FORVM, No. 101
Mai
1962

Diagnose und Dichtung

Vor vierzig Jahren, am 15. Mai 1922, erhielt Arthur Schnitzler einen Glückwunschbrief zu seinem sechzigsten Geburtstag. Der Gratulant grüßte Schnitzler mit uneingeschränkter Zustimmung als einen „psychologischen Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war“. Und erwies sich im Besitze der gleichen Scharfsicht, die er an seinem Gegenstand gerühmt hatte, als er Tiefe und Weite von Schnitzlers Wesen und Lebenswerk umriß: „Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis — was die Leute Pessimismus heißen — Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewußten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.“ Diese Vertrautheit erklärt sich zunächst aus dem Umstand, daß der Briefschreiber aus ähnlichen Verhältnissen stammte wie der Adressat, der gleichen Umwelt ausgesetzt war und ähnliche Enttäuschungen erlitten hatte. Darum konnte er sich auch nicht enthalten, seinen Glückwunsch in Worte von kaum verhüllter Resignation ausklingen zu lassen. „Wenn Sie nicht das wären, was Sie eben sind,“ schrieb er, „hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht“. [1]

Daß der Schöpfer der Psychoanalyse ihn dergestalt erkannt und anerkannt hatte, muß diesen Geburtstagsbrief für Arthur Schnitzler zu einem der kostbarsten Geschenke gemacht haben, die er an jenem Tag erhielt. Aber Freud begnügte sich nicht mit einem Anerkennungsschreiben. Wie konnte es geschehen, fragte er in dem gleichen Brief, daß er, Freud, niemals persönlich dem Mann begegnet war, der ihm selbst so sehr ähnelte, dem Schriftsteller, dessen Wege und Ziel seinen eigenen so offenkundig verwandt waren, dem geistigen Weggefährten und persönlichen Leidensgenossen, dem Wiener? Sie hatten den Großteil ihres Lebens beinah als Nachbarn verbracht, und Freud war mit Schnitzlers Bruder Julius, dem Chirurgen, gut bekannt. Arthurs Name war ihm schon im Jahre 1893 aufgefallen; sein Tagebuch erwähnt ihn als Kritiker der Übersetzung, die Freud von den „Leçons du Mardi“ Charcots angefertigt hatte. Warum also hatte er, der um sechs Jahre ältere, niemals die Initiative ergriffen und den Schriftsteller aufgesucht, dessen Werk seine eigenen wissenschaftlichen Forschungen und Funde auf dem Gebiete der geliebten Literatur so nachdrücklich zu bestätigen schien?

Freud wäre nicht Freud gewesen, hätte er diese Selbstbeobachtung nicht mit einer Selbstdeutung begleitet. Am Grunde seiner Zurückhaltung, bekannte er, lag Doppelgängerangst. In seiner Arbeit über „das Unheimliche“ aus dem Jahre 1919 hatte Freud der Zwiespältigkeit, die dem Motiv des Doppelgängers innewohnt, beträchtlichen Raum gewährt; hatte zu zeigen versucht, wie diese Gestalt sich aus einer „Versicherung gegen den Untergang des Ich“ in einen „unheimlichen Vorboten des Todes“ umgewandelt hatte. [2] Undenkbar, daß Freud nicht Schuberts Vertonung von Heines „Doppelgänger“ gekannt hätte, dieses dämonisch-skurrile Tongedicht, in dem, jenseits des Worts, der Verlust der Geliebten zum Verlust des Ich wird, das sich selbst als Gespenst ins Antlitz grinst. Das Eingeständnis seiner Doppelgängerangst bedeutete für Freud zugleich das Bekenntnis des formidablen Widerstands, den er einer Begegnung mit dem Schriftsteller entgegensetzte.

Durch seine Selbstdeutung schien Freud diesen Widerstand zunächst überwunden zu haben. Der Gratulationsbrief war mit einer Wärme und Unbedingtheit geschrieben, als hätte Freud selber die Freiheit genossen, die er durch sein Bekenntnis Schnitzler gegenüber gewonnen hatte. Einer Begegnung stand nun nichts mehr im Wege; am 16. Juni 1922 war Schnitzler der einzige Nachtmahlgast im Hause Freuds, und zwei Monate später, am 16. August, besuchte er ihn in Berchtesgaden, wo Freud zur Sommerfrische weilte. Wir wissen nicht, was bei diesen Gelegenheiten gesprochen wurde; aber es ist unverkennbar, daß Freud niemals völlig mit Schnitzler ins Reine kam. Obwohl man Schnitzler berichtete: „Freud spreche so viel von mir, ich solle ihn wieder besuchen“, blieb die Beziehung zwischen dem Forscher und dem Schriftsteller auf den Austausch ihrer jeweils neu erschienenen Bücher beschränkt. Am 19. Dezember 1923 traf man sich, einmal noch, zufällig auf einer Straße im ersten Bezirk. [3]

