FORVM, No. 455
Oktober
1991

Der Schriftsteller als Politiker

Bücher über und von Václav Havel

Kaum ein zweiter Staatsmann erfreut sich zur Zeit so großer Beliebtheit wie Václav Havel. Kaum einer verdankt sie freilich so wenig wie er dem, was er als Staatsmann gemacht hat. Havel hat das Prestige als Erbe in sein Amt mitgebracht. Der Märtyrer der Husák-Epoche ist der Intellektuelle als Politiker, wie er theoretisch so oft herbeigewünscht und praktisch so selten angetroffen wird.

Es entspricht dem verbreiteten auf die Fabel, den „tieferen Sinn“ gerichteten Literaturverständnis, daß man insbesondere in Schriftstellern Sinnproduzenten sieht, Hüter der Moral und Repräsentanten einer überdurchschnittlichen politischen Verantwortung. Dabei genügte ein Blick in die Literaturgeschichte, um festzustellen, daß ein großer Teil der bedeutenden Literatur unmoralisch und politisch unverantwortlich ist, oft gar nicht anders sein möchte. Zwischen Anstand, politischer Klugheit und ästhetischer Kompetenz besteht kein zwingender Zusammenhang. Ezra Pound, Knut Hamsun oder Marinetti, die, obwohl hochbegabte Künstler, mit dem Faschismus sympathisierten, sind bloß die bekanntesten Beispiele.

Nun hat man in der Geschichte immer wieder aus der Vorstellung, Schriftsteller besäßen ein besonderes moralisches Gespür, ein ausgeprägtes Sensorium für politische Verantwortung, die Utopie abgeleitet, es stünde besser um die Gesellschaft, wenn Intellektuelle im allgemeinen oder Schriftsteller im besonderen die Staatsgeschäfte führten, also nicht nur Ansichten bekundeten, sondern Macht hätten. Wurde Christa Wolf in jüngster Zeit zur paradigmatischen Figur für den Schriftsteller, der den in ihn gesetzten moralischen Erwartungen angeblich nicht entspricht, so wurde in der aktuellen Diskussion Václav Havel zum Muster des Schriftstellers, der, als Dissident moralisch bewährt, auch in der großen Politik zu Hoffnungen Anlaß gebe.

Havels grosse Popularität in der Tschechoslowakei beruht aber wie gesagt nicht auf Taten, die der Dramatiker gesetzt hat, seit er das Amt des Präsidenten ausübt, sondern zehrt immer noch vom Mut und von der Integrität, die er bewies, als er von der Macht verfolgt wurde. Ob es Havel tatsächlich gelingen wird, die politischen Probleme seines Landes besser zu lösen, als es ein Berufspolitiker könnte, ist noch keineswegs entschieden. Nicht auszuschließen ist, daß Havel ein ähnliches Schicksal ereilen könnte wie in Polen Mazowiecki, wenn er nämlich die wirtschaftlichen Erfolge nicht vorweisen kann, die letzten Endes über Zufriedenheit und Unzufriedenheit der Massen entscheiden. Und genau genommen sollte ihm nicht allzu wohl sein, wenn ihm diese Massen, jedenfalls zur Zeit noch, in undifferenzierter Begeisterung zujubeln. Eine Demokratie, die nur auf dem Vertrauen zur demokratischen Gesinnung ihrer Führer beruht, steht auf wackeligen Füßen. Die Führer können sich ändern, sie sind austauschbar. Die autoritäre Haltung aber derer, die sie in Massenkundgebungen hochleben lassen, bleibt. Daran wird auch die schriftstellerische Begabung eines Havel nichts ändern.

