FORVM, No. 253/254
Januar
1975

Eins, zwei, drei — 1984 !

Wie der Kapitalismus seine Krise überwinden will. Interview mit der italienischen Linkszeitung Il Manifesto.

Manifesto: Die gegenwärtige Krise ist unserer Ansicht nach eine Phase der allgemeinen Krise des Gesamtkapitalismus. Dieser ist heute, selbst in Konjunkturzeiten, sowohl außerstande, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, wie auch die Herrschaft über die Massen auszuüben. Deshalb besteht eine revolutionäre Perspektive auch in den Zentren des Systems — zum Unterschied von früheren Krisen, in denen die schwachen (also revolutionären) Kettenglieder des Systems mit den peripheren Gebieten zusammenfielen.

Kapital am Ende?

Frank: Ich persönlich habe starke Zweifel, ob der Kapitalismus seine historische Funktion erschöpft hat und in eine Phase des Niedergangs eingetreten ist. Ich glaube, das kapitalistische System ist heute gezwungen, neue Entwicklungsmöglichkeiten in der Dritten Welt und in den um die UdSSR gruppierten Ländern zu suchen. Die Frage ist, ob solche Versuche erfolgreich sein können und ob sie dem System helfen werden, die Schwierigkeiten zu überwinden, mit denen es in seinen Zentralzonen heute nicht fertig wird. Die Expansion des Kapitalismus in die peripheren Gebiete und in die sogenannte sozialistische Welt entspricht der „natürlichen“ Strategie des Systems. Es ist die Frage, ob diese Strategie noch möglich und ausreichend ist.

Manifesto: Was ist deiner Meinung nach das wichtigste Merkmal der gegenwärtigen Krise?

Frank: Ich halte sie für eine klassische Akkumulationskrise, eine — wie Samir meint — Akkumulationskrise im Sinne des allgemeinen Niedergangs des kapitalistischen Systems, wie er seit 1914 vor sich geht. Die ersten Anzeichen der jüngsten Krise zeigten sich in internationalem Maßstab 1967, als es zu einem Sinken der Profitrate kam, und es ist eine weitere Verschärfung zu erwarten. Eine lange Krisenperiode steht bevor, ähnlich der von 1914 bis 1945, mit vergleichbaren Umwälzungen. Eine gewisse Analogie besteht auch zur Krisenzeit von 1871 bis 1895, aus welcher der klassische Imperialismus hervorgegangen ist.

Manifesto: Wenn das Sinken der Profitrate die Ursache der Krise ist — warum sank sie?

Amin: Einfach gesagt, weil das gegenwärtige Akkumulationsmodell sich erschöpft hat und ein neues kommen muß, das im Rahmen des kapitalistischen Systems schwer zu finden ist. Es handelt sich also um eine Strukturkrise im vollen Sinn des Wortes — keine bloße Konjunkturkrise, keine „normale“ Rezessionsphase, keine bloße Folgeerscheinung der gestiegenen Energiepreise und keine Absatzkrise. Die Krise betrifft das gegenwärtige Akkumulationsmodell als solches, seine Basis im gesellschaftlichen Konsens, das Gleichgewicht zwischen kapitalistischer Produktionsweise und innerer wie äußerer Peripherie.

Manifesto: Es ist also eine Krise, aus der der Kapitalismus nicht bloß durch Lohndruck oder durch Unterdrückung in gewissen Gebieten der Welt herauskommen kann?

Zeit für Revolutionen

Amin: Die historischen Daten, an die wir in der gegenwärtigen Krise erinnert werden, sind 1848, 1871 und 1917. In solchen Zeiten der Spannungen, des Gleichgewichtsverlusts und der Anpassungsversuche kommt es zu einer Intensivierung des politischen Lebens, es entstehen Öffnungen für revolutionäre Vorstöße. So war es 1848 mit dem „Kommunistischen Manifest“, 1871 mit der Pariser Kommune, 1917 mit der Oktoberrevolution und später mit China.

Manifesto: Die Krise von 1929 hat aber keine Revolutionen hervorgebracht.

Amin: Man darf nicht nur 1929 betrachten, sondern muß die gesamte Periode von 1914 bis 1945 einbeziehen: Erster Weltkrieg, kurzer Wirtschaftsaufschwung, Oktoberrevolution, Faschismus, Zweiter Weltkrieg, in dessen Folge die Verbreitung des nordamerikanischen Modells auf die ganze industrialisierte Welt, und dann 25 Jahre außerordentlicher Entwicklung. Die Krisen markieren die historischen Enrwicklungsperioden des Kapitalismus, deren jeder ein bestimmtes System gesellschaftlicher Bündnisse entspricht. Das Jahr 1848 signalisierte die Ausbreitung des bis dahin auf England, Nordfrankreich und Belgien beschränkten Kapitalismus. Mit der Revolution von 1848 und dem Manifest von Marx und Engels hat das Proletariat zum erstenmal Selbstbewußtsein erlangt; dieses Selbstbewußtsein wurde niedergewalzt von der phantastischen Expansion des Kapitalismus: Einigung Italiens, österreichisch-ungarische Monarchie, Eisenbahnen, Aktiengesellschaften, mit einem Wort — ein höheres Entwicklungsstadium der Produktivkräfte.

