FORVM, No. 207/I/II
Februar
1971

Der Pädagoge als Gärtner

Zu Arbeiten von Siegfried Bernfeld

Zu Siegfried Bernfeld: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse. Band I-III.‚ hsg. von Lutz von Werder und Reinhart Wolff. März Verlag, Frankfurt 1970.

Der Begriff „antiautoritäre Erziehung“ ist über Nacht Mode geworden, das Aufrücken eines Buches mit diesem Titel von dem Engländer A. S. Neill in die Bestsellerlisten war eines der Indizien dafür. Als Beispiel einer Begriffsneubildung verträgt der Begriff Kritik, denn was gemeint ist, ist nicht Erziehung gegen Autorität, sondern Erziehung ohne Autorität. Unautoritäre Erziehung wäre die treffende Bezeichnung für ein Kompendium von Methoden, Kinder frei und ohne Zwang zu erziehen.

Doch die Begriffsbildung „antiautoritär“ hat eine wichtige revolutionäre Konnotation: denn wer ohne Autorität erzogen wird, wendet sich später präsumabel gegen die Autorität und ist somit potentieller Rebell gegen das System und seine immanenten Zwänge. Ob der Schluß von unautoritär auf antiautoritär korrekt ist, bedarf aber des Nachweises.

Die vergleichende Verhaltensforschung, selbst eine Modewissenschaft, scheint nahezulegen, daß die Neigung menschlicher Gesellschaften zur Bildung von hierarchischen Ordnungen biologisch verankert ist. Hierarchische Ordnungen setzen Autorität und ihre Anwendung voraus.

Der anfangs erwähnte englische Pädagoge A. S. Neill, Begründer und Leiter der antiautoritären englischen Schule Summerhill, wandte sich in einer kurzen, in der Hamburger Wochenschrift „Die Zeit“ veröffentlichten Erklärung gegen die politische Interpretation und gegen den politischen Gebrauch seines erzieherischen Programms. „Politische Strömungen herrschen und verschwinden wieder.“ Aber große Gedanken, große Kunstwerke, große Kompositionen sind unsterblich; und unsterblich sind: Freiheit, Liebe, Mitleid, Aufrichtigkeit. Daher stehen sie im Mittelpunkt der Erziehung in Summerhill.“

Gewiß paßt dieses Humanprogramm, das große Worte so einfach und unreflektiert verwendet, den Strömungen, die sich antiautoritärer Erziehung befleißigen, nicht in den Kram. Siegfried Bernfeld, dem Wiener Pädagogen und überzeugten Marxisten, der 1953 im amerikanischen Exil gestorben ist, hätte es nur ein Lächeln oder einen seiner kurzen, bissigen Kommentare entlockt.

Bernfeld, 1892 in Wien geboren, war sozialistischer Pädagoge, engagierte sich dann für die zionistische Sache, wurde Freud-Schüler, Laienanalytiker ohne medizinische Ausbildung, Generalsekretär der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft, ging nach dem Scheitern seiner pädagogischen Pläne in Wien nach Berlin, arbeitete hier vorwiegend theoretisch und emigrierte auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus nach den Vereinigten Staaten. In seinen letzten Lebensjahren veröffentlichte er gemeinsam mit seiner Frau, Susanne Cassirer, Studien zu einer geplanten Freud-Biographie, die leider nie zuende geführt wurde.

Eine deutsche Ausgabe dieser nur in amerikanischen Fachzeitschriften erschienenen Freud-Studien wäre ebenso wünschenswert wie eine Gesamtausgabe der psychoanalytischen Arbeiten Bernfelds.

