MOZ, Nummer 57
November
1990
Multikulturelle Gesellschaft:

Droht das Wagenburg-Modell?

Von links nach rechts: Hans Christoph Buch, Ulrike Sladek, Rainer Bauböck und Rolf Schwendter

Von der Weltwirtschaft zur Weltkultur scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein. Wie steht es um das Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander der verschiedenen Kulturgemeinschaften? Darüber diskutierten
Rainer Bauböck, Migrationsforscher am Institut für Höhere Studien in Wien;
Hans Christoph Buch, weltreisender Schriftsteller;
Rolf Schwendter, Devianz- und Subkulturforscher an der Gesamthochschule Kassel.
Ulrike Sladek begleitete das Gespräch.

MONATSZEITUNG: Die multikulturelle Gesellschaft ist in aller Munde. Ein Begriff, der so breit angesetzt ist, daß jede/r etwas anderes darunter verstehen kann. Was bedeutet für Sie multikulturelle Gesellschaft?

Buch: Mich erinnert das Wort an postmodern, was auch alles und nichts bedeutet. Das Gegenteil, nämlich monokulturell — unikulturell wäre korrekter —, bedeutet eine Gesellschaft und eine Kultur, die nur sich selbst kennt und sich selbst genügt. Schon die Annahme einer autarken Kultur ist wahrscheinlich falsch, denn auch die griechische, die athenische Kultur hat ihre Wurzeln in Kleinasien und setzte die ägyptische fort. Multikulturell würde in meinem Verständnis eine Kultur heißen, in der es keine Mehrheit mehr gibt, sondern nur noch Minderheiten. Und das ist z.B. in New York schon lange der Fall, wo die weißen angelsächsischen Protestanten (WASP) die Mehrheit verloren haben. Das hat Folgen für deren Selbstverständnis und für das politische Leben insgesamt.

Die Deutschen tun sich mit einer solchen Entwicklung schwer. Die Mehrheit der Bevölkerung und sogar die Intellektuellen gehen noch immer davon aus, daß Deutschland ein nur von Deutschen besiedeltes Land ist. Aber daß das gar nicht natürlich und notwendigerweise so ist, sondern daß die Deutschen eines Tages eine Minderheit unter vielen sein werden — und ich denke, die Entwicklung geht dahin —, das haben sehr wenige verstanden.

Schwendter: Ich ziehe es vor, von einer Vielfalt von Sub- und Teilkulturen verschiedenster Art, Prägung und Zusammensetzung zu sprechen. Ich halte deren Zusammenfassung als ‚multikulturell‘ für eine von vielen weitgehenden Verschleierungen seit 1965. Der Begriff multikulturell unterstellt zum einen, daß diese Vielzahl der Sub- und Teilkulturen ab Durchsetzung dieses Begriffs gleichberechtigt seien. Dies ist nicht der Fall, auch in New York nicht.

Der Begriff ist zweitens problematisch, da er den Begriff der Kultur, wie es althergebracht ist, auf Nationen, und sei es auf Nationen im Ausland, bezieht. Es ist die Rede von Deutschen, von Jugoslawen, von Türken, von Österreichern, aber es ist nicht mehr die Rede von Bohemiens, von Punks, von Skinheads, obwohl ich die persönlich weniger schätze, von Ökologisten, von Feministinnen usf. Das kann zur Folge haben, daß es — wie in Kassel geschehen — zu einem hegemonialen Zusammenschluß kommt von einerseits Franz Josef Strauß-Deutschen und andererseits von islamischen Kulturvereinen, die in Kassel 7 von 11 Sitzen im Ausländerbeirat bekommen haben. Man kann das dann multikulturell nennen, wenn sich die deutschen Konservativen und die türkischen Konservativen die Hände über die jeweils abweichenden Subkulturen reichen. Aber ich halte das für problematisch.

Bauböck: Wir erleben am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Brüchigwerden der bisherigen sozialen und ökonomische Voraussetzungen für homogene Nationalismen. Jener Nationalismus beruht darauf, daß es ökonomische und staatliche Interventionen gegeben hat, um Kulturgemeinschaften zu schaffen, eine Intervention, die z.B. mit dem Instrument der Pflichtschule eine für das ganze Volk geltende Standardbildung sicherstellen sollte.

