwar, daß Denken und Sein nicht nur einander berühren und begrüßen, sich gegenseitig bestätigen, sondern im Sinne einer Stufenfolge von verschiedenen Graden der Einleuchtung im Denken und verschiedenen Graden der Wirklichkeit im Sein.

So entsteht eine Stufenfolge. Die Wirklichkeit wird. Das Sein läßt sich steigern. Etwas kann weniger sein als ein Anderes. Das Sein fließt dünner, wenn der Rang des Gedankenhaften in ihm geringer ist. Der höchste Gedanke trügt nicht nur nicht, sondern ist zugleich die höchste Realität.

Dies wird erst seit Kant anders: Hundert wirkliche Taler sind nicht mehr als hundert mögliche Taler. Der Geldwert der Taler, Farbe, Rundheit, Silbergehalt, das sind Eigenschaften, das Sein ist keine. Erst seitdem auf diese fragwürdige Weise das Sein seine logische Bestimmtheit verloren hat, oder vielmehr keine logische Bestimmtheit ist, erst seitdem ist die Komparierbarkeit des Seins angefochten, obwohl sie in der Sprache weiterbesteht und sich auch in der Philosophie hält: bis Leibniz, Hegel und Marx.

Wenn der Überbau, der dunstige Reflex am Himmel, bei Marx blasser ist als der Unterbau, die Wirtschaftsverhältnisse, die sich nach oben hin in Recht, Kunst, Religion, Philosophie spiegeln, so ist der Überbau nicht etwa nicht; das falsche Bewußtsein ist durchaus, aber weniger real als das wahre Bewußtsein, weniger real als der Unterbau. Hier ist komparierbares Sein, Erbe Platons und auch der Scholastik.

Je mehr etwas ist, desto mehr ist es

Der ontologische Gottesbeweis der Scholastik ist gar nicht verständlich ohne die platonische Gleichsetzung von Wert und Sein. Je mehr etwas ist, desto mehr ist es. Für Anselm von Canterbury ist das Ens perfectissimum, werthaft: das Summum bonum, schon per se ipsum zugleich das Ens realissimum, ein Sein, quo maius cogitari non potest. Das gilt bis Leibniz, dessen Grandeur de la réalité zusammenfällt mit Perfection.

Hievon gibt es auch die Umkehrung, sehr spät, bei Schopenhauer, dessen Pessimismus dem platonisch-anselmisch-leibnizisch-hegelschen Optimismus entgegengesetzt ist. Hier gilt: je mehr etwas ist, desto weniger ist es, desto schwächer kommt es in der Welt vor, oder es kommt überhaupt nicht vor. Jedenfalls ist es verfolgt, mühselig, klein und gering. Ecce homo! heißt es dann von der Realität. Der Aufstieg geht nicht zu mehr Sein, sondern zum Nichts, zum Nirwana.

Wir haben hier zwar eine Umkehrung, aber die Proportion bleibt: Denken und Sein entsprechen einander; die Welt ist durchleuchtbar, mit dem Gedanken erkennbar, weil sie Fleisch von seinem Fleische ist, oder eben Geist von seinem Geist.

Die kritische Wendung kommt von anderswo: bei Descartes, auch bei Leibniz. Der Ordo aeternus rerum, der für die mittelalterliche Welt gesetzt war, verliert seinen kathedralischen Charakter. Die Wirklichkeit ist nicht mehr nach oben gebaut, hin zum Summum bonum, sondern sie ist ein Lichtphänomen, ein Hellwerden. Die Monaden sind Aufklärungsbürger des 18. Jahrhunderts, sie zählen zu dem Geschlecht, das aus dem Dunklen ins Helle strebt.

Die Steine schlafen, die Pflanzen träumen, die Tiere wälzen sich in ihren Träumen, als ob sie aufwachen wollten, und der Mensch wird wach. Es geht ein großes Hellwerden, ein großes Erwachen durch die Welt. Zeit wird hineingetragen in die Kathedrale, zum Übereinander des Wirklichen, das durchaus auch bleibt, kommt ein Nacheinander.

