FORVM, No. 473-477
Juli
1993

Dutschke, Dubček und was davon geblieben ist

Ganz nebenbei: eine Replik auf G.H.O.

BARTHOLO: Denk daran, daß ein kluger Mann sich nicht mit großen Herren anlegt!
FIGARO: Daran denke ich.
BARTHOLO: Daß sie durch ihren Stand immer die Trümpfe in der Hand haben.
FIGARO: Ganz abgesehen von ihrer Gerissenheit. Aber denken Sie auch daran, daß jeder Schindluder treibt mit dem, der ängstlich ist.

(Beaumarchais, Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit)

Wieder einmal ein Jahr der Aufarbeitung. Fünfundzwanzig Jahre danach: da erinnerte man sich der Studentenrevolte, einer Jahreszahl, die zur Chiffre wurde.

Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis uns auch der einstmals Linke Georg Hoffmann-Ostenhof mit der Geschichte seiner Läuterung beglücken würde. Ungeduldig schlug der G.H.O-Fan jede neue Nummer des »profil« auf. In der Nummer 16 vom 19. April 1993, endlich, kam das längst Vermißte in Form von (rhetorischen) Fragen an Robert Schindel „Über die 68er, über Utopie und über die Notwendigkeit, vieles von damals zu revidieren“.

Über Georg Hoffmann-Ostenhofs Vater kursiert eine hübsche Anekdote. Zu dem Universitätsdozenten habe dessen Chef gesagt, er könne ja verstehen, daß er in seiner Jugend radikal gewesen sei, aber nun, da er älter werde, solle er sich doch an ihm, dem Professor, ein Beispiel nehmen und der ÖVP beitreten, auch um seiner Karriere willen. Darauf, so berichtet diese Anekdote, habe Hoffmann-Ostenhof senior geantwortet: „Nein, Herr Professor, wenn ich so alt bin wie Sie, möchte ich gütig und weise sein“. Georg Hoffmann-Ostenhof hat sich diesen Grundsatz offenbar nicht zueigen gemacht. Wieder erleben wir, was zur Regel zu werden droht: daß die Väter und Mütter progressiver sind als die Söhne und Töchter. Wer gemeint hatte, die Wendung zum Konservatismus sei ein biologisches Gesetz, muß sich eines Besseren belehren lassen.

Wie die stets überzeugten und gesinnungsstarken Redakteure der ruhmlos eingegangenen »AZ« fast allesamt ohne große Schwierigkeiten den Wechsel von einer sozialdemokratischen Parteizeitung mit Tendenzschutz zu einer „unabhängigen“ linksliberalen »AZ« und danach zu mehr oder weniger seriösen bürgerlichen Blättern schafften, gehört zum Kapitel „österreichischer Karrierismus“, das wegen seiner Trivialität keines Kommentars bedarf. Georg Hoffmann-Ostenhof aber gelingt es, mit jedem Wechsel auch die dazugehörenden Überzeugungen zu entwickeln, und das ist schon der Bewunderung wert. Zunächst in der »AZ« und, seit er dort das außenpolitische Ressort betreut, im »profil«, überrascht er immer aufs Neue mit Prognosen, die die zuverlässige Eigenschaft haben, nicht einzutreffen (was seinem Ruf freilich keineswegs schadet), und die lediglich die Tatsache verbindet, daß sie die Welt, wie sie ist, im großen und ganzen erfreulich finden. Unvergeßlich in Erinnerung bleibt Hoffmann-Ostenhofs Prophezeiung, wo die Politik, wie er mit Sicherheit wußte, demnächst von einem Ibrahim und einem Lafontaine bestimmt würden, könne es keinen Nationalismus geben. Namen sind ihm ohnedies ein kräftiges Argument. So kann er sich auch deutsche Kinder mit italienischen Vornamen nicht als Skinheads vor Asylantenheimen vorstellen. Um aber die Gegenwart und die unmittelbar bevorstehende Zukunft (wie G.H.O. sie imaginiert) preisen zu können, muß man eine Vergangenheit, die damit nicht vereinbar ist, schmähen. Und so veredelt Opportunismus sich zur Tugend der realitätsbezogenen Wandlungsfähigkeit. Beneidenswert.

Im Gespräch mit Robert Schindel also bekennt G.H.O.: „Von heute aus betrachtet, erscheinen doch unsere sozialistischen Träume eher als das letzte Aufbäumen einer Idee vor ihrem Untergang. Wir dachten, wir wären Avantgarde, Vorhut der Geschichte, und waren doch Arrieregarde, Nachhut.“ So. „Von heute aus betrachtet“ erscheint G.H.O., der stets Avantgarde, Vorhut ist, alles andere als vergleichsweise Vorangeschrittenes, das vor der Arrieregarde, der Nachhut der 68er marschierte: der klerikal-konservative Mief an den Universitäten und in der Gesellschaft, gegen den diese 68er antraten, die 25 Prozent Studenten, die damals bei Hochschulwahlen den RFS wählten, das Pentagon, das seine Ziele, nicht nur in Vietnam, mit Gewalt zu erreichen suchte.

G.H.O. hat auch andere Erscheinungen. „Was wir damals auch entdeckt haben, war der Begriff der Entfremdung. Wir waren begeistert von der uralten, schon lange vor Marx vorhandenen Vorstellung von der Aufhebung dieser Entfremdung, von der Aufhebung der Trennungen: von Privatheit und Öffentlichkeit, von Wirtschaft und Politik, von Staat und Gesellschaft. Haben wir da nicht Furchtbares gesät? Haben sich diese Ideen nicht, verwässert, als die dümmlichsten Theorien und Haltungen vor allem innerhalb der grünen Bewegung entpuppt: Das Pathos der Betroffenheit, antistädtische Einstellungen, die Vorstellung, alles müsse überschaubar sein“. G.H.O. liebt Superlative. Dümmlicher als die genannten Theorien und Haltungen ist auf alle Fälle die Vorstellung, Pathos der Betroffenheit oder antistädtische Einstellungen hätten irgendetwas mit einer noch so verwässerten Entfremdungstheorie zu tun. Daß Furchtbares sät, wer die Aufhebung der Entfremdung ersehnt, ist freilich eine schon lange vor G.H.O. vorhandene Vorstellung derer, die von der Entfremdung der Massen profitieren.