Mit der Globalisierung der Ökonomie gibt es neue Kulturmuster, die überhaupt nicht mehr national sind, sondern eher global, urban, wie die gerade angesprochenen Subkulturen. Und es gibt andererseits sehr kleine, segmentierte kulturelle Bereiche, die ebenfalls nicht identifizierbar sind mit einer Nation als Kulturgemeinschaft. Der Nationalismus hat eine Vorstellungswelt geschaffen, die noch immer an „Ein Staat — eine Kultur“ festhält, die noch nicht überwunden ist, und dies ist auch die Legitimation für politische Herrschaft. Das ist das Dilemma der Deutschen, daß ihr Nationsbegriff stärker als fast jeder andere auf die Kulturgemeinschaft abgestellt ist und nicht auf die politische Gemeinschaft.

Die Gegenströmung zum Nationalismus wäre eine Trennung von Kultur und Staat. Die vielfachen kulturellen Identitäten von Gruppen, von Individuen sollen in dieser Sicht von vornherein nichts mit ihrem sozialen, politischen, ökonomischen Status zu tun haben. Das Dilemma der Unverträglichkeit von kulturellen Grenzen entsteht genau dann, wenn eine Subkultur verknüpft ist mit einem bestimmten Unterschichtstatus.

Zwischen diesen Polen Realität und Utopie bewegt sich ein Diskurs der Verschleierung, in dem zwei große unterschiedliche Vorschläge von multikultureller Gesellschaft wahrgenommen werden können:

Gerd Koenen formulierte im „Pflasterstrand“ 3/90: Multikulturelle Gesellschaft kann nicht anders entstehen als mit der scharfen Pisse des Rassismus gedüngt. Das ist eine Vision von offenen Grenzen, des Rückzugs des Nationalstaates. Offene Grenzen führen jedoch keineswegs zum Ende von ethnischer und rassischer Diskriminierung. Im Gegenteil. Die Konkurrenz am Markt kann auch mit solchen Zuschreibungen funktionieren. Die Gesellschaft würde dann nicht mehr über den Staat, sondern über die freie Marktwirtschaft integriert. Diese Vorstellung halte ich für sehr bedenklich, da sie bewußt davon abstrahiert, wie unterschiedlich die Positionen dieser Akteure am Markt sind.

Die zweite Position ist die Idee, daß die Integration über den Staat geleistet werden sollte, aber daß jede Minderheit, auch eine neue Minderheit, bestimmte Ansprüche und Kollektivrechte haben soll im Rahmen des Staates. Solche ethnischen Konkordanzdemokratien funktionieren immer sehr schlecht, weil eine extrem konservative Tendenz in solchen Lösungen drinsteckt. Das beste Beispiel ist der ethnische Proporz in Südtirol, der jeden in die Zugehörigkeit einer der beiden Volksgruppen festschreibt. Zweifache Zuschreibung etwa in der Volkszählung ist nicht erlaubt. Das ist für mich auch eine bedrohliche Perspektive von Multikulturalität, wo die Gesellschaft in kleine Einheiten gegliedert ist und jeder sich zu deklarieren hat, wo er dazugehört. Das Ganze wird vielleicht noch staatlich geregelt, indem jeder Einheit ein eigenes Bildungswesen zugestanden wird. Dann zerfällt die Gesellschaft ebenso, wie sie im Modell des freien Marktes und des Rassismus zerfallen würde.

Buch: In New York bezeichnet multikulturell, so modisch und diffus es auch ist, etwas Neues, was mit den alten Rastern offensichtlich nicht adäquat erfaßt werden kann. Das ist die Tatsache der Veränderung des numerischen Verhältnisses der Gruppen, aus denen eine Gesellschaft besteht. Das heißt nicht, daß es keinen Rassismus mehr gibt. Es gibt sogar eine ganz klare Hierarchie in den USA, die WASPs, die die Spitze der Pyramide bilden über die Deutschstämmigen, Italienischstämmigen und Iren, bis hinunter zu den Chicanos, die an vorletzter Stufe rangieren, denn die Schwarzen sind noch eine Stufe tiefer. Nur ist es nicht mehr dasselbe wie früher, da die Weißen nicht mehr in der Mehrzahl sind. Dadurch verliert Rassismus etwas von seiner Selbstverständlichkeit. Auch das Wort Minderheit kann dann gar nicht mehr so einfach benutzt werden. Das alles ist eine Folge der Menschenströme, die heute überall aus politischen, aus wirtschaftlichen Gründen oder als Touristen hinziehen und die eine andere Welt schaffen, als wir sie gewöhnt sind, wo die Völker nicht mehr auf ihrem Platz sind.

