FORVM, No. 102
Juni
1962

Diagnose und Dichtung (II)

voriger Teil: Diagnose und Dichtung

In der zehnten und letzten „Reigen“-Episode überlegt der Graf, ob er die Dirne, mit der er gegangen ist, auch wirklich umarmt hat: „Und was ist denn passiert? ... Also nichts ... Oder ist was? ... Meiner Seel ... seit ... also seit zehn Jahren ist mir so was nicht vorgekommen, daß ich nicht weiß ... Also kurz und gut, ich war halt b’soffen. Wenn ich nur wüßt, von wann an ...“ Dann aber steht er auf, die Lampe wackelt, er reibt sich die Augen und sieht sich die Frau an, die da vor ihm schläft. Eine Erkenntnis erwacht in ihm, die größer ist, als sein schlaftrunkener Geist sie zu fassen vermag: „Wenn man nicht wüßt, was sie ist! ... also der Lulu möcht wieder sagen, ich philosophier, aber es ist wahr, der Schlaf macht auch schon gleich, kommt mir vor; wie der Herr Bruder, also der Tod ...“ Hier kehrt der Liebesreigen zu seinem Ursprung, dem Totentanz, zurück. Die Lust, die diese Liebenden im Geschlechtsakt suchen, ist der Verheißung brüderlich verwandt, mit der der Tod die Figuren ködert, die er zu seinem Tanz geladen hat: sie alle suchen das Vergessen. Gewiß liegt eine hohe Ironie in dem Umstand beschlossen, daß es gerade der dekadente Herr Graf sein muß, dem angesichts von Liebe, Schlaf und Tod das Wissen um die Gleichheit aller Kreatur aufdämmert. Obgleich das Wort „Philosoph“ in seinem Wortschatz fast schon ein Schimpfwort ist, entdeckt er hier die Demokratie der Vergänglichkeit. Hier sind alle Wesen gleichberechtigt. Vor der Liebe steht der Mensch so nackt und ranglos wie vor dem Tod.

Was Schnitzler als eine Komödie der Geschlechtsmoral begonnen hatte, ist unversehens zu einer Aussage über die Natur des Menschen schlechthin geraten. Der „Reigen“ findet kein Ende: die Dirne der letzten Szene wird aufs neue ausgehen und einen Soldaten ansprechen wie jenen, der sie am Schluß des ersten Bildes verlassen hat. Die Liebe büßt beträchtlich an Geheimnis ein, wenn sie, wie hier, zum Sex entkleidet wird. Indem jedoch Schnitzler die Liebe ihres Schleiers beraubt, enthüllt er auch heilsam den Mythus ihres Bruders, des Todes. Der Tod erscheint menschlicher und paradoxerweise dem Leben kräftiger zugewandt, wenn er als einer der Triebe angesprochen wird, der diese Tänzer einander in die Arme schleudert. Nachdem der Herr Graf die Verwandtschaft von Liebe und Tod eingesehen und sich auf seine verglaste Art mit ihr abgefunden hat, beschließt er den nächtlichen Rundtanz mit den bedeutungsträchtigen Worten: „Guten Morgen ... guten Morgen.“

Immer ließ Arthur Schnitzler das ernüchternde Licht seines Verstandes über die Seelen seiner Gestalten spielen. Das hat Freud gemeint, als er ihn einen unparteiischen und unerschrockenen Seelenforscher nannte. Und diese Charakteristik fand ihre höchste Bestätigung, als Schnitzler im Jahre 1900 den ersten radikal inneren Monolog deutscher Sprache schrieb, den „Leutnant Gustl“.

Um der wissenschaftlichen Objektivität willen schaltet er hier fast zur Gänze den Erzähler (d.h. sich selber) aus. Weder begleitet er seine Gestalt, noch beschreibt er sie mit seinen eigenen, des Schriftstellers, Worten. Statt dessen werden Gustls Worte und Gefühle, seine Reflexe und Reaktionen in ihrem natürlichen Rohzustand dargeboten. Gedankenfetzen und Gefühlssplitter schaukeln und treiben scheinbar völlig absichtslos auf der abgründigen Flut des Vorbewußtseins. Als blickte er in einen Hexenkessel, beobachtet der Autor diese gestaltlose Assoziations-Masse von außen her und registriert die Blasen, die sie wirft. Es ist ein überaus modernes Experiment, das da vonstatten geht und für das sich der Forscher die günstigsten Bedingungen geschaffen hat, indem er das Mittelmaß selbst zum Gegenstand seiner Forschungen wählt. Denn ein junger österreichischer Leutnant um die Jahrhundertwende war traditionsgemäß ein richtiger „Mann ohne Eigenschaften“. Weder materielle noch geistige Gaben brauchten ihn auszuzeichnen. Die Routine seines Dienstes im Frieden ließ sein Innenleben so unbeschrieben wie ein leeres Buch. Dessenungeachtet spielte er gesellschaftlich eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auf ihm und seinesgleichen ruhte die Sicherheit des Kaiserreiches. Er war zugleich Schoßkind und Schoßhund seiner Zeit.