In Form einer Frage suggeriert G.H.O.: „War das nicht schlechte Romantik, die sich von alten vorindustriellen Bildern genährt hat?“ Das entbehrt immerhin nicht der Originalität, da gemeinhin den 68ern gerade vorgeworfen wird, sie hätten (unwillentlich) die Modernisierung des Industriekapitalismus befördert.

Daß die Revolutionen der Dritten Welt nicht auch die Erste Welt revolutioniert haben, dient G.H.O. als Argument gegen die „unwahrscheinliche Liebe zur Dritten Welt“, gegen „ein mystisches planetarisches Einheitsgefühl“ (früher nannte auch G.H.O. das schlichter: internationale Solidarität). Wenn die „Heroisierung der Dritten Welt“ ein Irrtum war — wieso eigentlich ein „verheerender“, wie G.H.O. erklärt? Verheerend, scheint mir, war und ist, wie die Erste Welt mit der Dritten Welt umgeht, nicht deren irrtümliche Heroisierung.

Mit seinem neuen Kronzeugen Joachim Fest sagt G.H.O. „dem Gedanken der Utopie ade“. Die benötigt er (anders immerhin als Robert Schindel, der kein Gehalt von »profil« bezieht) nicht, um „historisch gewachsene Werte, wie etwa die Menschenrechte“ anzustreben — als wären die nicht immer noch Utopie, wie übrigens auch die bürgerlichen Ideale der französischen Revolution, die selbst für einen Georg Hoffmann-Ostenhof noch Verhandlungsgrundlage sein dürften.

Das Gerücht hat inzwischen die Form einer Tatsachenbehauptung angenommen: Die 68er seien mittlerweile alle angepaßt und arriviert, gut versorgt als Professoren, Redakteure oder Politiker. Leute wie Georg Hoffmann-Ostenhof scheinen diesem Diktum Plausibilität zu verleihen. Und dennoch: Wie hätten sie’s denn gern, die solches mit geschürzten Lippen in Umlauf setzen? Was wäre nach ihrer Ansicht die angemessene Position für einen aufrechten 68er? Die des Arbeitslosen? Des Penners? Des (möglichst einsitzenden) Terroristen? Oder vielleicht des Emigranten?

Die heute in hämischen Glossen den revolutionären Elan vermissen, waren, anders als Georg Hoffmann-Ostenhof, meist selbst 68 nicht dabei. Diese Kleinmütigen, die niemals etwas mit einer Revolte im Sinne, die sich stets mit den Unmenschlichkeiten dieser Gesellschaft abgefunden hatten und die als erste „Gewalt“ schreien, wenn tatsächlich jemand zum Pflasterstein greift, wollen uns einreden, letzten Endes seien wir alle so mies, wie sie immer schon waren. Aber auf diesen Trick sollte man nicht hereinfallen. Sie haben auch dann nicht recht, wenn manche 68er ihnen, sei’s mit ironischer Melancholie, sei’s in Anbiederung an die nachfolgenden Generationen, scheinbar in dem einen oder anderen Kritikpunkt zustimmen.

Es ist schon wahr, vieles ist verloren gegangen von den Aufbruchsphantasien, die wir damals hatten (als jene ewigen Maden im Speck, die heute heuchlerisch den „Geist von 68“ zu vermissen vorgeben, uns aller denkbaren Untaten bezichtigten). Viele haben sich entmutigen lassen, manche haben sich’s gerichtet. Die meisten haben Anstand bewahrt. Es gibt auch Renegaten. Es gibt auch Leute wie Jens Litten, der es vom Studentenfunktionär über den Theoretiker der „verpaßten Revolution“ zum Chefredakteur des Lufthansa-Bordbuchs brachte, oder wie Günter Maschke, der einst als Bundeswehr-Deserteur in Wien die Lehren Maos verbreitete und der, nach einem Zwischenspiel als Denunziant vom Dienst bei der FAZ, mittlerweile den „antinationalen Derwischen“ Lothar Baier und Wolfgang Pohrt ihren Antifaschismus vorwirft und nunmehr als „Nationalrevolutionärer“ und Autor neofaschistischer Publikationen (z.B. in Frankreich) selbst bei den Konservativen einen Mangel an Nationalismus einklagt. Aber erstens hat es in jeder Generation schäbige Charaktere gegeben, und zweitens sind sie, betrachtet man die Aktiven der Studentenrevolte, die Ausnahme: schon Maschkes Angriffe benennen ja zwei seiner heutigen Gegner, für die 68 keineswegs eine belanglose Episode blieb.

Zu bedenken ist bei allen Analysen und Bewertungen auch dies: Die Studentenrevolte war nicht, wie gelegentlich behauptet wurde, eine Massenbewegung. Unter jenen, die damals in den Hörsälen diskutierten oder auf den Straßen demonstrierten, waren viele im wörtlichen Sinne „Mitläufer“. Ich benütze diesen Begriff hier nicht in der Bedeutung „Opportunisten“. Aber es gab ohne Zweifel eine große Zahl von Studenten, die der Einsamkeit am Studienort entgingen, indem sie sich der damals eben aktuellen Bewegung anschlossen, ohne daß sie tatsächlich mehr als oberflächlich politisiert gewesen wären. Ein Jahrzehnt zuvor wären sie wahrscheinlich bei Burschenschaften oder Studentenverbindungen gelandet, die nationalistisches oder christliches Gedankengut propagierten, ohne daß sie deshalb überzeugte Neonazis oder übermäßig motivierte Christen gewesen wären.