Inhaltlich lassen sich die in der Märzauswahl enthaltenen Arbeiten in drei Gruppen teilen: Aufsätze zur Jugenderziehung; psychoanalytische Arbeiten zur Kindheit und Pubertät; Arbeiten zu methodischen und wissenschaftstheoretischen Fragen der psychoanalytischen Theorie. Die frühen Aufsätze zur Jugenderziehung sind noch nicht analytisch orientiert, sondern ergeben sich in ihrer Zielrichtung aus der militant sozialistischen Haltung Bernfelds. In einigen späteren Arbeiten, von denen vier im zweiten Band der März-Ausgabe enthalten sind, versucht Bernfeld als einer der ersten eine Synthese von Marxismus und Psychoanalyse, die ihn auch in eine Polemik gegen den anderen großen marxistischen Psychoanalytiker, Wilhelm Reich, führt. (Bernfelds Reich-Polemik findet sich in dem Band „Psychoanalyse und Marxismus“ der Theorie-Reihe des Suhrkamp-Verlags.) Der dritte Teil des zweiten Bandes, Psychoanalytische Beiträge, gibt Beispiele für im Zusammenhang der Geschichte der Psychoanalyse sehr frühe wissenschaftstheoretische Versuche zu diesem Gebiet und zeigt Bernfeld als Pionier auch in dieser Richtung. Der dritte Band liefert gleichsam Nachträge zu den Themen der ersten beiden.

Die inhaltliche Legitimierung des Titels, den alle drei Bände tragen, gibt vor allem der Bericht über das Kinderheim Baumgarten im ersten Band. Im Auftrag der Wiener jüdischen Gemeinde organisierte Bernfeld ein Schulheim für Kriegswaisen. Gegen stärkste Widerstände der Auftraggeber, aber auch eines Großteils des Heimpersonals versuchte er, seine Anschauungen über Kindererziehung in Wirklichkeit umzusetzen, an einem ausnehmend schwierigen Objekt: die meisten jüdischen Kriegswaisen, die in das Heim aufgenommen wurden, waren schwer verwahrloste Kinder mit einem hohen Anteil an psychopathischen Störungen oder Charakterneurosen, wie man es heute nennen würde.

Das Programm der antiautoritären, oder besser: unautoritären Erziehung verdeutlicht Bernfeld an Hand der berühmten Metapher, die den Erzieher mit einem Gärtner vergleicht:

Man denkt dabei an nebensächliche Hantierungen des Gärtners, als wären sie seine wichtigsten, ans Beschneiden der Äste, ans Ausgraben und Eingraben, ans Unkraut jäten, an das Veredeln mit dem Messer und der Schere ... und kennt das wahre Bild des beschaulichen Mannes nicht, der all jenes auch tut, aber nebenbei, nicht damit die Pflanzen wachsen, sondern damit sie ein bißchen leichter wachsen und ein klein wenig mehr, wie es ihm gefiele ... So ist des neuen Erziehers Tun viel mehr ein Nichttun, viel mehr Beobachten, Zusehen, Leben als ein stetes Mahnen, Strafen, Lehren, Fordern, Verbieten, Anfeuern und Belohnen.

Die Aufsätze „Der Irrtum des Pestalozzi“ und „Sankt Pestalozzi“ sind glänzende Polemiken gegen pädagogische Fetische, eine ausgeprägte pädagogische Skepsis macht sich außerdem auch in der methodologischen Erläuterung „Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik“ bemerkbar.

Ein Zitat veranschaulicht besser als der Versuch einer Zusammenfassung, was Bernfeld sagen will:

In der pädagogischen Realität gibt es den Toleranzstandpunkt des formalen Ziels nicht. Von der Kindergärtnerin in der Privaterziehung, vielleicht, und von vereinzelten Spezialisten abgesehen, durchdringt das Werten praktisch das ganze Erziehungsgeschäft. Und Erziehung zur Realität wird unerbittlich Erziehung zur heutigen sozialen Realität, dies Ziel führt also zur konservativen Erziehung, und ist für alle jene nicht akzeptabel, die — in welcher Weise immer — diese heutige soziale Realität ablehnen und bekämpfen.

Die Alternativen sind klar umrissen: der Erzieher, zum Werten gezwungen, gibt die Wertungen des Systems an die Zöglinge weiter. Wer gegen die Wertungen des Systems erzieht, erzieht im Endeffekt für eine Utopie. Und ein Weg der Mitte ist kaum denkbar, seine Methodik wäre Verwässerung oder aber ein selbst wertender, eklektischer Liberalismus.

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