Indem Schnitzler den Leutnant Gustl für die Dauer einer Nacht dem Druck der Wirklichkeit und einer echten Lebensgefahr aussetzt, enthüllt er die innere Schwäche des Typus, dem die Verteidigung der staatlichen Identität Österreichs anvertraut war. Der Leutnant Gustl versagt. Als Mensch und Österreicher selbst aller Identität bar, bleibt er sich lediglich in seinem Hohlmaß gleich. Damit aber rührte das Experiment des Forschers an einen sehr wunden Punkt des politischen Unbewußten. Aggressionen entluden sich und führten zur Bestrafung des Experimentators: dem Dichter Schnitzler wurde von der österreichischen Armee der Offiziersrang aberkannt — nicht ganz mit Unrecht, wie der heutige Betrachter aus historischer Perspektive feststellen mag. Denn die Erzählung handelt von einem Duell (eigentlich von zweien). Und gerade weil Schnitzler an seiner Figur völlig unbeteiligt bleibt, gelingt es ihm, zugleich mit dem Leutnant Gustl auch die Institution des Duells sich selbst verurteilen zu lassen. Dies aber bedeutet nichts anderes als eine offene Herausforderung des Ehrbegriffes, wie er in der österreichischen Gesellschaft, wenn auch lässig, so immer noch unerbittlich, gepflegt wurde.

Im Selbstbekenntnis des jungen Leutnants brach die Ehre des Habsburgerreichs zusammen, und in den Trümmern gewahrte man schon die Konturen der ruinösen Zukunft Österreichs. Wie typisch dieser Leutnant Gustl war, und wie richtig die Diagnose, die aus solcher Typik abzuleiten Schnitzler seinen Lesern überließ, bestätigte sich später in der Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Die Leutnants Nowotny, Pokorny und Powolny, die einander da leitmotivisch an der Sirk-Ecke begrüßen, sind Leutnant Gustls gute Kameraden. [5]

Schnitzler war nicht nur ein Naturforscher, sondern auch ein verschwiegener Moralist und ein Seher, der mit unbestechlichem Blick die zeitgenössischen Illusionen durchdrang. Eben dies machte ihn zum „Doppelgänger“, dessen Anblick Sigmund Freud so lange auszuweichen trachtete. Aber neben und unter der wissenschaftlichen Objektivität und dem Skeptizismus Schnitzlers barg sich doch auch wieder die Subjektivität einer schöpferischen Phantasie; aus ihr erklären sich wohl gewisse Widerstände, die Schnitzler dem Lehrgebäude der Psychoanalyse entgegenbringen mußte.

Zweifellos bestand die „Verwandtschaft der beiden großen Wiener und ihrer Erkenntnisse“ in der Radikalität, mit der sie Schicht nach Schicht von der Oberfläche der modernen Zivilisation abtrugen: „Sie haben aus den Seelentiefen des homo sapiens die verborgenen Atavismen, die lauernden primitiven Impulse ans Licht gehoben.“ [6] Als sich Schnitzler jedoch gegen den Beruf des Arztes und für den des Schriftstellers entschied, schlug er zugleich den Weg in die Tradition der österreichischen Literatur ein. Ein gewisser Konservatismus war schon in seinen ersten Studien nicht zu übersehen; er bewahrte sich ihn auch dort, wo er scheinbar auf umstürzende Wirkungen ausging. Dieser Hang zum einmal Gegebenen mußte ihn einigen sehr wesentlichen Schlußfolgerungen entfremden, die sich aus der Psychoanalyse ergaben. Ernest Jones berichtet im dritten Band seiner Freud-Biographie, Schnitzler habe mit ihm und anderen Analytikern die Lehre des Meisters oft und ausführlich diskutiert, doch sei es dem Schriftsteller in keinem dieser Gespräche gelungen, „seinen Widerstand gegen die Gedanken des Inzest-Motivs und der kindlichen Sexualität zu überwinden“. [7] Was aber besagt dies anderes, als daß Schnitzler sich weigerte, in den Kindheitserlebnissen des Menschen die einzig bewegende Schicksalskraft anzuerkennen? Wenn Schnitzler dem Schicksal selbst gegenübertrat (und das tat er als Dichter ständig), wurde sein Determinismus brüchig. Als Skeptiker und Psychologe nahm er wohlweislich davon Abstand, nach den letzten Zielen des Menschen zu fragen. Das Werk des Schriftstellers aber wiederholte in unermüdlicher Variation den Titel der ersten Anatol-Szene: „Die Frage an das Schicksal“. Gerade an den Bruchstellen seines wissenschaftlichen Determinismus wird dann die Größe der Tradition sichtbar, an die er rückgebunden blieb.