Havel ist nicht der erste und nicht der einzige Schriftsteller, der eine Machtposition an der Spitze des Staates einnimmt. Sieht man sich freilich um, wann und wo es zu solch einer Konstellation von Intellekt und Macht kam, so fällt auf, daß es stets kleine, im internationalen Maßstab wenig beachtete Länder waren, die sie ermöglichten. Ein Schriftsteller als führender Politiker einer Großmacht ist fast undenkbar. Man könnte im Gegenteil die These aufstellen: Je größer das Gewicht eines Staats innerhalb der Weltpolitik ist, desto weniger intellektuell sind seine maßgeblichen Politiker, desto mehr sind sie den politischen Apparaten — den Parteien, der Verwaltung, dem Militär — verbunden, aus denen sie in der Regel hervorgingen. Wenn tatsächlich mal ein Intellektueller in einer Großmacht an der Spitze anzutreffen ist, dann in einer Position, die repräsentativen Charakter hat, aber mit wenig praktischen politischen Kompetenzen ausgestattet ist. Es liegt nahe, nach Gesetzmäßigkeiten zu fragen, wenn Figuren wie Leonid Breschnjew, Ronald Reagan oder Helmut Kohl, die zumindest Intellektuellen lächerlich erscheinen, so mächtige Politiker werden konnten. Mehr noch: Sie haben sich in ihrem Sinne bewährt. Kein Mensch käme auf die Idee, solche Politiker als moralische oder philosophische Instanz zu betrachten. Ihre Aufgabe ist die Erhaltung der Macht und die Stärkung der Großmachtstellung der Staaten, die sie repräsentieren.

In kleinen Staaten verhält es sich anders. Sie können sozusagen als Labors für politische Experimente funktionieren. Man kann sie selbst einem Intellektuellen, einem Schriftsteller für seine ethisch begründeten Planspiele überlassen. Und es ist bezeichnend, daß solche Amateurpolitiker dann auch nicht an außenpolitischen Problemen scheitern, sondern an der Wirtschaftspolitik. Ihre Außenpolitik hat ohnedies keine echte Bedeutung. Man läßt sie gewähren.

Ob Václav Havel in Salzburg dem österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim die Hand drückt oder nicht, ist letzten Endes ebenso egal wie die Reihenfolge der Staatsbesuche, die der tschechoslowakische Präsident absolvierte, solange die Staatskasse die Reisen finanzieren konnte. Der Präsident der Tschechoslowakei weiß sehr gut, daß keine der maßgeblichen Stellen an seinen Ansichten zu den entscheidenden Konflikten in der Welt interessiert ist, daß aber sein Ende als Politiker gekommen ist, wenn es ihm nicht gelingt, die ökonomischen Verhältnisse in seinem Land rasch zu verbessern und den Konflikt mit den Slowaken beizulegen.

Heißt das, Schriftsteller sollten lieber den Mund halten zu Dingen, von denen sie nicht genung verstehen, insbesondere also auch zur Politik? So ist es nicht gemeint. Grundsätzlich sollte jeder Staatsbürger, also auch der Schriftsteller, die Möglichkeit haben, sich in die Politik anders als nur alle vier Jahre mit dem Stimmzettel einzumischen. So wie es aber unter den Staatsbürgern aller Berufe politisch Interessierte, Fähigere gibt und weniger Interessierte und Fähige, so bilden auch die Schriftsteller keiner in dieser Hinsicht homogene Gruppe. Insofern ist es unsinnig, von jedem einzelen Schriftsteller zu verlangen, er solle zu den Fragen der Politik eine kompetente Meinung abgeben, sich gar politisch betätigen. Jene Schriftsteller und Intellektuellen aber, die auf Grund ihres Wissens, ihrer Erfahrung, ihrer Sensibilität eine überdurchschnittliche politische Kompetenz erworben haben, sollten, wenn sie es wünschen, mehr und bessere Möglichkeiten haben, ihre Erkenntnisse und Ansichten öffentlich zu machen, und zwar nicht in erster Linie in Form eines Interviews, sondern in einer ihnen selbst angemessen erscheinenden Form. Freilich: die Tätigkeit eines Schriftstellers befähigt in der Regel, die durch die Ausnahme bestätigt wird, eher zur kompetenten Kritik als zur politischen Praxis. Deshalb ist die sinnvollste politische Rolle des Schriftstellers, wenn er denn so eine Rolle spielen möchte, mit dem altmodischen Wort „Mahner“ durchaus zutreffend beschrieben. Václav Havel ist dafür nicht der schlechteste Beleg. Seine größte politische Bedeutung hatte er, als er mit großer Zivilcourage aus dem Untergrund das Husák-Regime kritisierte. Daß er dadurch mittelbar dazu beigetragen hat, dieses Regime zu stürzen, zeigt, daß die kritische Arbeit der Intellektuellen praktische politische Folgen haben kann. Wohl um diese zu honorieren, hat man Havel zum Präsidenten gemacht. Ob er diese neue Funktion besser ausfüllt als ein Berufspolitiker darüber wird die Zukunft zu entscheiden haben.