Schwendter: Der Begriff multikulturell enthält diese hierarchische Dimension nicht. Das kritisiere ich an ihm. Daß er sie innehat, aber nicht enthält. Die Weltmarktentwicklungen sind das konstitutive Element dafür. Hinsichtlich der Minderheiten habe ich diesen Optimismus nicht. Die Frauen bilden seit, ich weiß nicht wie lang, überall eine numerische Mehrheit und trotzdem haben sie sozialen Minderheitenstatus.

Zweitens: Ich glaube, daß es starke Ungleichzeitigkeiten gibt. Für Österreich ist die Situation noch weithin nicht so wie für New York oder Frankfurt. Eine Entsprechung des WASP wäre hier der Deutsch sprechende Katholik, dessen Hegemonie seit zwei, drei Jahrhunderten ungebrochen dauert.

Sie sprachen von New York, Sie sprachen von Deutschland. Wird multikulturelle Gesellschaft nicht vorwiegend in den ‚westlichen‘ urbanisierten Ballungszentren thematisiert?

Bauböck: Der Ort der multikulturellen Gesellschaft ist nicht die „Erste Welt“, sondern das, was im Englischen die „global cities“ genannt werden. Weltstädte, die in der Weltökonomie eine neue Funktion übernehmen. Diese besteht aus einer Koppelung von Topmanagement und den miesesten Formen von Dienstleistungsjobs. Das gibt’s in den Großstädten der „Ersten Welt“, aber auch in Mexico City, Istanbul, Kairo, Hongkong. Charakterisiert sind sie alle durch eine hohe Immigrationsrate.

Es gibt zumindest zwei Vorläufer dieses Phänomens: Die vornationale Gesellschaft, die in ihrem Wesen multikulturell war in dem Sinn, daß politische Herrschaft und kulturelle Zugehörigkeit in der Regel entkoppelt waren. Diese großen dynastischen Reiche waren in sich in viele kleine ethnische Segmente gegliedert.

Der zweite Typ sind sogenannte „plurale Gesellschaften“, die aus einer kolonialen Situation entstehen, in der eine bestimmte Ethnie total dominant ist und den Staatsapparat beherrscht, in denen aber viele verschiedene Ethnien miteinander kommunizieren über Markt- und Tauschbeziehungen. Die Ethnien sind aber in sich absolut geschlossen. Prototyp: die chinesischen und indischen Händlerkolonien in Ostafrika oder im ganzen asiatischen Raum. Die Integration erfolgt über die Ökonomie und nicht über eine gemeinsame Beteiligung an der Politik.

Es wäre zu überlegen, ob nicht das, was wir heute unter einer multikulturellen Gesellschaft verstehen, in eine ähnliche Richtung geht. Das scheint mir eine äußerst bedenkliche Entwicklung.

Buch: Die Schwierigkeit ist, und da setzt meine Kritik ein, daß der Begriff Kultur, so wie er in ‚multikulturell‘ gebraucht wird, Wertfreiheit voraussetzt, die gar nicht gegeben ist. Denn dahinter steckt die unausgesprochene Idee einer Relativität der Kulturen, die alle gleich sind vor Gott. Oder der Geschichte. Darin steckt noch etwas, das mir zutiefst suspekt ist: Das ist der überstrapazierte Begriff der Identität. Das betrifft nicht nur die kulturelle oder nationale Identität, sondern auch die Gruppen der Punks, Skinheads, diese Stammesgruppen, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren genannt wurden. Die Gesellschaft zerfällt in frei umherschweifende Stämme, in ethnische Kleinstgruppen. All diese Gruppierungen haben ein zwanghaftes Bedürfnis, ihre Identität zu bestätigen. Diese ganze Identitätsscheiße müßte man eigentlich bekämpfen. In all ihren Formen, weil sie immer nur zu neuen Fundamentalismen und neuen Diskriminierungen führt. Weil jede Identität sich nur auf Kosten der anderen definieren zu können glaubt.