Dergestalt, daß ein Aufsteigen, eine evolutio stattfindet, die nicht nur e-volutio ist, Herauswicklung eines bereits festen Keims aus seiner Verpackung, sondern ein Novum geschieht, indem Licht eindringt; nur die oberste Monade, Gott genannt, ist schlechthin hell.

Solch totaler Rationalismus wird späterhin wieder gesprengt — als ob die Sophisten zurückgekommen wären durch Zweifel an dieser Art von Erfassung der Wirklichkeit. Am geistigen Faltenwurf der Wirklichkeit vollzieht sich, bei Locke, bei Hume, eine entschiedene Trennung in Subjekt und Objekt.

Daß die Wirklichkeit aus Ich und Gegenstand besteht, aus Zuständlichkeit und Gegenständlichkeit, das schwelt und arbeitet die ganze Zeit im Denken, aber erst jetzt wird das Subjekt zum genauen Ort der Illusionen. Die primären Qualitäten bei Locke sind Druck und Stoß, Raum und Zeit. Nicht etwa Farbe, Ton, Geschmack, Gefühl — das ist in uns, das sind sekundäre Qualitäten. Bei Hume kommt es zur großen Kritik nicht nur der Farben, der Sinneswahrnehmungen, sondern auch von Kategorien wie Dinghaftigkeit und Kausalität: Skepsis angesichts des widersprüchlichen Scheins der Substanzialität, Skepsis gegen Kausalität, die das Post hoc in ein Propter hoc verwandelt — mit welchem Recht?

Diese Zweifel werden durch den Sokrates dieser Skepsis, den großen Immanuel Kant, nicht behoben, aber auf das ihnen angemessene Niveau gebracht. Die transzendentale Überlegung gibt der Substantialität und Kausalität wieder ihren Ort: die Erscheinungswelt, nicht das Ding an sich. Hier kann erkannt werden, und zwar in lückenlos deterministischer Weise. Dies ist die Welt der Naturwissenschaft, die wirkliche Welt, in der unzerbrechliche Gesetzhaftigkeit herrscht, ohne Spur von Freiheit, Unsterblichkeit, Gott. Derlei kann in der Welt der Wissenschaft, der Erkenntnis, der Wirklichkeit im strengen Sinn, nicht vorgefunden werden. Und das Ding an sich bleibt unzugänglich, ein bloßer Grenzbegriff.

Aber dazu kommt ein sonderbarer Bruch: ein ganz Anderes, das zwar nicht Wirklichkeit ist, doch auch nicht Narretei, auch nicht Unwirklichkeit. Es gibt in uns dieses Unausrottbare, in der Welt der totalen Bedingtheit, worin nicht einmal ein menschlicher Kopf Platz hat, gibt es Ideen des Unbedingten (was nicht dasselbe ist wie das Absolute im üblichen Sinn), Ideen des Nichtdeterminierten, also etwa Freiheit.

Wirklichkeit ohne Wirklichkeit

Das sind die moralischen Ideen in uns, die in der Welt der mechanischen Wirklichkeit als der einzig erkennbaren und der einzigen, über die sich mit strenger Vernunft handeln läßt, keinen Platz haben. Es gibt eine rätselhafte Auswegwelt ohne Wirklichkeit, eine Welt, die nicht determiniert ist, oder zumindest nicht total determiniert. In ihr hat menschliche Freiheit ihren Platz, und menschliche Hoffnung: nicht real, nicht erkennbar, aber denkbar. Hier werden Postulate gesetzt, so daß gehandelt werden kann, gemäß den drei Fragen der drei Kritiken: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“

Die beiden Fragen „Was soll ich tun? Was darf ich hoffen ?“ haben in der Welt der Wirklichkeit keinen Platz. Und trotzdem sind sie nicht Unsinn, sondern höchster Sinn, das Einzige, was Sinn hat.

Bei Hegel hört diese Trennung von Erscheinungswelt und Wesen auf. Die Welt wird wieder leibnizisch, wieder ganz. Das Wahre und das Wirkliche sind eine Schicht. Das Subjekt ist nicht dazu da, in den Weltprozeß hineinzusprechen, sondern ihm gerecht zu werden, gemäß dem gediegen fortlaufenden Gang der Sache.