Erstmal kann man nachlesen, was andere über ihn schreiben, wie er sich selbst in Reden darstellt. Der Schriftsteller als Politiker: er mußte doch, wie unsere mehr oder weniger lesende Öffentlichkeit beschaffen ist, alsbald selbst zum Gegenstand des Büchermachens werden. Doch es ist bezeichnend, daß die Biographie mit dem Untertitel „Dichter und Präsident“ einiges vom Dichter, viel vom Dissidenten, aber fast nichts vom Präsidenten erzählt. Was den Dichter, dessen moralische Integrität über jeden Zweifel erhaben ist, für das politische Amt prädestiniert, erfahren wir auch aus diesem Buch nicht.

Die Frage stellt sich, ob wohl Jiří Gruša, selbst Schriftsteller und, von Havel bestellt, tschechoslowakischer Botschafter in Bonn, über seine Wortwahl nachgedacht hat, wenn er im Vorwort zur autorisierten Biographie Havels, der nach Grušas Zeugnis der Sprache zuhört, von den tschechoslowakischen Kommunisten des Jahres 1948 schreibt: „Im Glauben, die geschichtliche Dynamik entdeckt zu haben, selektierten die ‚Retter‘ — um einen Namen für sie zu finden, den Havel ihnen später gab — zwischen morsch und brav, bis man nur noch das Brave hatte.“ Das Verb „selektieren“ ist untrennbar mit Auschwitz verbunden. Die Selektion entschied darüber, wer sofort ins Gas geschickt wurde und wer noch eine Zeit lang leben durfte. Bei aller Ungeheuerlichkeit der Machtausübung in der Tschechoslowakei zwischen 1948 und 1989: Zum Glück wurden sie nicht allesamt umgebracht, die eine hirnrissige Propaganda als morsch qualifizierte. Mit der Sprache ist das so eine Sache. Sie schafft Analogien, über die sich zumindest ein Schriftsteller und Politiker im Klaren sein sollte.

Auch die Autorin der Biographie Eda Kriseová ist Schriftstellerin und zugleich Vertraute des Mannes, den sie porträtiert. Das birgt die Gefahr der Hagiographie in sich. („Er sieht wie ein Mensch Gottes aus, und das ist er auch, aber welch eine Auffassungsgabe und Intuition hat er!“) Eda Kriseová rettet sich meist ins Anekdotische. Human Interest wird bedient. Der Leser darf dem heutigen Präsidenten ganz nahe kommen, ihm sozusagen von Du zu Du gegenüberstehen, ein klein wenig auch in seinen Unterhosen schnüffeln.

Auch Eda Kriseová spricht von der „Selektion‘“, die hart gewesen sei in den fünfziger Jahren. Und sie formuliert Sätze, die einem den Atem verschlagen. Über den Filmregisseur Miloš Forman schreibt schreibt sie: „Er durfte studieren, seine EItern waren im Konzentrationslager umgekommen, ihm konnten die Kommunisten nichts anhaben.“ Was dieser Satz suggeriert, ist gleich doppelt falsch: Erstens durften selbst in den stalinistischen Jahren auch solche studieren, deren Eltern nicht im Konzentrationslager umgekommen waren. Und zweitens hat die Tatsache, daß die Eltern im nationalsozialistischen KZ umgekommen waren, „die Kommunisten“ keineswegs immer gehindert, die Kinder dieser Eltern zu verfolgen.