Eine der männlichsten „Fragen an das Schicksal“ ist das Duell. Nicht immer hat Schnitzler dieses Motiv so gesellschaftskritisch behandelt wie im Fall des durchaus unmännlichen Leutnants Gustl. Schon in der „Liebelei“ (1895) entspringt der Zweikampf jenen Gründen, in denen der Dämon des Tragischen haust. Und vollends das Duell, das wie ein Krebsgeschwür durch die fünf Akte des 1910 entstandenen „Weiten Landes“ kriecht, um am Ende in absurder Wendung seine Opfer zu fällen, ist von einer Unausweichlichkeit, die das Gesellschaftliche zur echten Hybris der Tragödie hin überwindet, ist ein hochsymbolischer, fast schon ein ritueller Akt. An ihm wird deutlich, daß das weite Land der Seele an das des Todes grenzt, daß die Seele der Menschen selber tödlich ist.

In der Erzählung „Casanovas Heimfahrt“ (1918) verbindet sich dann das Thema des Duells aufs natürlichste mit dem Motiv des alternden Liebhabers. Den Kampf auf Leben und Tod führt hier ein Casanova im Verfall. Das Historische Kostüm — und der Untergang der österreichischen Gesellschaft, der sich vollzog, als die Novelle entstand [8] — erlaubte es dem Dichter, das Duell wieder als das zu sehen, was es in kräftigerer Vergangenheit gewesen war: eine elementare Begegnung menschlicher Schicksale. Mann kämpft gegen Mann um den Besitz der Frau. Der Alternde, der nicht abzudanken wünscht, stellt sich dem Jungen, der ihn auszustechen gedenkt. Nackt tritt Casanova seinem nackten, übermütigen und übersicheren Gegner gegenüber. In einer Landschaft, die Poussin gemalt haben könnte, findet ein beinahe mythisches Kräftespiel statt: Niedergang und Aufgang messen ihre Kräfte. Während er den Degen zum Gruße senkt, fragt Casanova: „Bin ich nicht ein Gott? Wir beide nicht Götter?“ Und weiter: „Ein Kampf? Nein, ein Turnier.“ Durch die Berufung seiner Ursprünge wird das Duell zum Kampf der Götter um die Herrschaft über die Welt (die ja ein Femininum ist). Frühling und Herbst begegnen einander. Der Frühling bleibt auf der Walstatt. Casanova, der die Kraft und Gewandtheit seines Arms an einem körperlich überlegenen Gegner mißt, geht als Sieger davon. War aber dieses Duell seine Frage an das Schicksal gewesen, dann ist die Antwort, die er erhält, auf eine höchst ironische Weise fragwürdig. Er hat Haut und Ehre gerettet, um deren Reste in schmählichstem Verfall zu veräußern. Wie schon zuvor dem Leutnant Gustl, wird ihm das Leben lediglich als ein aufgehobenes Todesurteil belassen. Casanovas Existenz ist von diesem Augenblick an nichts weiter als eine Selbstzerstörung auf Raten.

Das Schicksal ist ein witziger Puppenspieler und sein Hauptspaß besteht darin, die Schnüre aller Puppen zu durchschneiden, die es führt. Die Metapher stammt von Schnitzler; er hat sie in seiner Burleske „Zum großen Wurstel“ Bühnenwirklichkeit werden lassen. Der „Unbekannte“, der „mit einem Hieb alle Drähte trennt“, an denen seine Puppen hängen, und dann weit ausholt und mit dem Schwert über die ganze Bühne fährt — „alle Lichter verlöschen, und alle Menschen außer ihm selbst sinken zusammen“ —, begleitet diesen Akt echter dramatischer Verfremdung mit den Worten:

Bin ich ein Gott? ... ein Narr? ... bin euresgleichen?
Bin ich ich selber — oder nur ein Zeichen?

