FORVM, No. 89
Mai
1961

Der Österreicher Hermann Broch

„Dem Wiener Volk ist der Deutsche, besonders der Norddeutsche seit jeher unbehaglich gewesen, und sich von ihm zu unterscheiden ... wäre wohl immer mit Zustimmung aufgenommen worden“, schrieb Hermann Broch in seinem großen Hofmannsthal-Essay. Broch war gebürtiger Wiener (wenn auch nicht dem hier gemeinten „Wiener Volk“ zuzurechnen) und war ein typisch „kakanisches“ Mischprodukt: sein Vater stammte aus Mähren, seine Mutter aus einer alteingesessenen Wiener Bürgerfamilie. Im Ersten Weltkrieg hatte Broch als Reserveoffizier Dienst getan. Vor allem aber, auch vor den äußeren Fakten, war es seine Lebenshaltung, die ihn zum Österreicher machte.

In einem vom 12. März 1932 datierten Brief an seinen Verleger berichtet er über einen Besuch in Nürnberg:

... war ich von dem, was ich im Kreise der dortigen Ingenieure erlebte, aufs äußerste deprimiert. Manches läßt sich freilich auf das herrliche Bier zurückführen, aber dieses Bier setzt sich unmittelbar in eine Mentalität um, die man zwar nicht europäisch nennen kann, weil ja auch das Neandertal und Cro-Magnon in Europa lagen, deren Anti-Europäismus aber alles Arge für die Zukunft (und auch für die morgige Wahl) erwarten läßt. Denn dies, eben diese Kreise, das ist Deutschland — man wundert sich geradezu, daß sich so etwas in menschlicher Sprache verständigt.

In der Wendung „Das ist Deutschland“ hat nicht nur Brochs emotionale Erschütterung ihren Ausdruck gefunden; vielmehr ist hier — unbewußter und darum besonders bezeichnend — der österreichische „Volks“-Charakter mit ihm durchgegangen. (Der Weltbürger in Hermann Broch hätte sich wohl etwas exakter ausgedrückt und hätte eher vom Triumph des einen Deutschland über das andere gesprochen.)

Das Österreichertum des Menschen Hermann Broch ist unbestritten. Von seinem Werk läßt sich das nicht so einfach sagen. Als es bald nach dem Zweiten Weltkrieg einer offiziösen österreichischen Seite zur Beurteilung vorlag, war das Ergebnis so, daß Broch in einem Brief an Rudolf Brunngraber feststellen mußte: „Die in Betracht kommenden Stellen haben meine Arbeit ... zwar hoch gepriesen, aber als zu wenig ‚österreichverbunden‘ befunden.“ Immerhin wurde Broch einige Jahre später von maßgebenden österreichischen Kulturorganisationen für den Nobelpreis vorgeschlagen.

Gewiß läßt sich die „österreichische Eigenart“ im Schaffen eines Heimatdichters leichter feststellen als in einem Werk, das in die Sphären der Weltliteratur hinaufreicht und dessen Österreichertum oft nur in einer charakteristischen Art des Denkens oder der Gestaltung spürbar wird. Und gewiß ist Hermann Broch, weil der erste Teil seiner „Schlafwandler“-Trilogie im märkischen Aristokratenmilieu spielt, nicht zum preußischen Junker geworden. Aber dieses rein stoffliche Merkmal hat für einen Teil der Kritik dennoch ausgereicht, um den „Pasenow“-Roman mit den Schöpfungen Fontanes zu vergleichen. Es gab sogar einen — mit Fontane nicht zu vergleichenden — deutschen Literaturkritiker, Paul Fechter, der eben darum auf diesen Roman sehr böse wurde und eine sehr ausfällige Kritik über das Buch schrieb. Broch äußerte sich dazu auf eine für ihn sehr charakteristische Weise:

Man könnte zu so einer Kritik sagen, daß sie die eines ernsthaften Menschen sei, der in bestimmten Idealen lebt und selbstverständlich von deren Verletzung tief gekränkt ist, so daß er zu dem absurden Schluß kommt, märkische Aristokraten stünden außerhalb einer psychologisch-metaphysischen Betrachtungsmöglichkeit.

Die gleiche Haltung nimmt Broch auch jenen gegenüber ein, die in künstlich idealisierten Vorstellungsbildern von Österreich leben. So ist es ihm in seinem Hofmannsthal-Essay um den Nachweis zu tun, daß Hofmannsthals Bild von der Habsburgermonarchie „vollkommen realitätsfern“ war und daß ihm bis zum Zerfall der Monarchie deren Gesamtbevölkerung — „das österreichische Volk“ — nach dem Modell der Alpenbauern geschnitzt erschien. Hofmannsthal hätte seine Assimilationsaufgabe auf ein „Traumösterreich“ gerichtet, das für ihn ein Gebilde höchster sittlicher Realität gewesen sei — doch nicht etwa „im Sinne der Hegelschen Staatsidee, sondern in einem womöglich noch mystischeren Sinn: der Realitätsgrund lag in der Symbolisierung durch den Kaiser“.

Ob dies nun zutrifft oder nicht: daß Brochs Österreichertum von anderer Art gewesen ist, steht fest. Was ihn am Phänomen Hofmannsthal interessiert, ist eine ganz bestimmte, historische Phase des Wertzerfalls, jene nämlich, die sich literarisch durch einen ästhetisierenden Symbolismus ausgedrückt hat.