Frank: Und all dies aufgrund der Veränderungen, die sich in der Krise vollzogen hatten: neue technologische Grundlagen, neue Beziehungen innerhalb der Bourgeoisie und zwischen den einzelnen Produktionssektoren.

Amin: Nach 1870 haben wir den Imperialismus, die Monopole, die weltweite Expansion, dann die lange Depressionsperiode von 1914 bis 1945, und schließlich das amerikanische Modell. Die Basis der kapitalistischen Entwicklung in den letzten 25 Jahren ist das Aufholen Europas und Japans gegenüber den USA: die „Herausforderung Amerikas“, die Technokratie, der Europa-Mythos usw., zugleich mit einer tiefen Krise des Marxismus und der Arbeiterbewegung. Dieser Entwicklungstyp ist nun in eine Krise geraten.

Frank: Dieser Entwicklungstyp gründete sich auf besonders dynamische Industriezweige, wie Petrochemie, Elektronik, Kybernetik, die nun keine langfristigen Entwicklungsperspektiven, das heißt keine ausreichenden Investitionserträge mehr zu bieten scheinen. Auch deshalb glaube ich, daß das System, um einen neuen Aufschwung nehmen zu können, neue technologische, soziale und politische Grundlagen braucht.

Amin: Eine neue technologische Basis setzt Änderungen in den Beziehungen zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen sowie zwischen den kapitalistischen Mächten voraus, das heißt Änderungen in der internationalen Arbeitsteilung und in den inneren Klassenbündnissen.

Frank: Die technologische und soziale Unmöglichkeit, auf dem alten Weg weiterzugehen, gibt dem Kapitalismus die Gelegenheit, sich umzustrukturieren, und den Volkskräften, ihn daran zu hindern.

Luftballon Tertiärsektor geplatzt

Manifesto: Welche Bedeutung hat das Schrumpfen des Produktionsbereichs und das Anwachsen der unproduktiven Bereiche?

Amin: Die Periode von 1914 bis 1945 war eine Zeit langer und heftiger Krisen. In der darauf folgenden Periode war der Akkumulationsprozeß nicht mehr durch das einfache Gleichgewicht zwischen Abteilung A (Produktionsmittelerzeugung) und Abteilung B (Konsumgüterproduktion) bestimmt, sondern er machte auch eine außerordentliche Entwicklung der Abteilung C nötig, des unproduktiven Konsums, der die Militärausgaben, das Wuchern des Tertiärsektors, Grundstückspekulation und dergleichen enthält. Das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage — also die Realisierung des Mehrwerts — verlangt ein schnelles Wachsen der parasitären Bereiche, wie es in diesen letzten 25 Jahren der Fall war. Weiters engte sich die soziale Basis des Kapitalismus ein. Die herrschenden Klassen in Westeuropa und Japan suchten dies durch Integrierung der Arbeiterklasse zu kompensieren. Doch gerade hier zeigten sich die größten Schwierigkeiten, so daß Westeuropa und Japan — nachdem ihnen diese Operation nicht geglückt war — in die Krise gerieten, bevor sie die USA noch richtig eingeholt hatten.

Manifesto: Was heißt das konkret?

Amin: Ich denke beispielsweise an den „historischen Kompromiß“ der KPI, der nicht 1964 kam, als er die Ereignisse des Jahres 1968 hätte abwenden können, sondern zehn Jahre zu spät, weshalb er scheitern und die Krise des Kapitalismus verschärfen muß. Ein Vergleich: Die römischen Kaiser sind zwar zum Christentum übergetreten — aber ein Jahrhundert zu spät, um das Imperium noch zu retten.

Manifesto: Es handelt sich also um Rettungsversuche?

Amin: Richtig. Wir befinden uns in einer Situation, wo der Kapitalismus die Fähigkeit zur Initiative verloren hat, aber auch die Arbeiterklasse sie noch nicht besitzt. Das bedeutet aber keinen automatischen Zusammenbruch, weil der Kapitalismus immer noch aus der Krise herauskommen kann.

Dreimal 1984

Manifesto: Aber wie könnte er herauskommen? Wie wird das System voraussichtlich reagieren?