Daß Freud seinen dichtenden Zeitgenossen als Psychologen anerkannt hat, ist ein guter Ausgangspunkt, um Schnitzler anläßlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages zu würdigen. Unsere Würdigung wird uns freilich bald ins Dichterische führen, dem sich Schnitzler im wahren Sinn des Wortes (sogar in dem des Rezepts) verschrieben hatte. Und sie wird uns nicht nur einen gelegentlichen Blick auf das Grenzgebiet eröffnen, das sich zwischen Dichtung und Psychologie ausbreitet: am Ende werden wir auch Freud selbst im Licht der Schnitzler’schen Dichtung ein wenig klarer zu sehen vermögen.

Was Freud an Schnitzler vor allem auffiel, war dessen Determinismus. Dieser Determinismus bildete in der Tat ein Bindeglied zwischen dem Doktor und dem Dichter, und man wird nicht umhin können, den Grund hiefür in der medizinischen Ausbildung zu suchen, die beide Männer durchlaufen hatten. Schnitzlers Vater, selbst ein Arzt von beträchtlichem Ruf, hatte den Sohn zum Medizinstudium angehalten, und Arthur Schnitzler schlug desgleichen die ärztliche Laufbahn ein. Aber auch nachdem er seine Praxis aufgegeben hatte und sich nur noch schriftstellerisch betätigte, betrachtete er sich weiter als Naturwissenschaftler. Er hatte als Assistent in der Klinik von Freuds Lehrer Meynert gearbeitet, und es war nur natürlich, daß er die damals herrschende Lehrmeinung übernahm, derzufolge der menschliche Wille vorbehaltlos den Diktaten von Körper und Seele untergeben war. Beinahe klingt es wie ein Glaubensbekenntnis des Unglaubens, wenn Schnitzler seine frühe Erzählung „Der Sohn“ (1892) mit dem Satz beschließt, es sei „noch lange nicht klar genug, wie wenig wir wollen dürfen und wieviel wir müssen“.

Im übrigen faszinierte ihn — der zwei Jahre nach Schopenhauers Tod geboren worden war — nicht so sehr die Welt als Wille und Vorstellung, sondern das Ich als Inbegriff der Instinkte und Illusionen. Sein Interesse an der Hypnose als einem Heil- und Erkenntnismittel, das er mit dem jungen Freud teilte, mußte ihn unweigerlich von philosophischen Abstraktionen fortführen und ihn zur Erforschung der menschlichen Seele hinlenken. Die vorgestellte Welt trat zurück hinter dem Ich, das sie sich vorstellte. An die Stelle philosophischen Erkennens trat das menschliche Verstehen seiner selbst und des Anderen. Noch 1927 konnte er in seinem „Buch der Sprüche und Bedenken“ anmerken: „Ein Schicksal mag äußerlich abgetan sein, es bleibt immer noch Gegenwart, solange wir es nicht völlig verstanden haben. Erst wenn es geheimnislos für uns wurde, haben wir das Recht, es Vergangenheit zu nennen.“ Dies ist eine literarische Variation des Themas, das der Psychoanalytiker angeschlagen hatte. Obwohl Schnitzler sich an einem bestimmten Punkt seiner Laufbahn für den Beruf des Schriftstellers entschied, wurde und blieb er, was er von Anbeginn gewesen: ein doctor poeta.

Er entstammte dem gebildeten Wiener Mittelstand, dessen Liberalismus gerade während der Lehrjahre Schnitzlers einer schweren Bewährungskrise ausgesetzt war. Der amerikanische Historiker Carl E. Schorske hat erst kürzlich in einer überaus lesenswerten Studie gezeigt, daß die Krise des Wiener Bürgertums in den Jahren um die Jahrhundertwende jene Zweifel an der eigenen Identität ausbrütete, die das Selbstbewußtsein des Liberalismus in aller Welt seither heimgesucht haben. [4] Man darf annehmen, daß die Nerven dieser Wiener Bürger das „Zeitalter der Angst“ (W. H. Auden) Jahrzehnte vor ihren Vettern in Deutschland und im übrigen Europa zu spüren bekamen — eine Wahrscheinlichkeit, die zur schmerzlichen Gewißheit wird, wenn diese Liberalen, wie im Fall Schnitzlers und Freuds, außerdem noch dem Judentum entstammten. Im „Schlaflied für Mirjam“ hatte Schnitzlers Freund Richard Beer-Hofmann das Einsamkeitsgefühl seiner Generation in die Worte gefaßt: „Keiner kann Keinem Gefährte hier sein.“ Dennoch bleibt der Unterschied zu vermerken, daß diese jungen jüdischen Bürger Wiens lediglich einsam waren und noch nicht ausgesetzt. Das Wien Kaiser Franz Josephs war zugleich weniger und mehr als die Weltstadt, zu der es der Gründerstil seiner Bourgeoisie zu prägen versuchte. Es hatte sich die Intimität, die Fensterguckerei und die freundfeindliche Nachbarlichkeit einer immensen Kleinstadt bewahrt. Die Konflikte, an denen das Wiener Bürgertum jener Zeit nicht ohne Genuß krankte, waren zutiefst Familienkonflikte.