Sprachmusikalität und Neigung zu musikalischer Formbildung gelten als charakteristische Züge österreichischer Literatur. Die lyrisch-musikalische Ausprägung der Sprache des Epikers Broch war stark genug, daß ganze Partien aus seinen Romanen in den Band „Gesammelte Gedichte“ aufgenommen werden konnten. Überall in seiner Prosa — besonders deutlich im Schlußkapitel des „Versucher“ — finden sich Stellen, deren lyrischer Rhythmus unverkennbar ist. „Der Tod des Vergil“ ist konsequent durchgeformt und „komponiert“ wie die vier Sätze einer Symphonie.

Ein weiteres österreichisches Element im Werk Hermann Brochs ist der seelische Relativismus, dessen Selbstauflösungs-Tendenzen einem universalen, ethisch-religiösen Höhentrieb entspringen. Schon einer der ersten Kritiker der „Schlafwandler“, K. H. Bühner, hat vermerkt, daß sich hier die Möglichkeit, Charaktere virtuell übereinanderzuschichten, phantastisch vergrößert: „Die Romanfiguren verlieren ihre Individualität, die Umrisse beginnen zu verfließen, die Relativität des Ich und Du wird aufgehoben in die Verabsolutierung des Es.“

Die ethisch-mystische Grundhaltung tritt besonders deutlich in den Gedanken zu Tage, die sich Broch um die Schaffung eines neuen „Menschenrechts“-Begriffes gemacht hat. Er selbst drückt das so aus:

Die Kultur in ihrer Ganzheit ist die symbolische Todesüberwindung, in der des Menschen Leben zum Leben, er selber aber zum Menschen wird, da er, baut er an ihr mit, sein Stück Ich-Erweiterung, sein Stück Todesaufhebung im Zeitlosen der Werte gewinnt. Und wem es solcherart gelänge, nicht nur ein Stück, nein, das Ganze zu erfassen, die oberen und unteren Welten zugleich ... der ist dem Heiligen nahe ...

In der hier gemeinten Ich-Überwindung (im Gegensatz zur Ich-Hybris) besteht das österreichische Kulturideal. Es zwingt schließlich alle ambivalenten Gegensätze unter das ausgleichende Gesetz des „Maßes“, wie es in Stifters „sanftem Gesetz“ seine schönsten Formulierungen gefunden hat. Jener Begriff des „Meta-Rechts“, in den Brochs Menschenrechts-Betrachtungen ausmünden, stellt nichts anderes dar als eine rechtsphilosophisch-abstrakte Variation des „sanften Gesetzes“.

Brochs Menschenrechtsidee gehört zu den Schlüsselpunkten seines dichterischen Werks; von der Kritik des Wertzerfalls in den „Schlafwandlern“ — über das Aufbäumen gegen jegliche Versklavung im „Tod des Vergil“ — über die Kritik an der schuldhaften Schuldlosigkeit in den „Schuldlosen“ — bis zur Erlösung durch die Liebe, wie sie Mutter Gisson im „Versucher“ vorlebt. „Deine Liebe sei ohne Grenzen; ist ohne Grenzen. Verliere keine Zeit“ — diese Worte Mutter Gissons könnte man Kants sehr „deutschem“ kategorischen Imperativ beinahe als österreichischen gegenüberstellen.

Selbstverständlich wird sich das Werk einer individuellen Künstlerpersönlichkeit vom Range Brochs niemals völlig mit der Idee einer verbindlichen Nationalkonstante decken. Trotzdem ist dieses Werk — das durch bestimmte Züge von jüdischem Messianismus noch eine besondere Differenzierung und Färbung erfährt — dem Österreichischen viel direkter verbunden, als man gemeinhin annimmt. Im „Versucher“ hat Broch seine tiefe Liebe zu Österreich ins Zeitlose gehoben. Obwohl in der für Broch typischen Tendenz zur Verallgemeinerung und Abstraktion kein Ortsname genannt ist, konnte der Herausgeber des Romans, Felix Stössinger, in seinem ausgezeichneten Nachwort doch auf zahlreiche Parallelen hinweisen, die zwischen den tatsächlichen Ortsverhältnissen der Gegend, in der Broch den Roman schrieb (der Gegend um Seefeld in Tirol) und der Romanschilderung bestehen. Und noch etwas anderes hat Stössinger festgestellt, als er die verschiedenen Teile des hinterlassenen Romans zu einem Ganzen zusammenfügte. Die erste Fassung war 1934 in Tirol begonnen worden, die letzten Teile sind 1951 in den USA entstanden. Stössinger schreibt:

Die zeitliche und räumliche Ferne entfernte ihn (Broch) nicht von seiner ursprünglichen, innigsten Identifikation mit den Dingen und Menschen des Romans. Wunderbarerweise gewann der Dialog der Bauern noch an mundartlicher Würze und Kürze, Wälder und Wasser rauschten und strömten noch lauter durch das Buch, Wetter und Sonne wurden noch elementarer, und in Farnen, Gräsern und Geäst eines Tiroler Sommers wandernd, ging Brochs Leben in Connecticut zu Ende.

Diese Intensivierung erklärt sich nicht allein aus der gereiften Meisterschaft des Dichters, sondern in mindestens ebenso hohem Maß aus dem Umstand, daß dem Mystiker Broch die Landschaft seiner österreichischen Heimat zum Symbol des Unendlichen im Endlichen geworden war, Echo und Aberecho des einen Großen und Ganzen; und der Wind, der über die Wälder dieser Landschaft streicht, ist — in tieferem Sinn als dem einer dekorativen Metapher oder einer sentimentalen Heimweh-Übersteigerung — göttlicher Atem, der hinter den verzauberten Wipfeln und Wiesen das All-Eine sichtbar werden läßt.

Wievielen österreichischen Dichtern war es gegeben, ihrer Heimat solche Bedeutung zuzumessen?

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