Abermals bekommt die Frage an das Schicksal eine Gegenfrage zur Antwort. Doch wie nihilistisch die Schlußworte des „Unbekannten“ auch klingen mögen: hinter Schnitzlers psychologischer und analytischer Ironie verbirgt sich ein deutlicher Rest traditionsgebundener Ehrfurcht. „Es ist ein edleres Vergnügen, mit Lebendigen zu spielen, als Luftgestalten im poetischen Tanze herumwirbeln zu lassen“, sagt der vermessene Puppenspieler Georg Merklin: und muß sich dennoch einem übermenschlichen Willen beugen, den der Spieltrieb seiner Phantasie außer acht gelassen hat. Das Schicksal verrät ihm nichts vom Ende seines Stücks. Statt dessen trägt er die Einsicht davon, daß er, der Puppenspieler selbst, nichts anderes ist als eine Marionette. Wahrscheinlich ist dies auch die tiefere und Schnitzler gemäße Bedeutung der vielzitierten Paracelsus-Worte:

Wir wissen nichts von andern, nichts von uns.
Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.

Was so lange als der unverbindliche Skeptizismus eines von der Dekadenz leicht wurmstichigen Fin-de-siècle-Schreibers gedeutet werden konnte, erscheint am Ende als die Weisheit eines Dramatikers, der seine Bühne als Welttheater, als theatrum mundi, aufbaute, um seine Geschöpfe vor dem Schicksal als ihrem verhüllten Richter agieren zu lassen.

Dieser Richter lädt die Gestalten Schnitzlers vor, und die meisten von ihnen erscheinen zur Verhandlung, um ihrerseits den Richter, das Schicksal, zu verhören. Ihre Fragen bestehen nicht immer aus Duellen mit Degen oder Pistolen; dem Leutnant Willi Kasda in „Spiel im Morgengrauen“ (1927) dient ein Spiel Karten zum gleichen Zweck. Und Schnitzler, der Zeitgenosse Strindbergs; sah auch die Liebe als einen Zweikampf unter den Augen des Fatums. Dabei ist es für ihn letztlich nicht entscheidend, ob die Liebenden einander finden oder den Tod; wesentlich bleibt, daß sich hinter den Masken sowohl des Eros wie des Sexus doch nur der alte Magier verbirgt, der mit den unvorhersehbaren Kunststücken eines dunklen Feuerwerks ein rational angelegtes Theater belebt oder in Asche legt.

So treibt auch in Schnitzler jener Zauberkünstler sein Wesen und Unwesen, mit dem der Dichter gemäß der Tradition, und nun gar der österreichischen, so viel Gemeinsames hat. Die Träume etwa behandelt er auf neuartig-psychoanalytische Manier und setzt sie doch wieder ins dramatische und epische Spiel, wie er es bei den alten Meistern gelernt hat. Im „Schleier der Beatrice“ (1899) trennt sich der Dichter Filippo Loschi von seiner Geliebten, weil sie sich im Traum zu seiten des Herzogs Bentivoglio gesehen hat. Und auf ihren naheliegenden Hinweis, es sei doch nur ein Traum gewesen, vermag er, zu der weitgespannten Antwort auszuholen:

Ich wollt’, es wäre Wahrheit, Beatrice!
So könnt’ ich eher ohne Schmerz und Ekel
Dich sehn; das Leben selbst tut alles ab.
Doch Träume sind Begierden ohne Mut,
Sind freche Wünsche, die das Licht des Tags
Zurückjagt in die Winkel unsrer Seele,
Daraus sie erst bei Nacht zu kriechen wagen ...

Und wenn er, in einem abschließenden Aperçu, Beatrice als Dirne ihres Traums bezeichnet, so haben wir die Essenz der „Traumdeutung“ Sigmund Freuds vor uns — die erst ein Jahr nach dem „Schleier“ im Druck erschienen ist. (Den Ausspruch W. B. Yeats’: „In Träumen beginnen Verantwortlichkeiten“, [9] nimmt Schnitzler gar um mehr als ein Jahrzehnt vorweg.)

All diese neuen, brillant formulierten Wahrnehmungen beziehen sich jedoch nur auf die Deutung von Beatrices Traum. Was dessen Inhalt anlangt — die Selbsterhöhung des Mädchens zu Glanz und Glorie einer Herzogin —, so ist er in Sprache und Arrangement aufs deutlichste dem traditionellen Wiener Zauberstück entlehnt:

... Dann klang
Musik, so schön und voll wie viele Orgeln!
Doch wußt’ ich: keine Orgeln sind’s — und suchte
Mit meinen Augen nach den Musikanten
Und fand sie nicht. Da stand der Herzog auf,
Nahm meine Hand und führt’ mich durch den Saal,
Vorbei den Menschen, die tief sich verneigten ...