Bauböck: Ein Vorschlag: Motto der Neunziger könnte „No identity“ im Gegensatz zum Motto der frühen achtziger Jahre „No future“ heißen.

Schwendter: Na gut, die Bewegung gab es ja. Sie ging in den siebziger Jahren von Gilles Deleuze und Felix Guattari aus: Jeder Mensch ist eine Gruppe und Identität ist eine Fiktion. Die Schwierigkeit ist: Wir müssen schon fragen, woher diese Entwicklung kommt. Diese übersteigerte Suche nach einer schon fast als narzistisch zu bezeichnenden Identitätsform. Wieso ist sie so authentisch? Wir fühlen uns nur gut mit der entsprechenden Automarke, dem entsprechenden Rasierwasser, den entsprechenden Pullovern mit den eingesticktenTieren drin, was auch immer.

Das führt uns zum Weltmarkt zurück, zur Akkumulation, zur Vergrößerung von Institutionen. Die Identität wird immer dann als kompensatorische Funktion besonders übersteigert, wenn die gesamtgesellschaftliche Situation auf den Einzelnen besonders niederdrückend ist. Das spielerische Ausprobieren verschiedenster normativer Systeme ist angesichts dieser Übermacht der großen Institution für die/den Einzelne/n nicht mehr zu leisten.

Ich würde gerade in diesem Zusammenhang die Fundamentalismen nicht vorschnell abschreiben, sondern versuchen, sie ernst zu nehmen. Sie sind selbst interessenbedingte Konstruktionen normativer Art und nicht etwas, das sich naturwüchsig an heiligen Texten entlang zieht.

Wie entstehen die Nationalismen? Unter welchen Bedingungen gibt’s die Suche nach Identität, die Suche nach neuen Fundamentalismen.

Bauböck: Wesentlich ist, daß die Vergemeinschaftung in modernen Gesellschaften immer eine illusionäre oder imaginäre ist, daß die Fundamentalismen dies aber genau auf jener Ebene leisten. Sie bieten etwas an, das mit der Legitimationskrise des Nationalismus zusammenhängt. Nationalismus war in gewisser Weise ein Religionsersatz. Eine Säkularisierung der politischen Gemeinschaft, die selbst die Vorstellung hervorgebracht hat, es gibt eine Kulturgemeinschaft, in die alle hineingeboren werden und die sich durch Vererbung tradiert. Wenn das brüchig wird, gibt es Gegenbewegungen oder daran gekoppelte Bewegungen, die die alten Formen der religiösen Gemeinschaft wieder zu beleben und an die Leerstelle zu setzen versuchen.

Buch: In Afrika begegnete ich überall dem islamischen Fundamentalismus, der dort, aggressiv und mit viel Geld gekoppelt, missioniert — überall werden Moscheen gebaut, gespendet vom Iran oder Saudiarabien, von den verschiedenen miteinander konkurrierenden Richtungen des Islam. Und der Bevölkerung wird verboten, zu singen und zu tanzen und zu trommeln, denn das ist laut Koran Sünde und gilt als eine primitive, lüsterne und sinnliche Angelegenheit, die es auszurotten gilt. Die treten mit dem Selbstbewußtsein christlicher Missionare des frühen Mittelalters auf und rotten in Afrika die autochthone Kultur aus, den Fetischismus und den Animismus.

Das Bedrohliche und Gefährliche ist, daß sie an den Minderwertigkeitskomplex der „Dritten Welt“ appellieren. Jener wird mit einer aggressiven, neuen Identität kompensiert, nämlich der islamischen. Daher auch der Erfolg. Es ist nicht das Produkt eines westlichen Imperialismus, sondern eine Antwort darauf.

Schwendter: Ihr Beispiel bezieht sich nicht auf eine multikulturelle Gesellschaft, sondern auf deren Ausrottung. Wir müssen auch hinzufügen, daß die christlichen Polemiken gegen die Polygamie, die ja gerade in den letzten Monaten in Afrika stattfanden, auch nicht von der feinen multikulturellen Art sind. Wenn wir den Islam kritisieren, müssen wir schon hinzufügen, daß dieses Zerstörungswerk auch von christlich Motivierten betrieben wird.

