FORVM, No. 98
Februar
1962

Die Dollfuß-Story

Um heute behaupten zu können, es hätte in den Dreißigerjahren einen österreichischen Regierungspolitiker gegeben, der ein brauchbares Konzept hatte, müßte man eine Legende schaffen. Diesen Versuch hat der englische Journalist Gordon Shepherd unternommen. [*] Der Versuch ist mißlungen.

Gewiß ist es für einen Österreicher schwer, der Vergangenheit seines Landes objektiv gegenüberzutreten. Der Engländer Shepherd hätte hier eine Chance gehabt. Er hat sie nicht genützt. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine ist die politische Anschauung Shepherds: er hält nicht viel von Freiheit, Demokratie und Parlament in Ländern außerhalb Englands. Der andere Grund liegt darin, daß Shepherd kein Historiker, sondern Journalist ist. Es geht ihm um die Story und nicht um die historische Wahrheit.

Engelbert Dollfuß hatte Eigenschaften, die ihn zum Helden einer Story prädestinieren. Das illegitime Bauernkind bringt es zum höchsten Amt des Landes und fällt dann einem Attentat zum Opfer. Etwas ist dabei noch nötig: die Unschuld des Opfers. Shepherd gesteht offen, wie er zu diesem Requisit seiner Story kam. Was er über Dollfuß weiß, hat er von dessen Freunden, politischen Verbündeten und Mitarbeitern erfahren. So entsteht ein recht farbiges Bild, besonders was den ungemeinen Ehrgeiz und die Eitelkeit des Helden betrifft. Die historische Wahrheit kommt jedoch dabei zu kurz.

Es fällt auf, daß Shepherd keinen einzigen Beleg für ein Ereignis oder eine Rede anführt. Erst im letzten Teil, der vom Nationalsozialismus handelt, beschäftigt er sich mit den Quellen, sogar mit neuen, und dieser Teil ist auch der interessanteste.

Einige Kritiker haben Shepherd falsche Jahreszahlen und verschriebene Namen vorgehalten, andere seine politische Gesinnung. Schlimmer ist, daß er versucht, die Geschichte umzuschreiben. Nehmen wir gleich die erste Aktion, durch die Dollfuß in Erscheinung trat. Im Oktober 1930 wurde er vom damaligen Kanzler Vaugoin zum Präsidenten der Bundesbahnen ernannt. Gordon Shepherd schreibt: „Am 1. Oktober 1930, zur Zeit der Krise bei den Bundesbahnen, wurde er (Dollfuß) zum Präsidenten gewählt. Sein wohlbekannter Reformeifer und seine ebenso notorisch reinen Hände schienen ihn zum Retter zu bestimmen ...“ Die Vorgeschichte dieser Ernennung wird von Shepherd mit keinem Wort erwähnt. Am 25. September war die Regierung Schober gefallen — über die Bundesbahnen und einen Mann namens Strafella. Die Bundesbahnen waren den Christlichsozialen seit langem unsympathisch, denn ihre Personalvertretungen waren sozialistisch. Im konservativen Lager wußte man, daß ein Streik der Eisenbahner das Rückgrat eines Generalstreiks ist. In Graz hatte sich Strafella einen Namen gemacht, indem er die Gewerkschaft der Grazer Straßenbahner zerschlug. Dies schien für Seipel und Vaugoin die geeignete Qualifikation für die Führung der Bundesbahnen. Daß Strafella in den Monaten vorher durch Aktienkäufe zum größten Privatbahn-Eigentümer geworden war, störte nicht.

Die „Arbeiter-Zeitung“ brachte damals eine kurze Biographie des Mannes und gebrauchte dabei die Worte „unsauber und unkorrekt“. Strafella klagte und verlor den Prozeß. Schober weigerte sich daraufhin, Strafella die Bundesbahnen auszuliefern. Die Regierung fiel. Fünf Tage später wurde Vaugoin Kanzler und ernannte Dollfuß zum Präsidenten der Bundesbahnen. Dollfuß bestellte Strafella zum Generaldirektor.

Shepherd erwähnt die politische Bedeutung der ganzen Affäre nicht. Nach seiner Darstellung ging es um die Säuberung eines korrumpierten Unternehmens. In Wahrheit ging es um’s Gegenteil.

Shepherd geht es um die Story. Sein Held soll reine Hände haben, und der Gegenspieler muß ein Teufel sein. Den Teufel spielt Otto Bauer.

Dollfuß war kein wirklicher Diktator. Dazu fehlte es ihm an Größe, dazu war er zu abhängig von seiner Umgebung, von den Führern der Heimwehr. Er war bloß Initiator der Diktatur. Unterdessen haben wir in der Zweiten Republik jenes Konzept gefunden, das der Ersten gefehlt hatte: die Zusammenarbeit der beiden großen Parteien. Man hat sich von der Vergangenheit distanziert. Die seltsame englische Lobeshymne auf die Diktatur kommt glücklicherweise zu spät.

[*Gordon Brook Shepherd: Engelbert Dollfuß (Styria Verlag, Graz).

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