Es sind die kindlichen Wunschphantasien eines „Teenagers“ aus der Renaissance. Aber weil Schnitzler der Kindlichkeit des Traumbilds schöpferisch gerecht zu werden versteht, gelingt es ihm, die Vision in der Unschuld wahrhaftiger Dichtersprache wiederzugeben. Diese Verse bezwingen uns nicht nur deshalb, weil sie psychologisch so völlig zutreffen (was Theodor Reik [10]) schon im Jahre 1913 nachgewiesen hat); sie führen auch noch das Eigenleben eines Gedichts, und zwar eines ausgezeichneten Gedichts. In der analytischen Deutung der Traumarbeit sind Schnitzler und Freud einander erstaunlich verwandt. Als Dichter aber fängt Schnitzler die Träume ein und ordnet ihnen eine künstlerische Aufgabe zu, wie dies vor ihm schon Shakespeare, Calderon und Grillparzer getan haben.

In der späten „Traumnovelle“ (1926) gestattet es Schnitzler seiner Hauptfigur, dem Doktor Fridolin, die lang zurückgestauten Triebe seiner Seele in einer wilden und verwilderten Nacht auszuleben. Fridolins Frau Albertine projiziert in der gleichen Nacht ihre unerfüllten Süchte und verdrängten Aggressionen, den Film ihres Unbewußten, auf den Bildschirm eines Traums. Die Eskapade des Mannes und das Traumabenteuer der Frau ergeben einen Kontrapunkt, der mit größtem kompositorischem Geschick durchgeführt ist. Diese kompositorische Verarbeitung eines Stoffes, der aus Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“ entlehnt sein könnte, hebt die Geschichte vom Niveau einer klinischen Studie zu dem einer meisterlich in den Grenzen der Tradition gehaltenen Novelle. Das Material zu dieser Geschichte ist psychoanalytisch verstanden und angeleuchtet. Ein Licht aus völlig anderer Quelle jedoch gewährt dem gleichen Stoff die Dichte und Durchsichtigkeit des literarischen Symbols. Der Maskenball, den Fridolin besucht, die nackten Leiber unter geistlichem Gewand, der Orgelklang, der zu wüster Tanzmusik umschlägt, die Landschaften, durch die Albertines Traum geistert —: all das ist nicht nur den Theorien Freuds, sondern auch den Bühnenbildern des Wiener Theaters eng verwandt. Der Traum ist immer noch ein Leben. Mag die „Traumnovelle“ auch als tiefenpsychologische Studie über die Verschränkung von Liebe und Haß, Sucht und Furcht, Wirklichkeit und Verrückung gelten dürfen: sie bietet ihre Thematik doch wieder in hochstilisierter Ausformung dar. Was wir hier erleben, ist eine Oper des Unbewußten. Und wenn wir genauer zusehen, dann geht es dem Dichter weniger um die Darstellung libidinöser Triebkräfte, Verdrängungen und Überkompensierungen, als um den „unfaßbaren Wind des Schicksals“, dem, wie er zu Beginn der Erzählung selbst sagt, seine Figuren ausgesetzt sind. Dieser unfaßbare Wind ist nicht von der klinischen Arbeit des Analytikers entfacht worden; er weht, über drei Jahrhunderte hinweg, aus der Glaubenswelt des österreichischen Barocks.

Von hier aus mag man die Worte, mit denen der sechzehnjährige Loris im Jahr 1890 den „Anatol“ einbegleitete, noch einmal auf ihren Erkenntnisgehalt überprüfen. Ahnte Hofmannsthal, der als reifer Mann mit seinem „Turm“ Calderon ins zwanzigste Jahrhundert übertragen sollte, schon als Knabe die barocken Grundkräfte, die im Werke seines Freundes rege waren? Da heißt es:

Also spielen wir Theater,
Spielen unsere eignen Stücke,
Frühgereift und zart und traurig,
Die Komödie unsrer Seele,
Unsres Fühlens Heut und Gestern,
Böser Dinge hübsche Formel,
Glatte Worte, bunte Bilder,
Halbes, heimliches Empfinden,
Agonien, Episoden ...

Das ist zunächst eine präzise Selbstanzeige jenes literarischen Wien vor der Jahrhundertwende, die Liebes- und Zugehörigkeitserklärung eines Gymnasiasten an eine Generation, die ihm um ein halbes Mannesalter voraus war. Aus diesen Worten leiten sich manche der säuberlichen literarhistorischen Bezeichnungen wie „neuromantisch“, „impressionistisch“ oder „dekadent“ her, die dem Werk Schnitzlers bis heute klettengleich anhaften. Wie aber steht es um das „Gestern“, den Ursprung des Fühlens, das Hofmannsthal in der Komödie des um zwölf Jahre älteren Schnitzler wahrnahm und nicht ohne eine gewisse Anmaßung als „unser“ reklamierte? Mit erstaunlichem Schwung fügte Loris seine Skizze des Fin-de-siècle in einen historischen Rahmen:

Seht ... das Wien des Canaletto,
Wien von Siebzehnhundertsechzig ...