Man muß wohl auch unterscheiden zwischen jenen, für die die Studentenbewegung eine Gelegenheit darstellte, gegen die Naziväter zu rebellieren, und jenen, die, aus der DDR kommend, mit marxistischen Ideen vertraut oder in sozialdemokratischen oder kommunistischen Familien aufgewachsen waren und von da, oft unzufrieden mit den erstarrten Strukturen der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung, enttäuscht von einem ganz und gar irrealen „realen Sozialismus“, deshalb aber nicht zu den Apologeten des Kapitalismus, also auch nicht zur Sozialdemokratie übergelaufen, immer noch nach den Möglichkeiten einer egalitären, emanzipatorischen Gesellschaft suchten und so zur Studentenbewegung stießen. Zu ihnen gehörte Rudi Dutschke, dessen politische und moralische Integrität bis heute vorbildlichen Charakter hat. Es will mir scheinen, daß der zuletzt genannte Typus in der Regel, also statistisch betrachtet, standfester, durch die in den siebziger Jahren eintretende Wende weniger anfechtbar blieb als jene Kinder aus gutem Hause, die, hatten sie erst einmal ihre radikale Phase „durchlebt“, gerne eine politische Begründung (oder auch keine) annahmen, um zu den Bequemlichkeiten des bürgerlich-angepaßten Daseins zurückzukehren und ihren Frieden mit dem Status quo zu machen. Gewiß ist die spätpubertäre Auflehnung gegen den (Nazi-)Vater keine hinreichende Voraussetzung für eine anhaltende und gefestigte politische Haltung. Und gewiß gab es solche, die den autoritären Vater nur gegen die Geborgenheit in der Studentengruppe eintauschten, wie sie diese dann später preisgaben zugunsten der Sicherheit, die ihnen, psychisch, sozial und materiell, Vater Staat spendet. So borniert es freilich wäre, die Wirksamkeit solcher individualpsychologischer Faktoren zu leugnen, so dumm und politisch infam war der schon früh einsetzende Versuch, die ganze Studentenrevolte darauf zu reduzieren. Monokausale Erklärungen sind, wie so oft, zwar bequem, aber falsch. Das Erklärungsmodell des Generationenkonflikts kam auf, als sich die Studentenbewegung gerade erst zu artikulieren begonnen hatte, und es ist bis heute, insbesondere bei Liberalen, beliebt: Es dispensiert von der Frage nach den objektiven politischen Zusammenhängen, die ja trotz allem vorhanden sind und einer Analyse bedürfen. Ließe sich das Problem auf einen Generationenkonflikt reduzieren, wäre nicht zu begründen, warum nicht schon die Studenten von 1958 revoltierten: auch ihre Väter waren Nazis.

Jedenfalls: die Zahl derer, die tatsächlich große Energie und viel Zeit aufwenden, um tiefer in oft ja auch sehr komplizierte Theorien und politische Überlegungen einzudringen, war auch 1968 vergleichsweise klein, nicht anders als 1917 in Rußland oder 1789 in Frankreich. Diese aber sind es, an denen das Fortleben oder der Ausverkauf der Ideen von 68 gemessen werden muß. Und da scheint mir die Bilanz keineswegs so entmutigend.

Es entspricht einfach nicht meinen Beobachtungen, daß die 68er besonders charakterlos und karrieristisch wären, jedenfalls nicht jene, die den dialektischen Ansatz der Studentenbewegung, der antikapitalistisch und gegen das totalitäre Regime sowjetischer Prägung gerichtet war, wirklich begriffen haben. Die Generation der Opportunisten ist nach meinen Erfahrungen jünger. Ich gestehe, daß es mich mit mehr Traurigkeit als Amusement erfüllt, wenn da, wo einst zu Diskussionen über Vietnam aufgerufen wurde, nunmehr gerösteter Camembert, ein Wett-Handstand, eine Bar und Gitarre + Gesang zu einem Studentenfest locken. Es entspricht dies einer (Medien-)Wirklichkeit, in der als verständnislos gescholten wird, wer nicht für die Allmacht des Leichten, keinerlei Anstrengung Abfordernden plädiert. Kann sein, daß die Studenten von 68 bisweilen ermüdend viel theoretisierten. Von einer Generation aber, die auf Wochenendseminaren zu infantilen Gruppenspielen regrediert, sentimentale Schlager grölt oder gar zur schenkelklopfenden Lustigkeit und den stereotypen Scherzliedern einer überwunden geglaubten Wandervogelseligkeit zurückkehrt, mag ich diesen Vorwurf nicht gelten lassen. Da waren die 68er schon allemal weiter.

Nun gut, mag mancher einwenden, lassen wir die Protagonisten beiseite. Aber insgesamt, objektiv betrachtet, hat die Studentenbewegung doch versagt, war ihr Anlauf vergeblich, ist nichts geblieben als die Nostalgie derer, die damals jung waren. In den Köpfen vieler zwanzigjähriger Linker, die von 68 nicht viel mehr kennen als ein paar dürre Schlagwörter, stellt sich die Studentenrevolte als milde belächelter Irrtum einiger fanatischer Idealisten dar. Ich teile überhaupt nicht die Ansicht, der Aufbruch von 68 sei gescheitert, seine Utopien hätten sich als falsch erwiesen, und ich bin erst recht nicht bereit, zugunsten eines von Jüngeren oder von zu den Konservativen oder den Grünen (was bisweilen dasselbe ist) Konvertierten eingeforderten Zeitgeists Erkenntnissen und Ansprüchen von 68 abzuschwören oder auch nur Begriffe und Konzeptionen wie „Klassenkampf“, „egalitäre Gesellschaft“, „repressive Toleranz“, „dialektische Analyse“ zum alten Eisen zu werfen. Mir macht immer noch ein hungernder oder seiner Würde enteigneter Mensch mehr Kummer als ein sterbender Baum. Allzu schnell erfolgte für mein Empfinden bei manchen einstigen maoistischen Dogmatikern der Wechsel zu einem dumpfen, antiurbanen und antiaufklärerischen Blut-und-Boden-Geraune (nur daß ich das eben, anders als Georg Hoffmann-Ostenhof, seit je als einen Verrat an den Ideen von 68, nicht als deren Folge begriff). Und so hurtig wie die Jusos habe ich mich auch nicht davon überzeugen lassen, daß deren Vorschlag eines begrenzten Höchsteinkommens (wer redet heute noch davon?) Humbug sei. Will mich jemand als unbelehrbar bezeichnen, mag er das. Nur sollte man nicht allzu schnell Wendigkeit mit Lernfähigkeit verwechseln.