Indem Schnitzler begann, die menschliche Seele als einen Spielplatz der Instinkte zu erschließen, konnte er gar nicht umhin zu zeigen, daß das, was hier gespielt wurde, von der Gesellschaft selbst angezettelt worden war und in aller scheinbaren Unbekümmertheit seinerseits wieder der Gesellschaft zum Abbild diente. Auf Illusionen gegründet, erwiesen diese Komödien, daß die Gesellschaft, die sich in ihnen darstellte, sich selbst zur Illusion zu werden drohte.

Der Anatol von 1890 nennt sich einen „leichtsinnigen Melancholiker“. Sein innerster Beruf ist die Selbstbeobachtung. So amüsiert wie verständnislos sieht er dem Wunderwerk zu, das seine eigenen Launen und Neigungen in Bewegung erhält. Da diese Launen aus halben Wünschen, diese Neigungen aus halben Trieben bestehen, ist es ihm unmöglich, sie je zur Gänze zu befriedigen. Er wünscht das auch gar nicht, da es ja die eigene Unerfülltheit ist, die ihn von einem Abenteuer zum nächsten gleiten läßt. Dieses Gefühl des Gleitens empfindet Anatol — nicht ganz korrekt — als Getriebenwerden, als Triebhaftigkeit. Das Leben liegt draußen, vielleicht auf dem Land, wo die Seelen noch wachsen wie das Gras, unbeobachtet und nicht zu beobachten. Und es ist sehr wienerisch, daß das Land sich bis tief in die Vorstädte hinein erstreckt, in jene Gegend, aus der dann auch prompt das „süße Mädel“ hervortritt, angezogen von den raffinierten Parfüms und künstlichen Reflexen einer Stadt, die sich an der Dekadenz des fin de siècle nicht genug tun kann.

Wenn die Dame Gabriele Anatol nach seinem süßen Mädel fragt, so gilt seine Beschreibung zunächst ganz und gar nicht dem Wesen, das er umarmen wird, bevor der Tag zur Neige gegangen ist: „Also — denken Sie sich ein kleines dämmeriges Zimmer — so klein — mit gemalten Wänden — und dazu noch etwas zu licht — ein paar alte, schlechte Kupferstiche mit verblaßten Aufschriften hängen da und dort — eine Hängelampe mit einem Schirm vom Fenster aus, wenn es Abend wird, die Aussicht auf die im Dunkel versinkenden Dächer und Rauchfänge ... Und wenn der Frühling kommt, da wird der Garten gegenüber blühn und duften ...“ Man sieht: was ihn fesselt, ist ein Milieu. Der Feinheit seiner Nerven verfallen, genießt er den haut goût des Unfeinen der „schlechten Kupferstiche“. Das Derbe verbürgt Leidenschaft, die aber weislich gezähmt ist: der Frühling bleibt draußen und „gegenüber“. Anatol hält sich seine vom Milieu beherrschte Leidenschaft in einer Vorstadtkammer; dort ist er vor ihr sicher, wenn er mit dem Wunderwerk seines eigenen Ichs allein sein will. Im „Reigen“ ist es dem süßen Mädel dann erlaubt, in der Stadt aufzutauchen, doch nur, um sich zuerst dem „Gatten“ und dann dem „Dichter“ zu ergeben. Und obgleich man in diesem Dichter Biebitz eher einen Gast des Café Griensteidl zu sehen hat als einen Besucher der mondäneren Salons, die Anatol frequentiert, teilt er mit Anatol die Vorliebe für die Kühle des Gefühls und die Ferne der Natur. So faßt Biebitz seine Begegnung mit dem süßen Mädel in drei Worte zusammen, die treffender gar nicht hätten ersonnen werden können: „Wie blöd! Göttlich ...“ Was der halb affektierte, halb unbewußte Ausruf vor allem trifft, ist des Mannes Ambivalenz gegenüber dem Genuß seiner eigenen Sinne. Verachtung und Bewunderung sind selbstzerstörerisch in eins verknüpft. Das Erwachen ist dann ein geradezu monumentaler Katzenjammer.