Frank: Man kann sich drei Modelle des Kapitalismus nach der Krise vorstellen. Jedes dieser Modelle wäre eine Resultante aus Entfaltung des Klassenkampfes, „spontanen“ Tendenzen des Systems, subjektiven Reaktionen usw. Der Kapitalismus könnte bloße Resistenz versuchen: so wäre beispielsweise eine gewisse Steigerung des sozialen Konsums ein denkbares Vorbeugungsmittel, aber mehr wäre es nicht. Ich denke dabei an den öffentlichen Massentransport und an einen Umbau der Städte. Etwas Ähnliches ist in den USA Ende der zwanziger Jahre geschehen, und es ist kein Zufall, daß Fiat und Volkswagen in U-Bahn-Projekte investieren.

Manifesto: Aber der Kollektivkonsum kann doch nicht zur neuen Triebkraft der kapitalistischen Entwicklung werden.

Frank: Gewiß nicht. Was unsere drei Alternativmodelle des kapitalistischen Auswegs aus der Krise betrifft, so fallen sie allesamt in die Dimension des Orwellschen „1984“; wir haben sie deshalb „1984 eins, zwei und drei“ getauft.

Amin: Beginnen wir mit Nummer eins, stellen wir uns den Gleichgewichtszustand vor, den dieses neue Akkumulationsmodell herstellen würde. Es brächte eine weitgehende Änderung in der internationalen Arbeitsteilung, eine Verlegung der Massenproduktion an die Peripherie und eine Entwicklung neuer führender Sektoren im Zentrum: Nutzung der Atom- und der Sonnenenergie, Ausbeutung der Meeresbodenschätze, Biochemie, Genetik usw.

Manifesto: Kurz, die höchste Technik wäre in den USA konzentriert und die Arbeiter im Kongo?

Amin: Es gibt noch viele Zwischenstationen zwischen den USA und dem Kongo, und dieses Modell eines „Subimperialismus“ würde zu einer extremen Verstärkung der ungleichen Entwicklung führen.

Frank: Unsere beiden Haupthypothesen sind: Entwicklung auf der Grundlage von Subimperialismen oder eine Entwicklung, die sich aus der Verschärfung der gegenwärtigen Situation ergeben würde; die dritte Hypothese liegt in der Mitte zwischen den ersten beiden.

Südafrikanisierung der Welt?

Amin: Aufgrund des technologischen Monopols käme es im Zentrum zu einer Konzentration der Schlüsselindustrien, die das gesamte Produktionssystem beherrschen. Zugleich würde eine Verlegung des klassischen Industrieapparats an die Peripherie stattfinden, aber ungleichmäßig, an einzelnen Punkten polarisiert. Die Länder, in denen die klassische Industrie konzentriert wäre, würden Industrieprodukte ins Zentrum und in andere Peripheriegebiete exportieren, und vom Zentrum Technologie, von anderen Petipherieländern Rohstoffe importieren. Sobald diese Mechanismen eine gewisse Schwelle erreicht hätten, käme zu qualitativen Veränderungen innerhalb der einzelnen Nationalstaaten, wo die von der Dominanz ausländischer Technologie abhängigen Bourgeoisien gezwungen wären, sich eine starke soziale Basis zu verschaffen, und daher nationalistische, gegen die anderen unterentwickelten Länder gerichtete Tendenzen fördern würden; dabei müßten sie sich auch mit potentiell revolutionären Volksschichten verbünden. Das geschieht bereits in den Bereichen des Subimperialismus und sollte nicht unterschätzt werden; es liegt auf der Hand, daß in diesem Zusammenhang das subjektive Moment in der Politik der einzelnen Bourgeoisien Bedeutung gewinnt.

Manifesto: Nach diesem Schema würden die Zonen des Nachkriegs-Wirtschaftswunders, Westeuropa und Japan, zu Brennpunkten der Krise werden: Sie wären der Konkurrenz der peripheren Industriestaaten ausgesetzt, ohne stark genug für die Rolle von Metropolen zu sein.

Amin: Wir müssen uns zunächst mit dem möglichen Gleichgewicht zwischen diesem Akkumulationsmodell und dem System der Klassenbündnisse im nationalen und internationalen Maßstab befassen. In diesem schwierigen Gleichgewicht, in den darin enthaltenen Widersprüchen liegen die Möglichkeiten revolutionärer Vorstöße. Vor allem käme es im Zentrum zu einem empfindlichen Rückgang in der Zahl der produktiv Beschäftigten (schon jetzt ist in den kapitalistischen Ländern eine relative Abnahme der Arbeiterklasse im klassischen Sinn festzustellen) und folglich zu einer Phase der Spannungen mit Beschäftigungs- und Lohnproblemen. Dieser Rückgang impliziert einen verstärkten Druck auf die Beschäftigten — vor allem in der klassischen Industrie, also an der Peripherie —, mit dem Ziel, aus ihnen den Mehrwert herauszupressen, von dem die immer zahlreicher werdenden parasitäten Schichten leben. Das würde nicht leicht gehen. Damit dieses Modell funktionieren kann, wäre zweitens notwendig, daß es der herrschenden Klasse in den subimperialistischen Ländern (der bürokratischen oder der privaten Bourgeoisie) gelänge, ihre Konsensbasis auf Schichten auszudehnen, die aus ihrer sozialen Situation heraus gegen die imperialistische Unterjochung sind; das wäre ebenfalls nicht einfach. Und schließlich bedeutet dieses Modell eine verstärkte Polarisierung an der Peripherie wie im Zentrum (in Form von Gastarbeitern) und daher die Einführung einer Art Apartheid im Zentrum und an der Peripherie, die Schaffung neuer Systemsklaven. Typisch für dieses System wäre eine allgemeine gleichmäßige Produktivitätssteigerung bei sehr ungleichen Löhnen.