Für die spätere Entwicklung Schnitzlers reichte die schwungvolle Deutung des jungen Loris freilich nicht mehr aus. Das Wiener Rokoko, das Canaletto in ebenso kalten wie zarten Halbtönen gemalt hatte, läßt sich gewiß auch im verführerischen Zwielicht von Anatols Bühne, in dem oder jenem Schnörkel seiner Dialoge aufspüren. Aber die Grundspannungen, die Schnitzlers reifes Werk tragen, haben weit eher mit der konkreten Wucht des Barock zu tun als mit der sublimen Eleganz des Rokoko.

Die von Freud wahrgenommene Polarität von Lieben und Sterben etwa macht sich in geradezu barocker Ursprünglichkeit schon im ersten Akt der „Liebelei“ geltend. Die Liebenden beim Mahl, Gesang, Tanz, bis der Tod als dunkler Herr und eifersüchtiger Gatte die Glocke zieht und seinen Schatten über die Sinnenlust des Lebens wirft —: diese dramatische Urbegegnung ist von barocken Kräften getragen. (Siebzehn Jahre später sollte Hofmannsthal den Eingangsszenen seines neubarocken „Jedermann“ ein ähnliches Modell zugrunde legen: Jedermanns Gespräch mit dem Guten Gesellen entspricht der Konversation zwischen Fritz und Theodor; die Buhlschaft, die Jedermann beim Schmaus umarmt, ist ein Inbegriff der gleichen tragischen Illusionen, die Fritz sich über sein süßes Mädel macht; und die Türglocke seiner Wohnung hängt am gleichen Strang wie die Glocken, die vom Turm herunterschlagen, um Jedermann heimzuholen. Sie beide künden einen dunklen Gast. Beinahe will es uns Heutigen scheinen, als sei der unbewußte Traditionalismus Schnitzlers den barocken Ursprüngen der österreichischen Dichtung inniger verpflichtet als Hofmannsthals allzu deutlich beabsichtigter Stilisierungsversuch.)

Wenn in der „Traumnovelle“ der Arzt Fridolin den Prozeß der Verwesung am Leib einer Frau beobachtet, die er noch in der Nacht zuvor begehrt hatte, braucht Schnitzler lediglich aus seinen physiologischen Kenntnissen zu schöpfen, um die metaphysischen Schauer einer zutiefst barocken Vision in die Sprache der Gegenwart zu bannen: „Er sah einen gelblichen, faltigen Hals, er sah zwei kleine und doch etwas schlaff gewordene Mädchenbrüste, zwischen denen, als wäre das Werk der Verwesung schon vorgebildet, das Brustbein mit grausamer Deutlichkeit sich unter der bleichen Haut abzeichnete, er sah die Rundung des mattbraunen Unterleibs, er sah, wie von einem dunklen, nun geheimnis- und sinnlos gewordenen Schatten aus wohlgeformte Schenkel sich gleichgültig öffneten, sah die leise auswärts gedrehten Kniewölbungen, die scharfen Kanten der Schienbeine und die schlanken Füße mit den einwärts gekrümmten Zehen ... Unwillkürlich, ja wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen und geführt, berührte Fridolin mit beiden Händen die Stirne, die Wangen, die Schultern, die Arme der toten Frau; dann schlang er seine Finger wie zu einem Liebesspiel in die der Toten, und so starr sie waren, es schien ihm, als versuchten sie sich zu regen, die seinen zu ergreifen; ja, ihm war, als irrte unter den halbgeschlossenen Lidern ein ferner, farbloser Blick nach dem seinen; und wie magisch angezogen beugte er sich herab.“ [11]

Das anatomische Detail an einer Stelle wie dieser macht dem Naturforscher Schnitzler alle Ehre. Der psychologische Tiefenforscher rückt in ihr das romantische Motiv des Liebestods in das heilsam nüchterne Licht der Neuropathologie. Und dennoch kommt, in zwei unscheinbaren Halbsätzen, überzeugend der Dichter zum Vorschein. Fridolin, heißt es, gebärdet sich „wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen“, und dann: er ließ sich gehen „wie magisch angezogen“. Beide Phrasen stehen in einem kaum verhüllten Irrealis; beide Male schirmt sich der Erzähler durch ein „wie“ (das eigentlich ein „als ob“ ist) vor dem Einbruch einer unheimlichen und unnatürlichen Gewalt ab, die da in die wissenschaftliche Kühle der Anatomie einzubrechen droht. Sind wir aber bereit, Schnitzlers Wort so ernst zu nehmen, wie es der getragene: und weit ausholende Bau dieser großmeisterlichen Prosa von uns verlangt, dann vermögen wir hinter dem Physikum sein Gefühl für die Metaphysik, und durch den Irrealis hindurch seine Ehrfurcht vor dem schlechthin Irrealen wahrzunehmen. Dieses Gefühl und diese Ehrfurcht legitimieren Schnitzler als späten Erben einer literarischen Tradition, die ganz und gar im Österreichischen wurzelt. So vermag er einer gespenstischen Totenkammer alle Bedeutungstiefe eines genuinen memento mori abzugewinnen. Die Flucht vor dem Tod in den Tanz, vor der Vernichtung in den offenen Schoß der Liebe, das ängstliche Lauschen auf die Stundenschläge einer aufgehobenen Zeit und schließlich die Ergebenheit in das Unvermeidliche —: all diese Elemente der Schnitzlerschen Welt sind nichts anderes als psychologisch-analytische Variationsfiguren, ausgeführt über einem in seiner Tiefe barocken Orgelpunkt.