Bei der zutreffenden Beschreibung des regen Prager Kulturlebens Mitte der sechziger Jahre, als Havel mit dem im Theater am Geländer überaus erfolgreich aufgeführten „Gartenfest“ und der „Benachrichtigung“ zu Weltruhm gelangte, wird Eda Kriseová geradezu euphorisch und vergißt vorübergehend, daß sie ihr Buch — darin den von ihr bekämpften Stalinisten ähnelnd — doch ganz manichäisch angelegt hat: Da die bösen Kommunisten, dort die guten Widerständler, die überleben konnten. Leider desavouieren Kriseovás undifferenzierte Ressentiments, die von 1948 genauso sprechen wie von 1956, 1965 oder 1977, auch die berechtigte Kritik an der (unterschiedlichen) Machtausübung und dem Unrecht in der Novotny- und der Husák-Ära.

Ganz unvermittelt steht an einer Stelle der Satz: „Erst im November 1989 ist uns richtig bewußt geworden, daß das Jahr 1968 nicht unsere Erfüllung war.“ Was bedeutet der Plural? Václav Havel und Eda Kriseová? Und warum just im November 1989? Inwiefern hat, was als „sanfte Revolution“ in die Geschichte einging, den „Prager Frühling“ widerlegt? Und wenn denn die von Frau Kriseová datierte Erkenntnis diejenige Havels sein sollte, von dem das Buch schließlich handelt: war es dann bloßer Opportunismus, daß er seine Kandidatur für das Präsidentenamt davon aghängig machte, daß Dubček, der Repräsentant des Prager Frühlings, Ministerpräsident wurde?

Das Buch weist auch andere Abstrusitäten auf. Havels Großvater wird als Hellseher geschildert. 1932, also ein Jahr vor Hitler und sechs Jahre vor dem tatsächlichen Anschluß, habe er festgestellt, „daß sich in Österreich alles auf den ‚Anschluß’ zubewegte“. Frau Kriseová erzählt uns nicht nur, was sie über Havel in Erfahrung bringen konnte, was sie zusammen mit ihm in der Illegalität der siebziger und achziger Jahre erlebte, sie läßt uns auch immer wieder an ihrem eigenen Schicksal teilhaben. So dürfen wir erfahren, daß sie Havel gerne den Gruß einer alten Dame ausgerichtet hat, weil die ihr „bei diesen Worten ihre warmen kleinen Hände gereicht“ und ihr „die Finger gewärmt hatte, bevor sie ging.“ Diese putzige Naivität ist charakterisitisch für das ganze Buch, das die neue Berliner Filiale des Rowohlt Verlags in ihr Eröffnungsprogramm aufgenommen hat.

Dieses Buch ist in einem subjektiven, literarisch wenig ambitionierten Plauderton verfaßt, der von drei Übersetzern, die sich die Aufgabe teilten, übertragen wurde, im ersten Drittel in ein holpriges Deutsch, bei dem immerfort das tschechische Original durchschimmert. Auch die Redaktion läßt zu wünschen übrig. Da wiederholen sich Informationen, ohne daß das irgendeine Funktion erfüllte. Offenbar wurden die Wiederholungen schlicht übersehen. Zum Glossar: Milan Kundera lebt seit 1975, nicht seit 1979 in Frankreich.

Populär gibt sich ein fast zur Hälfte aus thematisch gruppierten Zitaten bestehendes schmales Heyne Sachbuch von Ortwin Ramadan. Dieses Havel-Porträt hat gegenüber Eda Kriseovás Buch zumindest den Vorteil, uns Sätze wie diesen zu ersparen: „Ich kochte jeden Tag einen Krug voll Kräutertee, damit Václav immer etwas zu trinken hatte.“