Das Wahre aber, entsprechend dem Prozeß-Charakter des Wirklichen, wird nun viel breiter als bei Leibniz. In der Einleitung zur Phänomenologie sagt Hegel, einen Satz aus Lessings „Nathan“ gebrauchend: Das Wahre und Wirkliche ist keine Münze, die bar, in einem Stück gegeben und so eingestrichen werden kann, sondern die Wahrheit ist ein Prozeß, ist Wahrheit als Wirklichkeit.

Wir sind wieder bei Parmenides, der die Einheit von Denken und Sein in riesenhaftem, kosmischem Ausmaß darstellt — entsprechend dem Satz im Vorwort zur Hegelschen Rechtsphilosophie: Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.

Schönheitsfehler der Vernunft

Bei dieser kategorischen Umkehr ändert sich etwas. Wenn alles Wirkliche vernünftig ist, dann ist dies die Ideologie für den Frieden mit der Wirklichkeit, dann ist alles in Ordnung. Den Studenten von damals, die gegen die Heilige Allianz rebellierten, wird damit gesagt: Auch diese ist vernünftig, und ihr habt es zu begreifen. Der erste Satz: daß alles Vernünftige wirklich sei — ist jedoch ebenso revolutionär wie der zweite konservativ ist. Auch das, was die Vernunft sagt, „la raison“, auch das, was raisoniert wird — auch das ist wirklich. Es hat nur den kleinen Schönheitsfehler, daß es nicht erscheint, oder noch nicht erscheint. Der Schönheitsfehler muß korrigiert werden.

So steckt die Rechte wie die Linke in diesen Hegelschen Sätzen. Das Ganze aber ist ein Hellwerden im leibnizischen Sinn: aus dem An-sich-Sein durch das Außer-sich-Sein zum An-und-für-sich-Sein. Mit einer Grenze: daß nämlich der Prozeß des Wirklichen, der solcherart gefeiert wird, doch wieder Schein ist; es wird bloß Evolution gemacht, es wird herausentwickelt, was in Ewigkeit schon da ist.

Die Hegelsche Entwicklung, jene Dialektik, die so reich ist an Geschichte, hat sehr viel gemein mit dem Entwickeln eines Lehrsatzes an der Tafel. Es handelt sich um Pädagogik, es wird für das menschliche Bewußtsein oder, politisch gesprochen, für den begrenzten Untertanenverstand, klar gemacht, wie herrlich doch die Welt eingerichtet ist.

Weshalb in der Vorrede zur Rechtsphilosophie der Satz steht: Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden; und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.

Der Gedanke kommt immer zu spät. Damit ist die revolutionierende Bewegung des Begriffs — das, was Hegel so wunderbar beschreibt als: dem Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer holen — wieder abgemattet durch den Bann der Anamnesis, der von Platon bis Hegel und weiter reicht: alles Wissen ist eine Urerinnerung an Ideen, die die Seele vor ihrer Verkörperung gesehen hat. Es gibt nichts Neues unter dieser fragwürdigen Sonne der Wiedererinnerung, sondern es wird nur herausgebracht, was ohnehin schon da war. Es ist keine Überraschung möglich, keine echte Zukunft.

Hegel ist auf die Zukunft sehr schlecht zu sprechen, sie ist ihm Spreu und Wind, Dunst und Duft, aber nichts Reales. Die Welt ist fertig. Der Weltgeist ist ausgestiegen aus seiner Diligence und tritt nun auf als Professor Hegel in einem Hörsaal der Berliner Universität (Gelächter).

Je nun, das ging nicht, war nicht zu halten, es ist ja ein Gedanke, der nur im Irrenhaus stattfinden kann. Die linke Hegelsche Schule und, als ihr Mitglied, am Anfang, Karl Marx, machen mit der Dialektik wiederum ernst.

Die dialektische Wirklichkeit ist die sich selbst kritisierende Wirklichkeit. In ihr geschieht tatsächlich Neues, geschieht, was noch in keines Menschen Sinn gekommen, geschieht, was auch noch in keiner Wirklichkeit Sinn gekommen ist. Die Dialektik ist die kritische Methode der Welt selbst, nicht das Selbstgespräch des Weltgeistes mit sich selbst, wobei er sich freundlich seiner Gestaltungen erinnert.