Gewiß, es gibt Bereiche, in denen die Reformen von 68 zurückgenommen wurden, freilich nicht, weil deren einstige Befürworter umgefallen wären, sondern weil das roll back der Konservativen, die (in ihrem Sinne) klüger geworden sind, mit effizienter Rücksichtslosigkeit durchgegriffen hat. Aber im Kulturbetrieb zum Beispiel nehmen wir heute vieles als selbstverständlich an, was ohne die Erfahrungen von 68 undenkbar wäre: zum Beispiel die Vielzahl kleiner linker Verlage, alternativer Clubs und Kulturzentren oder, um ein sehr spezifisches Detail zu nennen, den Gesprächston am Theater zwischen Regisseuren und viel selbstbewußteren und autonomeren Schauspielern, als sie früher die Regel waren.

Bleiben wir bei der Bühne. Das deutschsprachige Theater wäre in mehrfacher Hinsicht ohne 1968 nicht, was es heute ist, nämlich das vielseitigste, interessanteste und intelligenteste Sprechtheater der Welt. Und doch trifft es zu, daß manche Theaterleute, die Lenin und Mao im Munde führten, ihre Seele an den Kommerz verkauft haben. Man sieht sie nur noch in Fernsehserien, die man beim besten Willen mit Gesellschaftsveränderung in keinerlei Zusammenhang bringen kann, und die im übrigen zugleich den künstlerischen Ausverkauf bedeuten: einige dieser Karrieristen gehörten durchaus zu den großen Talenten der Bühne.

Aber es gibt auch den anderen Typus. Und weil natürlich die Apologeten des anpasserischen Zynismus kein Interesse daran haben, Maßstäbe zu setzen, die ihre eigene charakterliche und schöpferische Winzigkeit enthüllen, geben die Repräsentanten dieses Typus für sie keine Feuilletons ab. Reden wir also, zum Ausgleich und exemplarisch, von einem, reden wir von Ignaz Kirchner. Er gehört, es hat sich mittlerweile herumgesprochen, zu den größten Menschendarstellern des gegenwärtigen deutschsprachigen Theaters. Aber Kirchner ließ es nicht dabei bewenden, auf der Bühne sein Talent zu zeigen, er beteiligte sich auch an der Mahnwache für den österreichischen Widerstand, die der Republikanische Club/Neues Österreich initiiert hatte, eine Erfahrung freilich, die ihm manche unerbetene Erkenntnis einbrachte über das Weiterleben des realen Hitler in den Köpfen vieler Wiener.

Darüber hinaus studierte er ein Solo-Programm ein, mit dem er außer in Wien in mehreren deutschen Städten, bisweilen in intimer Runde, auftritt. Anstelle eines Texts, der ihm die schnellen Lacher oder Virtuosen-Bewunderung garantiert hätte, wählte er jedoch die Rede an den kleinen Mann von Wilhelm Reich, einem Autor, den die Studentenrevolte wiederentdeckt hatte und um den es mittlerweile wieder still geworden ist. Dieser Essay, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA niedergeschrieben, vereinigt Reichs gesellschaftspolitische und psychoanalytische Ansichten in einer brillanten, in ihrer polemischen Schärfe an Karl Kraus gemahnenden Ansprache an den Kleinbürger, der zugleich Opfer und Baumeister autoritärer Regime ist. Er beschimpft und umschmeichelt, begeifert und begreift den „kleinen Mann“ (er kann auch ein „Intellektueller“ sein!), der Hitlers Erniedrigung zum Untermenschen, Stalins Diktatur, die Verdrängung von Freuds Sexualtheorie, den Zölibat und die Zwangsehe, den Staatsgedanken, die Grausamkeit, die Inquisition und die Atomenergie wählte. Kirchner spricht diesen Text mit einer Disziplin, wie sie selten geworden ist: den Sinn verdeutlichend, alle Register der Stimme auslotend, aber auch stets um jene Nuance gegen den Strich, die nötig ist, um jeden Automatismus zu vermeiden. Er kontrapunktiert den fast anderthalbstündigen Vortrag durch sparsame Gesten, durch eine Mimik, die die Beteiligung des Schauspielers an der Aussage, nicht nur an einer Rolle, erkennen läßt. Kirchner handelt hier als Künstler und politischer Mensch zugleich, er handelt im Sinne von 1968. Und doch vibriert der Text von Aktualität, es ist, als hätte Wilhelm Reich das Österreich oder Deutschland von heute gekannt. Mit einem Wort: es ist schauerlich.

Einem Gerücht, das ebenso hartnäckig ist wie jenes vom Karrierismus der 68er, soll hier noch begegnet werden, nämlich daß die Studentenbewegung von 1968 humorlos, lustfeindlich gewesen sei. Wer dies behauptet, ist entweder nicht dabei gewesen oder hat ein kurzes Gedächtnis. Denn die antihedonistische Strenge, die dogmatische Prüderie waren Kennzeichen jener orthodoxen Gruppen sowjetischer und maoistischer Prägung, die die Studentenbewegung zerstörten und ablösten. Das war keine Weiterentwicklung, sondern, unter dem Schlagwort der größeren politischen Effektivität, eine Rückkehr zu traditionalistischen Konzeptionen der Arbeiterbewegung, die auf manche richtig erkannten Probleme und Schwächen der Studentenrevolte die falschen Antworten gab. Sie stand auf schwachen Füßen. Ebenso rasch, wie mancher in die neue alte Orthodoxie hineinstolperte, wurde er später zu ihrem dogmatischen Verächter, ohne dabei seine eigene Rolle zu reflektieren. Konstant blieb bei solchen Typen das Bedürfnis nach der allein selig machenden Wahrheit, nach den einfachen Antworten, mit anderen Worten: ihre säkularisierte Religiosität.