Wer sich für Václav Havel interessiert, tut am besten, wenn er dessen eigene Schriften liest. Wenn schon mal einer Präsident geworden ist, der mit der Sprache umzugehen versteht: warum sollte man ausgerechnet über ihn lesen, was andere verfaßt haben? Havel ist ja, wie man aus seinen früheren Schriften weiß, ein origineller, eher moralistischer als politischer Denker, dessen Überlegungen auch dann interessant sind, wenn man nicht mit ihnen übereinstimmen mag. Der jüngste rororo-Band enthält Reden, die Havel 1990, bereits als Präsident gehalten hat. Reden sind eine andere Gattung als Essays. Sie sind für den mündlichen Vortrag und für den Tag bestimmt, oft im feierlichen Ambiente. Havels Reden sind dem jeweiligen Anlaß angepaßt und berühren doch fast immer allgemeine Probleme von grundsätzlicher Bedeutung. Leitmotiv ist der Versuch, in der Tradition des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Masaryk die Politik auf Moral zu begründen. Daß sich Havel dabei gefährlich in die Nähe der Phrase begibt, liegt in der Natur der Sache. Ein moralisches Verständnis von Politik läßt sich in den konkreten Situationen des Alltags schwer mit Inhalt füllen. Für die Forderung nach Wahrhaftigkeit läßt sich ohne große Probleme ein — zumindest rhetorischer — Minimalkonsens finden. Die beträchtlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Aufgaben, die vor der tschechoslowakischen Gesellschaft stehen, sind freilich damit noch nicht gelöst. Alles, was Havel in seinen Reden sagt, ist vernünftig, manchmal von fast religiöser Demut geprägt, aber wenig überraschend. Er plädiert für den Abbau der internationalen Spannungen und unterstützt den Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion, von dem so viel auch für die Tschechoslowakei abhängt. Wie er sich etwa genau zu den an Milton Friedman orientierten radikalen Wirtschaftsreformplänen seines Finanzministers Klaus verhält, ist den Reden nicht zu entnehmen. Da steht nur vage, daß sich die gesamte Politik des Staates nicht „bloßen wirtschaftlichen Gesetzen unterordnen soll“. Am interessantesten erscheint mir eine Osloer Rede zur „Anatomie des Haßes“, in der Havel jene analytische Fähigkeit reaktiviert, die er vor mehr als fünfundzwanzig Jahren in seinen poetologischen Aufsätzen demonstrierte.

Auch Havels Kampfgefährte, der heutige Außenminister Jiří Dienstbier, hat ein Buch veröffentlicht. Es leidet freilich an der Tatsache, daß es 1985/86 in der Illegalität geschrieben wurde. Die Welt hat sich seither — nicht nur für Dienstbier — gewaltig verändert. Das begrenzt den Wert der Aufzeichnungen, die ursprünglich in einer Auflage von hundert Exemplaren, die bei einem Brand fast vollständig vernichtet wurden, im Samizdat erschienen. 1986 konnte Dienstbier meinen, „daß das Gleichgewicht des Terrors annehmbarer ist als kriegerische Lösungen, weil die Erhaltung des Status quo zumindest nicht Millionen Menschen auf weitere, kaum auszumalende Schlachtbänke jagt“. „Die Erhaltung des Status quo“, sinniert Dienstbier, „schützt uns bislang vor dem Massaker. Doch dieser Status quo selbst ist Gewalt“. Er verhindere die Befreiung des Menschen und die Entwicklung eines neuen Sicherheitssystems, das die Blöcke überwindet. Das ist heute, nur fünf Jahre später, fast schon Geschichte. Dienstbier plädiert, selbst als Dissident aus dem Untergrund, aus pragmatischen Gründen für ein Zusammenleben mit der Sowjetunion, weil sie nun einmal eine der größten Weltmächte ist. Da spricht der Diplomat, der sich schon in schlechteren Zeiten für den Posten des Außenministers qualifizierte. Dienstbier setzt in seinem Buch an zu einer historischen Analyse der sowjetischen Politik, vor allem Stalins, die er — wie auch andere Historiker und Politikwissenschaftler — zurückführt auf die Rückständigkeit Rußlands gegenüber Europa. Den „Generationenwechsel im Kreml“ betrachtet er mıt Sympathie und Skepsis. Er sieht aber objektive Bedingungen für eine Demokratisierung und Modernisierung der Sowjetunion. Als Realpolitiker, der weitaus weniger moralisch argumentiert als Havel, akzeptiert er die Dominanz der Großmächte, wenn er auch auf deren Reduktion hofft. In Übereinstimmung mit der Charta 77, der er angehörte, befürwortet Dienstbier schon Mitte der achziger Jahre die deutsche Wiedervereinigung. Für ihn ist die deutsche Frage eine europäische Frage, die Weltbedeutung hat. Er betont die deutsche Tradition des Föderalismus. „Nach den tragischen Erfahrungen und der Überwindung der nationalen Hybris können die Deutschen sie wissender beurteilen als andere und für eine demokratische föderative europäische Ordnung anbieten.“

