FORVM, No. 487-492
Dezember
1994

Der süddeutsche »Joseph-Roth-Preis«

Nachgedanken eines zu Recht durchgefallenen Kandidaten

Ein Juror hatte mich eingeladen, am Wettbewerb um den Joseph-Roth-Preis, den »kleinen Bruder« des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt teilzunehmen. Daß ich dabei leer ausging, ist gerecht, denn es wurde eine Reihe von Texten vorgetragen, die auch ich für besser und preiswürdiger halte als meine. Was mich aber enttäuscht, sind die Kriterien, nach denen meine beiden Beiträge diskutiert wurden. Einer davon war die in diesem Heft erscheinende Auseinandersetzung mit dem ›Kursbuch 116‹.

Kurz vor meinem Vortrag hatte Klaus Harpprecht, der wort gewaltige und ohne Zweifel kluge Sprecher der Jury, verkündet, er liebe scharfe Polemik, die Namen nenne. Meine Polemik aber veranlaßte ihn zu einer ausschweifenden Tirade gegen die Linke, die gleichsam für alle Zeiten (und auch in meiner Person) für die Moskauer Schauprozesse verantwortlich sei, und noch am nächsten Tag pokerte er nach und ereiferte sich, anläßlich eines Textes einer keineswegs radikalen Kollegin über die heutige Haltung von Westdeutschen gegenüber Bürgern der ehemaligen DDR, völlig unmotiviert gegen die 68er-Generation. Harpprecht liebt also Polemik offenbar nur, wenn sie sich in einer politischen Richtung äußert, mit der er übereinstimmt. Da er nicht imstande oder nicht willens ist, einen Text handwerklich zu diskutieren, der ihn politisch provoziert, da er mit seinem Haßausbruch den gesamten weiteren Verlauf der Diskussion bestimmte, kann ich, bei der gegenwärtigen Zusammensetzung der Jury, jedem, der links von der ›Süddeutschen Zeitung‹ steht und das in seinem Beitrag auch nicht verbergen will, nur abraten, an einem Wettbewerb teilzunehmen, der sich objektiv gibt (ausgerechnet Harpprecht hatte sich am ersten Tag gegen das Ideologische ausgesprochen), in Wahrheit aber nicht zu dulden bereit ist, was jenseits des liberal-konservativen (also auch des sozialdemokratischen) Konsens liegt. Eine professionelle Souveränität, die von eigenen politischen Ansichten zu abstrahieren vermag, ist leider in dieser Jury, entgegen meinen Erwartungen, nicht bei allen vorhanden.

Daß bei einem österreichischen Wettbewerb sechs von neun Juroren Deutsche und nur zwei Österreicher sind, mag die Lage der österreichischen Publizistik widerspiegeln. Daß aber zwar ›F.A.Z.‹, ›Spiegel‹ und ›Süddeutsche Zeitung‹ nicht aber die ›Frankfurter Rundschau‹ oder gar die ›taz‹ oder der ›Freitag‹ oder eins der Stadtmagazine in der Jury vertreten sind, läßt die Behauptung zu, daß das politische Spektrum bei der Auswahl und der Beurteilung der Kandidaten nur recht unvollkommen repräsentiert ist. Wie gesagt: ich hätte auch bei einer anders besetzten Jury keinen Preis verdient; wohl aber eine adäquatere Diskussion erlebt.

Die drei prämierten Beiträge jedoch, von denen zumindest zwei tatsächlich zu den besten gehören, die in Klagenfurt vorgetragen wurden, signalisieren einen Zustand. Obwohl der Wettbewerb für Reportage und Essay ausgeschrieben ist, gingen alle drei Preise an Reportagen, und zwar an Reportagen eines bestimmten Typs: nämlich an Sozialreportagen, die sich mit den Benachteiligten dieser Gesellschaft befassen. Es ging darin um psychisch gestörte Kinder, um Menschen aus Weimar, die sich in der Folge der Wende das Leben nahmen, und um einen Blinden, der zum Glauben gefunden hat. Nun sind solche Reportagen notwendig und, wenn sie in der Genauigkeit der Beobachtung und sprachlich gelungen sind, auch mit Gewinn zu lesen. Aber es fällt doch auf, daß Reflexion oder materialistische Analyse bei der Preisvergabe in Klagenfurt gegenüber dem beschreibenden sozialen Mitleid keine Chance hatten. Selbst die höchst originelle und geistreiche Satire Manfred Schneiders über Korruption als Fortsetzung der Marktwirtschaft mit illegalen Mitteln — gewiß kein umstürzlerisches Traktat — ging leer aus. Marx, aber auch Egon Erwin Kisch oder der jüngere Joseph Roth wurden in Klagenfurt durch eine Rückkehr zu Dostojevskij überholt. Die Ausschließlichkeit, mit der eine Position die drei Preisränge besetzt, die man, nur scheinbar widersprüchlich, als christlichen Sozialdemokratismus bezeichnen könnte, sagt etwas aus über unsere Zeit und ihren Journalismus. Die 89er haben — freilich in einem ganz anderen Sinne, als es Ulrich Greiner unlängst in der ›Zeit‹ suggerierte — gesiegt. Und Klaus Harpprecht wird ihnen bescheinigen, daß sie ganz und gar frei sind von Ideologie.

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