In einem dialektischen Sinne aus der Studentenbewegung hervorgegangen ist die Frauenbewegung: indem sie einerseits sich von dieser abspaltete, als Frauen erkennen mußten, daß auch dort patriarchalische Verhaltensformen vorherrschten, und indem sie anderseits teilweise deren Aktions- und Organisationsformen bewahrte, als sie nicht mehr bestand. Die Frauenbewegung ist freilich durch einen grundsätzlichen Unterschied gegenüber der 68er-Bewegung gekennzeichnet: Sie beschränkt sich im wesentlichen darauf, innerhalb einer ungerechten Gesellschaft mehr Privilegien auch für (bürgerliche) Frauen statt die Abschaffung von Privilegien zu fordern und ist blind für viele Belange, die 68 eine große Rolle spielten.

Und jene ganz Jungen, die sich weder in der Frauen-, noch in der ohnedies nicht gerade durch Profiliertheit verlockenden Friedensbewegung, noch bei den Ökologisten engagieren wollen, weil ihnen mittlerweile jede evolutionäre oder revolutionäre Veränderung hoffnungslos erscheint? Kann man ihnen ihre Staatsverdrossenheit übelnehmen? Darf man sich wirklich darüber wundern, wenn einige von ihnen, politisch und historisch ahnungslos und von linken Ideen allenfalls seitens jener Lehrer der 68er-Generation gestreift, gegen die sie opponieren, Rechtsradikalen mit ihren Scheinalternativen auf den Leim gehen? Müssen sie nicht täglich erleben, mit welchem Zynismus der Apparat für sich Sonderregeln in Anspruch nimmt und über die Regeln einer Demokratie locker hinweggeht?

Wie will man es jungen Menschen begreiflich machen, daß Politiker Lügen und Steuerhinterziehungen unbeschadet überstehen, für die der sogenannte „kleine Mann“ seinen Arbeitsplatz verliert oder ins Kittchen kommt? Wie sollen sie nicht verzweifeln angesichts eines Systems, das seinen Repräsentanten, auch wenn sie wie etwa Uwe Barschel unter dem dringlichen Verdacht schwerwiegender Verbrechen stehen, ein Staatsbegräbnis bereitet, während für Gegner dieses Staats (oder auch nur der gerade herrschenden Regierung) der Grundsatz „de mortuis nil nisi bene“ keineswegs gilt? Muß dieser Staat Jugendlichen, die noch mit moralischen Maßstäben ausgestattet sind, nicht als ein Selbstbedienungsladen der Mächtigen in Politik und Wirtschaft erscheinen, denen Korruption und Intrigen, eine Nazivergangenheit und eine Kriminellengegenwart nichts anhaben können, wo eine arbeitslose Sozialhilfeempfängerin sieben Monate Gefängnis bekommt, weil sie innerhalb eines Jahres drei Mal beim Schwarzfahren erwischt wurde?

Zwischendurch eine biographische Anmerkung: Wenn man die oben unternommene vereinfachende Zweiteilung der Herkunft derer akzeptiert, die heute als 68er angesprochen werden, so ist meine Zuordnung unproblematisch. Ich war in einer linken Familie aufgewachsen und früh schon überzeugter, wenn man das über einen Schüler sagen kann: dogmatischer Sozialıst. Nachdem mich ein Studienaufenthalt in der Sowjetunion 1962/63 meiner Illusionen beraubt hatte, war es nicht zuletzt meine enge Freundschaft mit Ernst Fischer und Franz Marek, die mich davor bewahrte, der Resignation oder gar einem kruden Antisozialismus zu verfallen. Und so knüpften sich für mich wenige Jahre später die Hoffnungen auf eine, vielleicht die letzte Chance für einen Sozialismus, wie ich ihn mir wünschte und nach wie vor wünsche, einerseits an die Studentenbewegung in der Bundesrepublik, anderseits, mehr noch, an das aufregende Prager Experiment unter Dubček. 1968 war für mich das Jahr, in dem ich promovierte und von Wien in die Bundesrepublik übersiedelte, um eine Stelle als Hochschullehrer anzutreten. Noch das Jahr zuvor hatte ich in Prag studiert, die Diskussionen und Veränderungen an den Hochschulen, im Schriftstellerverband, in den Kulturzeitschriften, ja praktisch im gesamten öffentlichen Leben hautnah miterlebt, und da ich damals dort meine Freundin hatte, reiste ich auch 1968 noch regelmäßig hin. 68 ist also in meiner privaten wie in meiner politischen Erfahrung nicht nur das Jahr der Studentenbewegung, sondern zumindest in gleichem Ausmaß das Jahr des Prager Frühlings.

Dann, Silvester 1989 auf dem Prager Wenzelsplatz. Die Begrüßung des Neuen Jahrs wird zu einem Huldigungsfest für den gerade zum Präsidenten gewählten Václav Havel, den man bereits zwei Tage zuvor mit einem Ball auf dem Altstädter Ring gefeiert hatte. Der Jubel ist groß, und er ist verständlich. Zu verrottet, zu despotisch war das gestürzte Regime, als daß man der Freude über den „Staatsfeind“ von gestern, der heute auf der Burg residiert, Grenzen auferlegen könnte. Zudem ist Havel in der Tat ein Mann, dessen moralische Integrität außer Zweifel steht und dessen Stil und Auftreten nicht nur Respekt, sondern Sympathie erheischen.

Und dennoch kann sich für den ausländischen Beobachter, der die tschechoslowakische Geschichte und Gegenwart gut kennt, der seit zwei Jahrzehnten kaum etwas heftiger wünschte als das Ende der Herrschaft jener Marionetten, die 1968 mit der Hilfe von Panzern an die Macht kamen, keine pure Freude einstellen an diesem Silvester. Wenn da in einem fort nur „Es lebe Havel“ geschrieen, aber keine politischen Inhalte, keine Ziele, keine Perspektiven benannt werden, wenn Einigkeit besteht allenfalls in der Ablehnung des Bisherigen, wenn alle Hoffnung sich wieder einmal auf die eine charismatische Persönlichkeit stützt, wenn mehr oder weniger besoffene Männer mit Krimsekt ejakulieren, wenn sich da wildfremde Menschen umarmen, abküssen und sich ein unbändiges Bedürfnis nach symbiotischer Vereingigung, nach Aufgehen in der Masse kundtut: Ist da nicht bereits das Falsche im Richtigen wieder angelegt? Läßt sich mit solchem Bewußtsein Demokratie ausüben? Gibt es wirklich einen grundlegenden, nicht nur oberflächlichen Unterschied zwischen den Jubelmassen auf dem Wenzelsplatz an der Wende von 1989 zu 1990 und jenen Jubelmassen, die der tschechische Schriftsteller Škvorecký so bitter wie treffend in seinem Roman „Die Feiglinge“ beschrieben hat?