Als kritische Methode, als beißend kritische Methode der Umwälzung muß die Dialektik auf die Füße gestellt werden: erstens damit etwas geschieht, damit nicht nur im Kopf unter der Zipfelmütze etwas vor sich geht, und zweitens, damit man weiß, was vor sich geht an Widersprüchlichem, damit das Utopisieren, das Vorausjagen nach etwas, was noch nie war, Boden unter die Füße bekommt, konkret wird, sich mit der Welt vermittelt.

Nur so, in diesem wichtigen selbstdenkerischen Prozeß der Vermittlung, gibt es Offenheit nach vorn, echte Zukunft, die nicht nur in der Luft steht. Nur so kann konkret verändert werden. Die elfte Feuerbach-These von Marx lautet: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber drauf an, sie zu verändern.

Die Dinge brauchen uns

Dies aber — damit es nicht ins Leere greift, wie so oft, mit rascher Heldentat oder mit abstrakter Utopie — muß Konkretheit haben, d.h. historisch sein durch und durch. Begreifen, was war, heißt: etwas begreifen nicht als das, was es war, nicht als Gewordensein, sondern als Werden, das seinen Lohn noch nicht dahin hat, sondern, mit Unzufriedenheit subjektiv, mit Widerspruch objektiv, das Seine sucht und vor allen Dingen den Menschen braucht, um die im Weltprozeß anhängige Sache — den Übergang aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit — zu realisieren.

In der Realität steckt auch das, was erst realisiert werden muß — transzendent gefaßt als Deus creator, oder pantheistisch als Weltgeist, oder als der Mensch selbst. Weshalb Marx sagt: „Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender.“ Der Mensch, als der aktive, subjektive Faktor muß im Einklang sein mit dem objektiven Gang der Wirklichkeit, muß diesem Gang zuhören fast im musikalischen Sinn: wohin diese Melodie sich wenden will.

Meine Damen und Herren, ich setze somit voraus, daß die Welt offen ist, daß objektiv reale Möglichkeit in ihr besteht, und nicht nur abgeschlossene Notwendigkeit, nicht nur mechanischer Determinismus. Freilich verwandelt sich auch dies Marxsche Denken zum Großteil wieder in Gesetzesfetischismus: erstens in Geringschätzung der individuellen Menschen bis zum Exzeß; zweitens in die Vorstellung, daß der Weltprozeß ohne uns abläuft und uns sozusagen an den Haaren hinter sich herzieht, ob wir wollen oder nicht.

Auch durch den Marxismus also ist nicht gesichert worden, daß echte Zukunft, echte Offenheit besteht. Engels verfaßte die Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.“ Das ist schon richtig, es gibt den Fortschritt von der abstrakten Utopie zur vermittelten Wissenschaft. Es gibt aber auch den etwas zu großen Fortschritt von der Utopie zur Wissenschaft: wenn man nämlich alles Träumen unterschlägt, alles Vorausträumen, alles Hoffen, die Pionierexistenz, die wir Menschen haben, an der vordersten Front des Weltprozesses.

Die Offenheit nach vorne ist eine stiefmütterlich behandelte, große Kategorie. Man muß über den Horizont tauchen, in jenen schwierigen Realitätsgrad, nicht des Vorhanden-Seins, auch nicht des Im-Prozeß-Seins, sondern des Noch-nicht-Seins, in die Sphäre für das Novum, für die Vermittlung der Tat, für die Furcht und für die Hoffnung.

Probe auf kein Exempel

Man muß die Welt als Aufgabe sehen, als Modell, als Probe auf ein unvorhandenes Exempel. Dazu ist Wissenschaft nötig, eine spekulative, metaphysische Wissenschaft, die sich auf das Blau versteht, auf das Hineinbauen ins Blaue, die ganze Welt ist hineingebaut ins Blaue — ja, eine Wissenschaft, die sich nicht nur aufs Blaue versteht, sondern sogar auf das Ultraviolette.