Dienstbier beschreibt den Verfall der kommunistischen Parteien, die zum Sammelbecken für Karrieristen wurden. Dem hält er die Aktionen der polnischen Solidarność entgegen. Dienstbier wünscht sich die europäische Einigung. Was er über Schwierigkeiten mit dem östlichen Wirtschaftsbündnis sagt, ist mittlerweile ohne Belang. Die Befürchtung freilich, daß jede außerordentliche Entdeckung augenblicklich von der Armee monopolisiert wird, hat nichts von ihrer Berechtigung verloren. Dienstbier erkennt richtig, daß dieser Vorgang vom System unabhängig ist. Er nennt einen Fall, der uns interessieren muß: „Die ‚grauen Zellen’ reisen dahin, wo sie tätig werden können (zum Beispiel in den USA), und die westdeutschen Regierungen und Firmen, die über einen Anteil am SDI verhandeln, werden von den Amerikanern keinen Zugang zu allen Ergebnissen der gemeinsamen Forschung haben.“ Dienstbier warnt vor Nationalismen, hinter denen sich vielleicht „das alte Sehnen nach Expansion verbirgt“, und die der europäischen Einigung in die Quere kommen könnten. Am Rand erwähnt er auch die Notwendigkeit, die Krise der Dritten Welt zu überwinden — und sei es, um künftige Kriege der Armen gegen die Reichen zu vermeiden.

Lobend erinnert Dienstbier an Brandts Ostpolitik. Und, die osteuropäischen Veränderungen vorwegnehmend, mahnt er, ganz Pragmatiker, „daß alle Überlegungen einen empfindlichen Balanceakt darstellen, nichts vernachlässigen sollten, was zur Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft beitragen könnte, einschließlich der Erweiterung des Raums für die Entwicklung der nationalen Identität der sowjetischen Völker; gleichzeitig muß jedoch gesehen werden, daß diese Ziele nicht durch Destabilisierung der Sowjetunion erreicht werden können.“

1991 ergänzt Dienstbier: „Das Gleichgewicht der Großmächte darf nicht ersetzt werden durch ein Ungleichgewicht, so daß im Osten der stabilisierten Demokratien ein Raum verarmter Länder entstünde, in denen Nationalismen wuchern, streiten und schließlich auch Krieg führen könnten.“ Wie wahr. Ob diese Warnung nicht schon zu spät kommt? Dienstbier hält nicht für ausgeschlossen, daß die neuen Demokratien im Osten in einem ökonomischen Kollaps ersticken, daß es zu neuen Totalitarismen kommt. Im vorletzten Absatz verweist er auf die bereits aktuelle Frage der Flüchtlinge und Massenwanderungen, denen es durch Hilfe zu begegnen gilt — auch und nicht zuletzt im Interesse des Westens.

  • Eda Kriseová, Václav Havel. Dichter und Präsident. Die autorisierte Biographie, dt. von Eckhard Thiele, Gudrun Heißig u. Marianne Pasetti, Berlin (Rowohlt) 1991, 287 S., 39,80 DM
  • Ortwin Ramadan, Václav Havel. Ein Portrait, München (Heyne Sachbuch 50) 1991, 112 S., 9,80 DM
  • Václav Havel, Angst vor der Feiheit. Reden des Staatpräsidenten, sr von Joachim Bruss u.
  • Gudrun Heißig, Reinbek (roro aktuell 13018) 1991, 191 S., 14 DM
  • Jiří Dienstbier, Träumen von Europa, Berlin (Rowohlt) 1991, 186 S., 36 DM
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