Man kann nicht recht fröhlich sein angesichts einer endgültig verspielten Chance, die auch an diesem Silvester in Prag deutlich wurde. Dubček wurde als Symbolfigur gerade noch geduldet, kaum bejubelt. Andere Repräsentanten des Prager Frühlings von 1968, die in den vorausgegangenen Wochen heimgekommen waren und öffentlich auftraten, wurden kaum beachtet oder sogar abgelehnt. Der Kommunismus ist heute in großen Teilen Osteuropas das Böse schlechthin, und da spielt es keine Rolle mehr, ob einer Reformkommunist von 1968 oder Stalinist davor und danach war. Dafür gewinnen nationalistische und antisemitische Kräfte zunehmend an Boden. Die Chance, die 1968 noch bestand: dem Sozialismus, der keiner war, einen wirklichen gegenüberzustellen — diese Chance besteht heute in Europa nicht mehr, und sie ist wohl international für Jahrzehnte aus dem Spielplan der politischen Möglichkeiten gestrichen.

Denn mittlerweile ist auch die osteuropäische Bevölkerung jenem Etikettenschwindel aufgesessen, der im Westen aggressiv aufrecht erhalten wird in all den Diskussionen über das angebliche Scheitern des Kommunismus. Die Wahrheit ist: Der Kommunismus konnte nicht scheitern, weil es ihn noch nirgends gab. Die Wahrheit, die man längst wissen und benennen konnte, lautet: Die Sowjetunion war seit den dreißiger Jahren keine sozialistische, sondern eine antisozialistische Großmacht. Es hätte nicht erst der militärischen Niederschlagung eines sozialistischen Regimes, nämlich des Prager Frühlings, bedurft, um das erkennbar zu machen, und so hat es durchaus seine Logik, wenn Stalin im Zusammenhang mit dem Nichtangriffspakt bereit war, dem Antikominternbündnis beizutreten. Noch Gorbatschow, vor die Wahl gestellt, das von ihm bis dahin abgelehnte Mehrparteiensystem zu- oder die litauische KP und Litauen in die Unabhängigkeit zu entlassen, entschied sich die längste Zeit für die Möglichkeit, die den russischen Großmachtinteressen zu dienen schien.

Die Sowjetunion hat seit Mitte der dreißiger Jahre immer nur ihre Großmachtinteressen vertreten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß diese Großmachtinteressen bei der Bekämpfung des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg zeitweilig in Deckung kamen mit den Interessen aller Demokraten in der Welt. Und wenn die Sowjetunion kurz vor ihrem Untergang in den Satellitenstaaten den Sturz der kommunistischen Alleinherrschaft zuließ, so war dies nichts anderes als die späte Auflösung eines Kolonialreichs, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Gorbatschows Leistung war es, zu erkennen, daß die russischen Großmachtinteressen durch das Engagement in den Warschauer-Pakt-Staaten eher belastet als befördert wurden. Seine — allerdings hilflose — Strategie galt der wegen eines bevorstehenden Bankrotts unabdingbar gewordenen innenpolitischen ökonomischen Sanierung. Demokratische Reformen waren ihm dabei lediglich notwendige Mittel, nicht Zweck. Wenn es denn nicht anders zu gehen schien, war man auch unter Gorbatschow zu blutigem Terror wie in Tbilisi bereit. Widerwärtig sind sie schon, jene russischen Heuchler, die geschwiegen hatten, als Wladimir Woinowitsch die Zensurpraktiken der sowjetischen Rechteverwalter kritisiert hatte, als er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, als er ins Ausland gehen mußte, die geschwiegen hatten, als nur wenige Häuser von Woinowitschs Moskauer Domizil entfernt dessen Kollege Pjotr Bogatyrjow vor seiner eigenen Wohnungstür erschlagen wurde von Rowdies, die trotz Diensthabenden in jedem Stiegenhaus, trotz effizienter Geheimpolizei im ganzen Viertel nie entdeckt wurden, die schon zuvor geschwiegen hatten, als Solschenizyn diffamiert wurde, und auch, als Daniel und Sinjawskij für Jahre ins Lager geschickt wurden. Alle, alle prosteten sie Glasnost und Perestrojka zu, die, unterstützt von ihren mittlerweile ebenso eifrig die Glasnost verkündenden Taschenträgern im Westen, kurz zuvor noch keine Anstrengung unterließen, um Glasnost und Perestrojka zu verhindern, die Kritiker denunzierten und davon profitierten, daß anderen jegliche Glasnost verweigert wurde. Lange mußten wir warten, bis auch diese Heuchler den „Fehler“ des auch von unseren liberalen Kommentatoren so maßlos gefeierten Gorbatschow entdeckten, dem sie noch zujubelten, als er wütete, jene Georgier, die ein unabhängiges Georgien fordern, betrieben eine antisowjetische Politik. Wieder einmal mußten sie erst von Mächtigen daran erinnert werden, daß genau diese Möglichkeit, nämlich der Austritt einer Sowjetrepublik aus der Föderation, in der sowjetischen Verfassung vorgesehen war. Wieder einmal mußte man diesen ewigen Opportunisten einsagen, daß die Verfassung das Papier nicht wert ist, auf dem sie steht, wenn Glasnost und Perestrojka dort ihre Grenzen haben, wo es um die russische Vormachtstellung auf einem Sechstel der Erde geht. Solange Gorbatschow die Jahrzehnte brutal unterdrückten Unabhängigkeitsforderungen der Georgier unwidersprochen ins Reich des Absurden verbannen durfte, mußte sich die Sowjetunion den Vorwurf gefallen lassen, die imperialistische Politik des zaristischen Rußland ungebrochen fortgesetzt zu haben. Auch weniger entwickelte Völker auf dem Gebiet der Sowjetunion hatten ebenso das Recht auf Unabhängigkeit, wie es Indien, Algerien oder Rhodesien hatten. Was sollte da das reaktionäre Argument, sie hätten ja von der russischen Kolonialpolitik profitiert! Im Falle der Georgier handelte es sich noch nicht einmal um irgend ein wildes Bergvolk, wie manche Unkundige vielleicht denken mögen, sondern um ein hochzivilisiertes Volk, das lange vor den Slawen eine Schriftkultur besaß. War sein Wunsch nach Unabhängigkeit wirklich absurder als der russische Chauvinısmus, den der gefeierte Generalsekretär mit vielen Repräsentanten der russischen (literarischen) Intelligenz gemeinsam hatte? Diese Frage erledigt sich auch nicht mit dem Hinweis auf die brutalen Konflikte, die mittlerweile am Kaukasus ausgebrochen sind. Sie sind, wie wir mit Schmerzen beobachten müssen, kein Privileg von Bergvölkern.