Dies mit der Erkenntnis, daß die Vorhandenheit, die man gewöhnlich Wirklichkeit nennt, von einem ungeheuer größeren Meer der objektiv realen Möglichkeit umgeben ist. Möglichkeit ist nicht Wischiwaschi, sondern ein genau bestimmbarer Begriff, nämlich partiale Bedingtheit. Die Welt ist noch nicht völlig ausdeterminiert, es ist noch etwas offen, wie beim morgigen Wetter; es gibt Bedingungen, die wir noch nicht kennen oder die noch gar nicht da sind, daher kann es morgen regnen oder schön sein. Wir leben umgeben von Möglichkeit, nicht nur von Vorhandenheit; im Gefängnis der bloßen Vorhandenheit könnten wir uns nicht rühren, nicht einmal atmen.

Ich komme nun zum Schlußteil. Noch-nicht-Sein erscheint zweimal (da die Spaltung in Subjekt und Objekt uns noch lange mitgegeben ist): als Noch-nicht-Bewußtes und als Noch-nicht-Gewordenes. Das Noch-nicht-Bewußte in uns, das schöpferisch Vorbewußte, repräsentiert das Noch-nicht-Gewordene im Objekt, soweit es echte Zukunft in sich enthält. Wenn es diese nicht enthält, ist es Wishful thinking, Wischiwaschi.

Noch-nicht-Bewußtes ist auch — sonderbar und ungeheuer verkannt — Nicht-mehr-Bewußtes, da unten, im Keller des Bewußtseins, wohin das, was einmal bewußt war, hinabgesunken ist, wo es unter Umständen fault oder aber wieder heraufgerufen wird.

Auch auf der Höhe des Bewußtseins gibt es ein Nochnicht-Bewußtes, das noch nicht umgeht und doch uns vor Augen steht: in der Jugend, in der Zeitwende, in der Produktivität. Das sind jene drei Zustände, in denen der Prozentgehalt des Noch-nicht-Bewußten am größten ist, Sauerstoffzustände, in denen das Feuer am stärksten brennt.

Die Jugend ist voll davon: es steckt etwas in uns, wir haben das ganze Leben vor uns. Das ist Jugend — wenigstens, wenn ihr das Gesicht nicht im Nacken steht. Echte Jugend hat alles vor sich und greift ein. Sie ist dem Neuen verfallen, noch unabhängig von den Inhalten dieses Neuen.

Die Zeitwende: das Alte will nicht vergehen, das Neue will nicht kommen, aber es geht etwas vor, die Zeit ist schwanger, die Gesellschaft ist schwanger, ein Kind will geboren werden. Spätantike, Renaissance, Sturm und Drang, das 18. Jahrhundert, unsere Zeit — das sind Epochen der Zeitwende, überladen mit Noch-nicht-Bewußtem.

Dann Produktivität: die Erzeugung eines Werkes, das noch nicht da war, politisch, musikalisch, poetisch oder religiös — jedenfalls umgeben von Dämmerung nach vorwärts. Nicht Dämmerung von der untergegangenen Sonne. Sondern aurorisch ist dieser Zustand der Produktivität, am deutlichsten etwa beim jungen Goethe, bei dem alle drei Phänomene — Jugend, Zeitwende und Produktivität zugleich auftreten.

Die Utopie ist der Ort, an dem das Noch-nicht-Bewußte sich einfindet. Man hat den Begriff des Utopischen bisher nicht nur negativ gefaßt, sondern überdies verengt auf die Staatsmärchen, die Sozialutopien. Das ist eines, das ist das Stammhaus, Platon, Thomas Morus, Campanella, Fourier, Saint Simon, Robert Owen, usw. Es sind großartige Versuche, eine bessere Gesellschaft — dreams of a better life — zu Papier zu bringen. Aber das ist nicht das einzige. Ich habe versucht, den Begriff des Utopischen überall anderswo aufzufinden. Das menschliche Leben, Geschichte und Kultur, sind voll davon: Architektur, die nie gebaut wurde, in der Utopisches umgeht und dann herabgehandelt wird in der Wirklichkeit; medizinische Wachträume; oder technische, Science fiction, die bei Bacon zuerst erscheint, in der „Nova Atlantis“ ; Wunschlandschaften in der Malerei, Musik und Dichtung; das Arkadische, Elysische, Paradiesische, hoch hinaus bis zum Augenblick, zu dem zu sagen ist: „Verweile doch, du bist so schön“.