Um auf den Weltmarkt zurückzukommen: Dieser Minderwertigkeitskomplex ist ja geradezu ein Produkt dessen, was mit der „Dritten Welt“ seit einigen Jahrhunderten von metropolitaner Seite aufgeführt wird. Da ja auf der ganzen Welt kolonialistische Tendenzen weltweit operierend sind, ist dies ein Prozeß, der auch in die Metropolen selbst kommt. Diese ständige Dialektik, wie Galtung es einmal formulierte, von Zentrum und Peripherie, die wir in den Metropolen selbst in Form von Agglomerationen und strukturschwachen Gebieten längst kennen. Sicherlich haben wir die „Dritte Welt“ längst im eigenen Land, und zwar nicht nur die dunkelhäutige, schwarzschnurrbärtige Form, sondern auch in Form des Umgangs mit Behinderten, mit Psychiatrisierten, mit Obdachlosen, in Kalifornien beispielsweise.

Bauböck: Wir sind uns viel zu selten dessen bewußt, daß es im Islam genauso wie im Christentum unterschiedliche Strömungen gibt. Warum setzt sich die fundamentalistische Richtung ausgerechnet heute durch? Sie ist die ideologische Antwort auf eine Perspektive der Verelendung, die in allen islamischen Regionen den Leuten vor Augen schwebt. Das Minderwertigkeitsgefühl wird über ideologischen Fundamentalismus kompensiert.

Buch: Was wir erleben, ist doch eine Infragestellung der Aufklärung von den verschiedensten Seiten. Das Entscheidende ist, daß die europäische Aufklärung auch die Kritik an Kolonialismus oder Kapitalismus hervorgebracht hat. Wir erleben jetzt ihre Infragestellung durch vor allem religiös motivierte Massenbewegungen, die sehr viel älter sind als die Aufklärung. Die Aufklärung ist etwas europäisches, und ich schäme mich dessen nicht. Ohne die Aufklärung können wir die Idee der Toleranz, die Idee der Kritik, die Idee der sozialen Veränderung über Bord werfen. Aufklärung ist eine bessere Richtschnur für das Leben in einer Gesellschaft, in der auch Minderheiten und abweichende Meinungen ihre Rechte haben, als etwa in einem Gottesstaat, in dem von oben durch eine zentrale Autorität diktiert wird, was rechtens ist. Und solche Gottesstaaten sind nicht nur im Religiösen gemeint.

Schwendter: In der Argumentation sehe ich eine gewisse Ausweglosigkeit: Nämlich gleichzeitig, wofür vieles spricht, den Begriff der Aufklärung retten zu wollen, und den damit unlösbar verbundenen Begriff der Identität zu destruieren.

Buch: Identität ist doch eine Tautologie. Das hat schon Aristoteles gesagt. Der Kernsatz ist: Ich bin ich. Ein Deutscher ist deutsch, ein Europäer ist Europäer. Das ist eine Leerformel, die gar nichts besagt. Die Aufklärung hat uns gelehrt, solche Begriffe kritisch zu sehen, und was ich an der Aufklärung festhalten will, ist ja gerade das Moment der Kritik gegenüber den Heilslehren, die die Kritik ein für allemal verdammen.

Bauböck: Die Aufklärung müßte sich von ihrem eigenen Identitätsdenken lösen, indem sie sich enteuropäisiert. Aufklärung, die im Gewande einer europäischen Identität auftritt, ist eine Aufklärung, die in allen anderen Weltregionen berechtigterweise Gegenreaktionen und Mißtrauen auslöst.

Buch: Ihre Ursprünge sind in Europa und ihre Ansprüche sind universal.

Schwendter: Ja sicher, das ist bei Kant nachzulesen.

Buch: Bei der Aufklärung müssen wir mitbedenken: Jeder gute Linke und die meisten Konservativen heutzutage sagen: Natürlich habe ich keine Vorurteile, selbstverständlich habe ich nichts gegen Türken usw. Doch die über Rassisten die Nase rümpfen, sind diejenigen, die im Villenviertel wohnen, mit einem Professorengehalt. Diese Menschenliebe, die sich nie der Realität stellt, ist mir zu einfach und zu billig.