Der Kommunismus diente den Herrschenden über Jahrzehnte hinweg ebenso als Rechtfertigungsideologie wie die Freiheitsideologie dem amerikanischen Kapital, und ebenso wie dieses hatten sie zu ihrer Ideologie ein absolut zynisches Verhältnis. Dies allein erklärt die heute offensichtliche Doppelmoral, die, politisch betrachtet, wirklich das kleinste Problem ist und allenfalls so lächerlich, als hätte man den Papst in einer Chambre Separée ertappt.

Die Rechte aber im Westen hat stets dankbar den Etikettenschwindel aufgenommen. Was konnte den Sozialismus abschreckender erscheinen lassen als die Realität der sich sozialistisch nennenden antisozialistischen Staaten im sowjetischen Machtbereich? So haben die Reaktion im Westen und die Kommunisten, also die Reaktion im sowjetischen Einflußbereich, gemeinsame Sache gemacht, und jeder, der ein wenig Einblick hatte, weiß auch, wie gut deren Repräsentanten „miteinander konnten“.

Vielleicht hätte es, was die Tschechen und Slowaken betrifft, noch eine ganz minimale Chance gegeben, wenn schon nicht für den Sozialismus, so wenigstens für die Sowjetunion etwas Sympathie zurückzugewinnen, wenn sich deren Staatsmänner vor dem brutalen Polizeieinsatz am 17. November 1989, der die längst fällige „sanfte Revolution“ in der ČSSR mehr auslöste als verursachte und von dem man in Prag — zugegeben: im internationalen Vergleich übertrieben — nur als dem „Massaker“ spricht, für den Einmarsch ihrer Truppen im Jahre 1968 entschuldigt hätte. Danach war es zu spät. Von jenen aber, die im Westen diesen Einmarsch rechtfertigten, fehlt bis heute jede Entschuldigung. Dafür diskutieren sie umso eifriger mit über das angebliche Ende des Kommunismus.

Denn da besteht mediale Einigkeit wie selten: Der Sozialismus hat ausgespielt, ade, auf Nimmerwiedersehen. Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei, die DDR, Rumänien, die Sowjetunion — sie haben es bewiesen: Ohne Marktwirtschaft läuft nix, wo die Menschen nicht konkurrieren, von Karrieren und Millionenprofiten durch Eigeninitiative träumen dürfen, ist der Terror bereits eingeplant. So viel kapitalistische Selbstgerechtigkeit war selbst dem Glossisten Finis (wer immer das sein mag) in der liberalen deutschen Wochenzeitung »Die Zeit« ein Ärgernis. Einen Leitartikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« nahm er zum Anlaß, daran zu erinnern, daß die kommunistische Idee ja vielleicht auch ein paar kleine Verdienste zu verbuchen hat. Das hätte er nicht tun sollen. Schon in der darauffolgenden Nummer pfiff ihn der frühere Herausgeber der »Zeit« Gerd Bucerius himself, zurück. Nix da, „nicht nur die soziale Marktwirtschaft ist die Antwort auf die kommunistische Idee, sondern die Demokratie“.

Dürfen wir die Gegenrechnung zu der von Bucerius eröffnen? Bittesehr: Wenn Stalin auf das Konto der Planwirtschaft geht, dann geht Hitler — hat man das schon vergessen, weiß man wirklich nicht mehr, wer zwischen 1933 und 1945 zahlte und wer reich wurde? — auf das Konto der Marktwirtschaft. Die Marktwirtschaft (in Milton Friedmans Version aus dem „größten kapitalistischen Land, den Vereinigten Staaten“, das, wie Bucerius richtig feststellte, ganz ohne die Hilfe der Sozialdemokratie auskommt) war die Grundlage für den Terror von Pinochets Militärjunta, für Massenmorde, für Folter, für Schlimmeres als die Unterdrückung des Expressionismus. Herr Bucerius hätte mal einen Blick auf die politische Weltkarte werfen sollen. Woher bezieht jemand das Vertrauen, daß es eine Liaison zwischen Marktwirtschaft und Demokratie gebe? Es geht hier nicht um die Entschuldigung der stalinistischen Verbrechen. Aber so zu tun, als wäre die Marktwirtschaft der Hort der Humanität, ist pure Heuchelei. Die historische Wahrheit korrigiert nicht einen angeblich veralteten Marxismus zugunsten jener noch viel älteren Ideologie, die Marx kritisierte. Und man muß sich einmal mehr fragen, ob es dem westlichen Kapital und ihren politischen Vasallen wirklich um Menschenrechte geht, wenn sie Hilfe für die jetzt in Umwälzung befindlichen Staaten davon abhängig machten, daß diese die private Marktwirtschaft einführen.

Wenn ein Haus, dessen Wände Dioxin ausatmen, abgerissen und durch ein Haus ersetzt wird, dessen Wände mit Asbest gefüttert sind, wenn sich nun herausstellt, daß Asbest den Menschen schadet, so ist doch das Dioxinhaus dadurch nicht wohnlicher, nicht weniger verseucht geworden.