Die erotischen Szenen, die der junge Schnitzler geschrieben hat, sind nicht nur auf überaus komische Weise zart; sie sind — wohl noch nicht mit dem vollen Wissen ihres Autors — zugleich die beißendste Kritik an der doppelten Geschlechtsmoral im Europa des Vorkriegs. Diese jungen Melancholiker umarmen in ihren Geliebten nicht Frauen, sondern Typen. Christines Tragödie in der „Liebelei“ entzündet sich am Versuch eines Vorstadtgeschöpfes, das Eigenrecht einer liebenden Frau an einem jungen Bürgerssohn geltend zu machen, dem sie sich als Typus vorgestellt und gegeben hat, als süßes Mädel nämlich und nicht als Wesen aus Fleisch und Blut.

Eine gewisse poetische Gerechtigkeit ergibt sich aus Anatols Selbsterkenntnis: „Ich bin ja auch ein Typus.“ Er ist der verwöhnte Sohn einer selbstgenießerischen Kaste, das Sprachrohr ihrer Vorurteile, die er in der Tonart der Ironie wiederholt. Leicht gesättigt, weil seine und seiner Freunde Seele leicht eingeschrumpft ist, findet er wenig Sinn in sinnvollem Tun. Er folgt der Geschlechtsmoral seiner Zeit, wenn er den Frauen nachsteigt. Und es ist die Gesellschaft selbst, die wie Löschpapier seine Willenskraft aufsaugt; sie zerfranst sein Leben und verschleißt es in der Ungestalt müßiger Reflexionen über die Grenzen, die dem freien Willen des Menschen gesetzt sind. Gewiß, Anatol ist vor allem spielerisch; aber ihm wird dabei genau so übel mitgespielt, wie er selbst mitspielt. Die einzige Aktion, die ihm am Ende freisteht, ist der Sexualakt. Darum betreibt er auch die Verführung als l’art pour l’art. Er ist der Ästhet des Schlafzimmers.Wenn er mit der Geliebten aufs Sofa sinkt, zieht er vor der Wirklichkeit die Vorhänge zusammen.

Schnitzler entschuldigt seinen Anatol nicht (wobei allerdings fraglich bleibt, wie sympathisch zur Zeit ihrer Schöpfung die Figur dem Schöpfer gewesen sein mag). Er hält ihn einfach unter Beobachtung und besitzt schriftstellerischen Takt genug, die Diagnose des Falls zu unterdrücken. In „Anatols Größenwahn“ jedoch, dem Alternativ-Schluß der ganzen Reihe, nennt ein recht bittersüßes Mädel den leichtsinnigen Melancholiker plötzlich „so einen Alten“. Mit sanftem, aber unzweifelhaftem Nachdruck fällt der Vorhang über das Spiel vom letzten echten Don Juan. Von diesem Aktschluß aus verstehen wir auf einmal Anatols in der Luft hängende Aperçus, seine charmanten Fehlleistungen und allzu raschen Antworten, die vielen beziehungsreichen Gesprächspausen, in denen er sich gefällt, und die Erklärungen, die diese Lücken niemals füllen: all dies erfassen wir als Äußerungen seiner Angst. Am Ende des ersten weltberühmten Stücks Arthur Schnitzlers taucht der alternde Liebhaber auf, eine Gestalt von tragikomischem Zuschnitt. So wurde Anatol das Sinnbild einer Stadt, eines Staates und einer Kultur, die sich anschickten, mit offenen Augen ihren „farbenvollen Untergang“ (Stefan George) zu erleben.

Wie die Bürger in Schnitzlers neuromantischem „Schleier der Beatrice“ lebt auch Anatol in einer belagerten Stadt. Die frühen Lustspiele und das spätere Schauspiel stehen gleicherweise unter dem anscheinend hedonistischen Motto:

Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit,
Und noch der nächste Augenblick ist weit!