Bauböck: Man muß lernen, innerhalb der eigenen Gesellschaft zu differenzieren, daß es an der Basis, bei jenen, die schon da sind, inklusive der Ausländer, auch soziale Interessengegensätze geben kann gegen die, die versuchen, hereinzukommen. Diese Interessengegensätze werden ideologisiert in Fremdenfurcht. Es kommt darauf an, die Ideologisierung zu bekämpfen und nicht den Interessengegensatz zu leugnen, d.h. eine Form des rationalen Umgangs mit diesem Gegensatz zu finden. Die Fremdenliebe der Mittel- und Oberschichten beruht sehr stark darauf, daß sie am segmentierten Arbeitsmarkt nie gefährdet werden können durch Immigration. Das ist eine sehr billige Form des Wohlwollens, die sich auch schlecht moralisch anmaßen kann, für andere Teile der Bevölkerung zu urteilen.

Buch: Um auf Amerika zurückzukommen, da man ja immer den Eindruck hat, daß dieses Land in avancierter Form unsere eigene Wirklichkeit widerspiegelt: Es gab dort in den sechziger Jahren eine Allianz zwischen jüdischen intellektuellen Linken mit den Schwarzen. Der Bürgerrechtskampf der Schwarzen wurde nicht nur voller Sympathie, sondern mit aktivem Protest von jüdischen Intellektuellen unterstützt.

Diese Gruppen sind heute Todfeinde. Sie reden nicht mehr miteinander, es gibt keine gemischten Paare mehr, das war in den Sechzigern ganz groß, kaum noch Freundschaften. Die jüdischen Krämerläden sind vertrieben aus den schwarzen Ghettos wie Harlem und durch Koreaner ersetzt worden. Warum wollen diese Gruppen nichts mehr miteinander zu tun haben? Die Schwarzen haben sich an einem bestimmten Punkt ihrer Emanzipationsbestrebungen mit den Palästinensern solidarisiert, es gibt auch eine starke islamische Strömung — Black Muslims —, und die linken Juden haben irgendwann das Existenzrecht Israels über alles andere gestellt. Die Holocaustdebatte Mitte der siebziger Jahre führte auch zu einer Wiederentdeckung der jüdischen Identität. Jedenfalls ist eine grenzüberschreitende Solidarität fast nicht mehr möglich.

Und ich fürchte, das ist auch unsere Zukunft. Amerika ist das Gegenteil eines Schmelztiegels. Die Gruppen sind alle abgesondert, jede hat sich in ihre eigene Wagenburg zurückgezogen und behauptet ihre Identität in aggressiver Weise nach außen. Wenn das die Zukunft der mulitkulturellen Gesellschaft ist, dann sage ich nur nein danke.

Bauböck: Die Scheidung zwischen Bündnispartnern ist sicher ein Symptom gewesen, die Ursachen liegen etwas tiefer. Der Kampf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den 60ern hatte typischerweise nicht ethnische Identität, sondern politische Ungleichberechtigung zum Inhalt. So sollte die soziale Form der Diskriminierung erklärt werden. Auf der politischen Ebene wurde sehr viel erreicht, der soziale Ertrag dieser Bewegung war aber ein extrem geringer, da sich die Kastensituation in den Ghettos perpetuiert hat. In dieser Situation wurde die Grenze von beiden Seiten neu interpretiert als eine ethnische, die sie nicht von vornherein gewesen war. Die Schwarzen sagten: We are a black nation! Und die Black Muslims lieferten die religiöse Identität dazu. Das bedeutet eine Selbstdefinition, die Bündnisse von vornherein schwierig macht. Umgekehrt ist auf der Seite der Weißen wahrscheinlich ähnliches in weniger auffälliger Form geschehen. Man definiert sich nicht mehr gemeinsam im Rahmen eines politischen Anliegens, sondern über eine Identität, die automatisch tradiert wird und zu der der Andere keinen Zugang hat. Diese Form der Grenzziehung ist in einer multikulturellen Gesellschaft immer als große Gefahr angelegt.