Die Sowjetunion, China und die Staaten in ihrem Machtbereich hatten mit Sozialismus seit sechs Jahrzehnten nicht mehr zu tun gehabt als die Kreuzzüge oder Francos katholisches Spanien mit dem Christentum.

Die sozialistische Idee muß vor den wenigen verbliebenen Kommunisten, die Antikommunismus produzierten, indem sie die Sowjetunion kommunistisch nannten, gerettet werden wie vor den Apologeten der kapitalistischen Marktwirtschaft mit der selektiven Katastrophenwahrnehmung. Der Sozialismus hatte noch keine wirkliche Chance. Was seine kommunistischen und antikommunistischen Gegner als Sozialismus ausgaben, beweist nichts gegen den Sozialismus, den es erst zu erkämpfen gilt. Aber es macht auch den Kapitalismus nicht zu jenem Idyll, als das ihn uns seine Hofberichterstatter ausmalen. Es ist wahr: Die demokratischsten, vergleichsweise humansten Gesellschaften wurden bisher in jenem Teil der Welt ermöglicht, in denen Marktwirtschaft herrscht. Das ist keine Aussage über Ursache und Wirkung. Es darf nicht vergessen lassen, welche immensen Opfer auch marktwirtschaftlich organisierte Staaten gekostet haben und kosten. Und es darf nicht den Blick darauf verstellen, daß mehr, weit mehr Demokratie möglich ist, als wir bisher kennen. Ob sie ausgerechnet durch die Marktwirtschaft garantiert wird — daran sind immerhin Zweifel erlaubt.

Diese Zweifel sind allerdings im Westen heute unterentwickelt. 1968 gehörten sie noch zum intellektuellen Repertoire. Georg Hoffmann-Ostenhof belehrt uns über die Notwendigkeit, vieles von damals zu revidieren. Nur weiter so.

Nachtrag: Zwei Wochen, nachdem dies geschrieben wurde, setzte Hoffmann-Ostenhofs »profil«-Kollege Jens Tschebull die Revision von 1968 fort. Es lohnt nicht, auf eine solche Anhäufung von Infamie und Denunziation einzugehen, in deren Nachbarschaft sich einstige »AZ«-Redakteure wie Hoffmann-Ostenhof oder Lackner offenbar daheim fühlen. Vermerkt sei lediglich die verräterische Benennung von 68ern als „Ewiggestrige“.

Mit diesem Begriff, mit dem man bis vor kurzem jene bezeichnete, die nach 1945 dem Nationalsozialismus nachtrauerten, werden nun gleich doppelt jene diffamiert, die sich nicht der verordneten Ansicht anschließen, daß der Sozialismus ein für alle Mal ausgespielt habe, und mit ihnen, bei Tschebull, gleich alle 68er mit, die nicht „reuig Abbitte tun“.

Ist derjenige ewiggestrig, der sein Denken nicht der Macht des Faktischen unterordnet?

Zum Kotzen sind doch in Wahrheit die Ewigheutigen, die Konjunkturisten, die ihre Ansichten nach der Tagesmode ausrichten. Zum Kotzen sind die Ewigheutigen, für die der Sozialismus denkbar (sei es begrüßenswert, sei es bekämpfenswert) war, bloß weil es Staaten gab, die sich sozialistisch nannten, und die nun flugs in die Sprachregelung einstimmen, wonach die Freie Marktwirtschaft die konkurrenzlose Herrschaft nicht nur auf den Märkten, sondern auch in unseren Köpfen anzutreten habe.

Dabei schrecken die Ewigheutigen vor den merkwürdigsten Volten nicht zurück. Mit dem Eifer von Gesinnungspolizisten schnüffeln sie etwa hinter der angeblich mangelnden Gesinnung von Schriftstellern und Künstlern her, die in der DDR ihre Überlebenskompromisse machten, um zugleich zu postulieren, Gesinnung habe in der Kunst nichts zu suchen. Sie sind so heutig, daß sie sich in ihrer gerade aktuellen Meinung selbst noch nicht zurechtfinden. Aber auf Meinungen kommt es auch gar nicht an. Denn das ist die höhere Weisheit des Lobs auf die Gesinnungslosigkeit: daß man ewig heutig ist, wenn man sich auf die Seite der Sieger stellt. Da, in trauter wärmender Nähe zur herrschenden Macht fühlt sich neuerdings wohl, was die Intelligenz repräsentieren möchte. Auch eine Möglichkeit. Eine heutige.

Noch ein PS: Eine der jüngsten Prognosen des ewigen Optimisten G.H.O. besagt, daß es in Österreich mit größter Wahrscheinlichkeit zu Anschlägen gegen Ausländer wie in Rostock, Mölln oder Solingen nicht kommen werde — als hätten nicht fast alle politischen Entwicklungen, positive wie negative, die Deutschland erlebte, sich in Österreich mit etwas Verspätung wiederholt. G.H.O. sieht auch am gegenwärtigen Rechtsradikalismus das Gute. Zu seinen famosen Analysen gehört jene besonders schlaue, wonach der heutige Rechtsradikalismus nicht so gefährlich sei wie jener der dreißiger Jahre, weil er nur ein paar Deklassierte, das Lumpenproletariat erfasse, das (Klein-) Bürgertum hingegen immun sei gegen rechtsradikale Anfechtungen.

Der Präsident des deutschen Bundeskriminalamtes, der offenbar zu wenig G.H.O. liest, ist da anderer Meinung. Genauer: er referiert Tatsachen, die Meinungen als das ausweisen, was sie oft sind, als Geschwätz. Von 152 Tatverdächtigen bei fremdenfeindlichen Straftaten, so der BKA-Präsident, seien nur 27 Skinheads und 20 Mitglieder anderer rechtsextremer Gruppen. 105 Tatverdächtige — also mehr als doppelt so viele wie diese zusammen — stammen aus der „bürgerlichen Mitte“.

Ob solche Fakten G.H.O. und das »profil« irritieren, gar zu einer Korrektur der phantasievollen Prophetien veranlassen? Wir warten’s ab.

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