Schnitzlers Biographie wird schwerlich um den Hinweis herumkommen, daß seine ambivalente Haltung gegenüber dem Geheimnis der Welt sein Leben außerordentlich kompliziert hat. Aber die literarische Bewertung seines Werks wird gerade in Anwendung analytischer Methoden auf eine unerschütterlich in sich selbst ruhende menschliche Grundthematik den bleibenden Beitrag Schnitzlers zur europäischen Literatur Europas erblicken. Schnitzler weigerte sich, den Einschlag des Schicksals aus der Kette der Charaktere zu lösen, die er geschaffen hatte. Vor dem Mysterium des Schaffens versagte seine medizinische Einsicht. Das verhinderte ihn, die Tragödie seiner Zeit zu schreiben. Auch gewann er niemals den Abstand zu sich selbst, der es ihm erlaubt hätte, die Komödie hervorzubringen, die seiner Zeit und seinem Temperament gemäß gewesen wäre; und zumindest eine solche Komödie hatten viele seiner Freunde, darunter ein so gewiegter Theatermann wie Otto Brahm, von ihm erwartet. Statt dessen gewann er seine literarische Identität aus einer Mischform, der Tragikomödie. In seiner späten Zeit bezeichnete er das Tragikomische als den eigentlichen Nährboden, auf dem das Drama überhaupt noch gedeihen könnte. Im „Buch der Sprüche und Bedenken“ heißt es: „Daß Verstand und Gefühl auch bei gelegentlicher scheinbarer Übereinstimmung und Versöhnung völlig getrennten Haushalt führen, diese Erkenntnis ist die Atmosphäre, in der die Handlung des modernen Dramas vor sich geht. Was Kleist als die ‚Verwirrung des Gefühls‘ bezeichnet — und bei ihm beginnt das moderne Drama —, könnte man ebensogut Verwirrung des Verstandes nennen. In Wahrheit verwirren sie sich gegenseitig; dies eben ist das Tragikomische, und fast könnte man sagen, daß dort, wo das unbeirrbare Gefühl oder wo das völlige Verstehen anfängt, das Drama mit Notwendigkeit aufhören muß.“

Lediglich in der Tragikomödie fand Schnitzler den Zugang zu den Affären und Verhältnissen seiner Menschen noch unverschlossen. Er hatte als praktischer Arzt begonnen — und das war im Wien jener Tage immer ein Hausarzt; die gleiche Liebe zu den Menschen bewog ihn auch später, von der Bühne und vom Buch aus, sich um ein möglichst perfektes Verständnis des Humanen zu bemühen. Aber um seiner Kunst willen blieb es ihm — nicht anders als dem Forscher Freud — verwehrt, die Skepsis und Desillusion des Verstehens bis auf den Grund der menschlichen Existenz zu verfolgen. Er war ein Moralist in Moll. Gelegentlich fand er die Konfusion des gesellschaftlichen Zustands trübselig und grauenhaft. Dann entschlüpften ihm scharfe Worte gegen „dies Ineinander von Zurückhaltung und Frechheit, von feiger Eifersucht und erlogenem Gleichmut, von rasender Leidenschaft und leerer Lust ...“ Es ist kein Zufall, daß diese Diagnose von einem Arzt gestellt wird, und daß sie am Ende des „Weiten Landes“ fällt, eines Stücks also, das Schnitzler ausdrücklich als Tragikomödie bezeichnet hat. Aber nicht nur ist dieser Doktor Franz Mauer so ziemlich der einzige anständige Mensch des ganzen Stücks, sondern auch der weitaus uninteressanteste. Dem Doktor, dem Psychologen, dem Wissenschaftler und Moralisten kommt im Gesamtwerk Schnitzlers höchstens der Platz zu, den im antiken Drama der Chor einnimmt: als wissender Zeuge eines unerbittlich absurden Schicksals zu fungieren. Dies wird besonders deutlich in jenem Drama, in dem ein Mediziner die Hauptrolle spielt: Professor Bernhardi geißelt in der gleichnamigen Komödie aus dem Jahre 1912 den Aberglauben, die Intoleranz und vor allem den Antisemitismus seiner Zeit. Aber das macht ihn noch lange nicht zum Helden des Stücks; er ist einfach der Führer des Chors, der, er weiß selbst nicht wie, in die Mitte der Szene geraten ist.