Das sind die ungeheuren Kräuter, die gegen die härteste Gegenutopie gereicht worden sind, gegen den Tod: Träume vom Fortleben, von Unsterblichkeit im Werk, und was es sonst gibt, religiöse Utopien von oben bis unten, Träume nach vorwärts, Wunschmysterien: quomodo deus homo — auf welche Weise kann das zu uns kommen? Ein Heilendes, im medizinischen Sinn sogar, bis zum Heilenden im anderen Sinn, Gegengift gegen den Tod, Auferstehung und ewiges Leben, in allen hohen Religionen, aufgetragen auf ein Noch-nicht-Seiendes, Vorbehaltenes, Mögliches — Schätze, die nicht Rost und Motten fressen.

Trotz allem Duckmäusertum, trotz allen Mitteln, die Sklaven bei der Stange zu halten, trotz allen Vertröstungen auf ein Jenseits, bei bleibender ungerechter Verteilung der irdischen Güter, aber gerechter Verteilung der überirdischen — das alles kann hier geschehen, hat Platz im Riesenreich utopischen Bewußtseins und utopischer Verpflichtung. Es geht darum, sich hiebei nicht mißbrauchen zu lassen zur Ideologie, sondern alles, was mißbrauchbar ist, zu eliminieren, damit Kirche, Religion, ja sogar Atheismus möglich ist.

Das Noch-nicht-Gewordene ist eine Sache, die im Weltprozeß anhängig ist, in einem physikalischen, medizinischen, juristischen und theologischen Prozeß, der weder vereitelt noch gewonnen werden kann, sondern in Schwebe steht. Das Substrat des Wirklichen kocht auf dialektischem Feuer. Die Essenz muß erst noch herausgebracht werden, in eine Welt, die nicht weiß, wo ihr der Kopf steht und daher den Menschen braucht.

Entscheidung für Unentschiedenes

Der Mensch fällt die Entscheidung für etwas Unentschiedenes, so Unentschiedenes, daß Jahwe auf die Frage des Moses, wie dieser ihn nennen sollte, antwortet: Ich werde sein, der ich sein werde.

Dies ist eine frühe, mythologische und sogleich nicht mehr mythologische Bestimmung der Essenz, dem wirklichen Zustand der Wirklichkeit entsprechend, kein Jenseits und kein Oben festlegend, sondern ein mögliches Vor-uns.

Die Materie, sagt Aristoteles, ist das In-Möglichkeit-Sein: wie das Wachs die Möglichkeit für das Petschaft. Materie, passive Möglichkeit bei Aristoteles, wurde immer aktiver in der aristotelischen Linken, über die arabischen Philosophen bis zur Natura naturans, die dem Menschen entgegenkommt und begründete Zielrichtung gibt, so daß er schöpferisch handeln kann in konkreter Art und mit völligem Ernst — nicht mit Zuversicht, denn die würde sich auf eine ausgemachte Welt beziehen, sondern mit Furcht und Hoffnung, die sich auf das Noch-Unentschiedene beziehen.

Meine Damen und Herren, ich denke — und das ist das Letzte, was ich sagen will — unsere Universitäten können dem sichtbaren Übergang und Umbruch unserer Zeit und Gesellschaft zur Offenheit nach vorwärts gar nicht genug verpflichtet sein, wenn sie ihre alte Tradition der Universitas wahren wollen. Sie müssen das Licht anstecken. Insbesondere die Philosophie sollte, wie Kant im Streit der Fakultäten sagt, nicht die Schleppe nach-, sondern die Fackel vorantragen.

Sozialismus und Christentum haben mancherlei Konkordanz, gerade in wichtigsten Angelegenheiten. Dies ist gut so, sowohl um dem Bekenntnis zum Sozialismus Tiefgang zu erhalten, wie auch, und vielleicht erst recht, um dem Bekenntnis zum Christentum ein Zeichen seiner Echtheit zu geben. Dergestalt, daß ein neuer Aeon im Christentum bedeutet ist und als Licht der Hoffnung vorleuchtet, ein neuer Aeon, in dem das Reich des Menschensohns nicht nur als ein Oben vorkommt. Wenn das Heil in der Botschaft Fleisch werden soll, für uns oder Spätere, darf es kein bloßes Oben geben. Sondern ein Vorwärts.

Ich danke Ihnen.

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