Aber der Herzog Beatrices, dem dieser Aphorismus entschlüpft, als wäre er noch Anatol, neigt sich dabei über die Leiche einer Braut, die er nie berührt, und die Leiche eines Freundes, mit dem er nie gesprochen hat. Des Lebens Fülle ist der Gewinst gestundeter Zeit. Der Herzog Lionardo Bentivoglio wird aus der umzingelten Stadt ausbrechen in die einzige Freiheit, die sich von einem wie ihm noch gewinnen läßt: in den Tod und das Nichts. Mag Anatol auch nicht im Blankvers gesprochen und nie ein Renaissanceschwert gesehen haben: seine Gier, den Augenblick gerade noch zu erhaschen und im Augenblick ein Fünkchen seines verwehten Ich zu erspähen, ist nichts als die Neugierde nach einer längst verwirkten Zeit.

Anatol streckt die Arme aus und nennt die Geste Umarmung. In Wahrheit tastet er verzweifelt nach einem Halt, der ihn vor Alter und Untergang bewahren soll.

Freud war weder der erste noch der letzte, der im Werk Schnitzlers die „Polarität vom Lieben und Sterben“ entdeckt hatte, jenes Doppelspiel von Eros und Thanatos, das gleichsam organisch die Gestalt des alternden Liebhabers erzeugt. Ist doch der Tod sogar gegenwärtig, wenn Schnitzler mit wissenschaftlichem Détachement und einer beinahe unerschütterlichen Skepsis den Geschlechtsakt selbst zum Träger des dramatischen Geschehens erhebt. Die zehn Szenen des „Reigens“ führen die Wiener Gesellschaft insgesamt im Liebesspiel vor, als handelte es sich um die Hochzeitsflüge und Paarungszeremonien einer seltenen Art von Insekten. Oberflächlich unterscheiden sich die Intentionen Schnitzlers wenig von der Wissenschaftlichkeit des Kinsey-Reports, obwohl ihnen zu ihrem und unserem Glück die tödliche Ernsthaftigkeit des amerikanischen Entomologen abgeht.

Die Struktur dieses Liebesreigens ist der des mittelalterlichen Totentanzes frappant nachgebildet. Wie dort Freund Hein Bild nach Bild seine Opfer ohne Ansehen ihres Ranges, Standes oder Verdienstes umwirbt, so unterwirft im „Reigen“ das Geschlecht mit einer ebenso stereotypen wie herrscherlichen Gebärde sein Gefolge. In diesen losen Szenen wird die Liebe als Gesellschaftsspiel betrieben. Denn wieder ist es die Gesellschaft, die der Verführung des Geschlechts Vorschub leistet, indem sie ihr die Anziehungskraft des Tabus verleiht. Verbotene Lust wird zur Ausflucht aus einer unbefriedigenden Wirklichkeit. Zugleich aber ist Liebe zur Zerstreuung geworden, die Liebenden vertreiben sich die Zeit, indem sie sich (und ihr Selbst) zerstreuen. Sie vertreiben sich die Zeit, um zu vergessen, daß ihr Leben vergeht. Uhren schlagen im „Reigen“ und mahnen an den Aufbruch. So tauchen die Liebenden aus der Umarmung empor; das Tier ist trist und zutiefst aufgebraucht; so gleiten sie von einer Figur ihres Tanzes in die andere, von einem Partner zum nächsten, getrieben von dem quälenden Verdacht, daß in diesem Spiel auch der Sieger geschlagen ist.

nächster Teil: Diagnose und Dichtung (II)

Diesem Aufsatz liegt die englische Originalfassung eines Vortrags zugrunde, den Heinz Politzer an der University of California (Berkeley), wo er als Professor für deutsche Literaturgeschichte wirkt, anläßlich der dortigen Schnitzler-Gedenkfeier am 15. Mai halten wird.

[1Sigmund Freud: Briefe 1873-1939 (Frankfurt, S. Fischer, 1960), S. 339-340.

[2Sigmund Freud: Gesammelte Schriften (Leipzig, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1924) Band X, S. 387. Siehe auch Herbert I. Kupper und Hilda Rollman-Branch: „Freud und Schnitzler — Doppelgänger“ (Journal of the American Psychoanalytic Association 1959), VII, S. 109-126.

[3Sigmund Freud: Briefe an Arthur Schnitzler, „Die Neue Rundschau“, 1955, Nr. 66, S. 95-106. — Die Anmerkungen zu diesen Briefen stammen von Heinrich Schnitzler, der auch die Grundlagen zu einer Bibliographie der Beziehungen zwischen seinem Vater und Freud beisteuerte; ich bin ihm in bezug auf die vorliegende Arbeit für seine Ratschläge, Korrekturen und Informationen zu tiefstem Dank verpflichtet.

[4Carl E. Schorske: „Politics and the Psyche in Fin de Siècle Vienna / Schnitzler and Hofmannsthal“ American Historical Review 1961, LXVI S 930-946.

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