Es bedarf daher politischer Innovation, einer neuen Form von Gleichberechtigung als einer gruppenübergreifenden Integration. Nicht bloß die Betonung, jeder darf seine kulturelle Identität behalten und für sich selbst entwickeln und festigen. Das allein ist überhaupt keine Lösung.

Schwendter: Es gibt kaum logische Orte, wo es in der Tat möglich ist, daß Leute aus verschiedenen Sub- und Teilkulturen, auch ethnischen, miteinander in irgendeine nichttaktische Interaktion treten. Was könnte nun dem Wagenburgmodell entgegenwirken?

Buch: Es gibt auch positive Gegenbeispiele. Die Eßgewohnheiten haben sich nun tatsächlich verändert. Die Küchen der Welt sind in den Metropolen präsent. Das positivste Beispiel für Multikultur ist jedoch der Jazz. Der Jazz ist wirklich ein Schmelztiegel: Aus europäischer Marschmusik — und das haben die Schwarzen gehört, die Militärmusik auf den Kopf gestellt und spielerisch eine wunderbare Synthese hervorgebracht aus europäischen und afrikanischen Elementen —, und selbstverständlich auch aus amerikanischen Elementen wie Hillbilly, Kirchenmusik, Ragtime.

Schwendter: Das Essen kann ich nur halb so optimistisch sehen. Diese Eßgewohnheiten sind nur noch als nivellierte konstitutiv. Die italienische Küche hier hat mit der italienischen Küche in Neapel nichts mehr zu tun. Hier tritt die Reservemannschaft von MacDonald’s an.

Jazz ist ein geglücktes Beispiel, zumal die avancierteren Gruppierungen die eigenen Roots miteinbeziehen in nichtimperialistischer Weise — die pannonische Musik z.B., oder wenn sich asiatische Trommelspieler an der Improvisation beteiligen. Die Subkultur, die diesen umfassenden Jazz spielt, ist allerdings jeweils recht klein.

Buch: Der Verwässerung der authentischen Küche, z.B. der italienischen, entspricht in der Musik die Verwässerung des Jazz zum Schlager, zum Pop. Ohne Anteil der schwarzen Musik und des authentischen Jazz gäbe es diese Verwässerungen nicht. So wie die schlechteste Pizza sich noch immer von der urspünglichen herleitet.

Warum sind ausgerechnet Essen und Musik die positiven Beispiele?

Bauböck: Essen spielt sich traditionellerweise in einem privaten Kommunikationsbereich ab. In diesem Sinn hat es sich auch jener kulturellen Standardisierung entzogen, die für den Nationalismus und den Nationalstaat charakteristisch ist. Auch dadurch, daß Essen, und das hat es mit der Musik gemeinsam, eine nichtverbale Form der Kultur ist. Nationalismen beruhen immer auf einer Standardisierung von Sprache. Wenn diese kulturelle Homogenität zunehmend in Frage gestellt wird, werden gerade diese Formen als Ansatzpunkt für neue Synthesen genommen.

Schwendter: Es ist sicher problematisch, einen Begriff wie multikulturell, sei es emphatisch, sei es utopisch, zu konstituieren, wenn es gleichzeitig MacDonald’s und Kabelfernsehen und Satellitenfemsehen und Printmedienkonzentration, eine weltweite Kenntnis von soundsoviel Markennamen und einen gleichzeitig zunehmenden weltweiten Analphabetismus gibt. Das ist gesamtgesellschaftliche Weltkultur.

Welchen Begriff würden Sie an Stelle von ‚multikulturell‘ vorschlagen, da er sich doch als relativ ungeeignet gezeigt hat?

Bauböck: Im Englischen gibt’s eine Tradition, über solche Fragen unter dem Begriff „citizenship“ zu diskutieren. Das ist natürlich nicht dasselbe, sondern bezieht sich explizit auf den politischen Status. Die Wurzeln liegen in der Französischen Revolution: Die Gemeinsamkeit soll nicht bestehen in der Kultur, sondern in den Rechten der Bürger. Wenn man das jetzt um ein Modell der Toleranz und Verträglichkeit zwischen Kulturen anreichern könnte, die nicht ständig auf ihre Identität rekurrieren müssen, schiene dies der bessere Weg als im alleinigen Rahmen der Kultur.

Wir danken für das Gespräch.