Der Dichter Arthur Schnitzler war ein guter Arzt. Stück um Stück, Buch um Buch stellte er die tragikomische Verwirrung fest, die über die Menschheit hereingebrochen war. Er analysierte die Psyche einer dem Untergang bestimmten Gesellschaft, weil er den epidemischen Charakter der Neurosen fürchtete, die hier gebrütet wurden. Aber er war zu sehr eins mit den Gestalten, die er schuf, um sie, wie seine Nachfolger auf dem Gebiet der Tragikomödie — Jean Cocteau etwa, Tennessee Williams, Samuel Beckett — von oben her bloßzustellen und einem über sich selbst erschrockenen Gelächter preiszugeben. An ihren Betten, welche Betten der Liebe und des Todes waren, verweilte er lange und litt. Er wußte um ihr Geheimnis, und da er es wußte, bewahrte er es.

Der zutiefst bewegende und bezeichnende Zug im Geburtstagsbrief Sigmund Freuds lag darin, daß der Psychoanalytiker das Hauptmerkmal verschwieg, das er mit seinem Doppelgänger im Reich der Dichtkunst teilte. Weder er noch Schnitzler sprachen gerne über das Mitleid, von dem sie erfüllt waren und das sie vollbringen hieß, was sie vollbrachten.

[5Eine eingehendere Deutung von „Leutnant Gustl“ gebe ich im Nachwort zur Schulausgabe der Erzählung (Frankfurt, S. Fischer, 1962).

[6Oskar Seidl in: Der Briefwechsel Arthur Schnitzler—Otto Brahm (Berlin, Gesellschaft für Theatergeschichte, 1953), S. 28.

[7Ernest Jones: The Life and Work of Sigmund Freud, vol. 3 (New York, Basic Books, 1957), S. 84.

[8Als dieser Untergang dann vollends Wirklichkeit geworden war, vermochte Schnitzler auf das Duell geradezu mit ironischer Wehmut zurückzublicken. In der exquisiten Erzählung „Der Sekundant“, die während seiner letzten Lebensjahre entstanden ist und erst 1932 posthum veröffentlicht wurde, erinnert sich der Erzähler der guten alten Zeit, da er dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war und schon an sieben Duellen teilgenommen hatte:

... das Leben war schöner, bot jedenfalls einen edleren Anblick damals — unter anderem gewiß auch darum, weil man es manchmal aufs Spiel setzen mußte für irgend etwas, das in einem höheren oder wenigstens anderen Sinn möglicherweise gar nicht vorhanden oder das wenigstens den Einsatz, nach heutigem Maß gemessen, eigentlich nicht wert war, für die Ehre zum Beispiel oder für die Tugend einer geliebten Frau oder den guten Ruf einer Schwester, und was dergleichen Nichtigkeiten mehr sind ... Im Zweikampf hat doch immer das eigene Belieben mitzureden gehabt, auch dort, wo es sich scheinbar um einen Zwang, um eine Konvention oder um Snobismus handelte. Daß man überhaupt mit der Möglichkeit oder gar der Unausweichlichkeit von Duellen innerhalb eines gewissen Kreises wenigstens rechnen mußte, — das allein, glauben Sie mir, gab dem gesellschaftlichen Leben eine gewisse Würde oder wenigstens einen gewissen Stil. Und den Menschen dieser Kreise, auch den nichtigsten oder lächerlichsten, eine gewisse Haltung, ja den Schein einer immer vorhandenen Todesbereitschaft ...

Zitiert nach dem zweiten Band der von Heinrich Schnitzler besorgten Erzählenden Schriften seines Vaters (Frankfurt, S. Fischer, 1961), S. 882.

[9„In dreams begin responsibilities“ (The Collected Poems of W. B. Yeats, New York, Macmillan, 1951), S. 98.

[10Theodor Reik: Arthur Schnitzler als Psycholog (Minden, Bruns, 1913), S. 217 ff.

[11Wie das Duell-Motiv reicht auch das Thema der Liebe in der Anatomie weit in Schnitzlers Lehrjahre als Mediziner und Schriftsteller zurück. Siehe die Phantasie „Frühlingsnacht im Seziersaal“ aus dem Jahre 1880 (neugedruckt im Jahrbuch Deutscher Bibliophilen, XVII/XIX).

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