Frank: Es wäre die Südafrikanisierung der Welt, mit allgemeinem Rassismus und starker sozialer und politischer Hierarchisierung. Wir nennen es „1984 Nummer eins“.

Revolution in der Zwischenzone?

Manifesto: Würden nach diesem Schema die fortgeschrittenen Länder der Absatzmarkt für die Industrieproduktion der Peripherie sein?

Amin: Ja. Es wäre die Umkehrung der gegenwärtigen Arbeitsteilung. Die fortgeschrittenen Länder würden moderne Technologie liefern, vielleicht auch Rohstoffe oder Quasi-Rohstoffe: Atom- und Sonnenenergie, kanadischen Ölschiefer, alle jene Rohstoffe, welche die Industriestaaten bis heute durch Ausbeutung der Naturschätze der Peripherie bekamen.

Frank: Die Gewinnung dieser Quasi- Rohstoffe wäre lohnend und möglich infolge der Erhöhung des Erdölpreises.

Amin: Ich bin optimistischer als Frank und meine, dieser Mechanismus könnte vielleicht nur an den beiden äußersten Polen des Systems funktionieren: bei den Supermächten und in den ärmsten, politisch schutzlosen Ländern. Alle anderen, das heißt fast ganz Europa und die Hälfte der Dritten Welt, befänden sich in einem Zustand extremer Spannung und Labilität — dort wären die schwächsten Kettenglieder des Systems. Schwach deshalb, weil in diesen Ländern eine Umgruppierung der sozialen Bündnisse nötig wäre, wie sie den herrschenden Klassen nicht einmal in Phasen rapiden Wachstums gelungen ist. Es käme zu heftigen Kämpfen zwischen den nationalen Bourgeoisien, jede würde versuchen, sich am eigenen Proletariat schadlos zu halten. Daher wäre die Kehrseite der sogenannten Südafrikanisierung die Möglichkeit revolutionärer Ausbrüche. Der Kräftegewinn der USA in der Erdölkrise und die antiproletarische Reaktion der schwächeren Industrieländer könnten Vorboten größerer Konflikte sein. Übrigens erschwert die gegenwärtige Krise in diesen Zwischenzonen die Versuche der einzelnen Bourgeoisien, ihre soziale Basis umzubilden; ich glaube, in der augenblicklichen Lage würden die herrschenden Gruppen der italienischen Bourgeoisie es für Wahnsinn halten, das Bündnis mit dem städtischen Spekulantentum gegen eine unsichere Neutralität des Proletariats und der KPI einzutauschen. Ferner sind da die potentiellen Subimperialismen, die sich stark machen und die damit neue Konflikte hervorrufen. Aber auch am anderen Pol wäre diese Operation nicht leicht: In den USA ist bereits ein Konflikt ausgebrochen zwischen den Multinationalen, die im Modell der Südafrikanisierung gewinnen würden, und den für den Binnenmarkt produzierenden Industrien, die verlieren würden. Charakteristisch für diese Schwierigkeiten ist, daß sie auftreten, bevor noch das Modell verwirklicht werden kann. Es beginnt also jetzt eine revolutionäre Periode, wobei die Brennpunkte in den Zwischenzonen liegen, die faktisch die Mehrheit stellen. Lehrreich ist auch das Beispiel Indiens, dessen Bourgeoisie die Konsensbasis durch Einschaltung in den Weltmarkt erweitern konnte: jetzt greifen ihr die Erdölkrise und deren Folgen für die Zahlungsbilanz an die Kehle.

Frank: Schätzungen zufolge, die mir allerdings übertrieben vorkommen, wird Indien für Erdölimporte 80 Prozent seiner Devisen — gegenüber früher zehn bis elf Prozent — ausgeben müssen.

Amin: Jetzt läuft es anders rum: Die Integrierung ins kapitalistische Weltsystem, seinerzeit die Voraussetzung für die Erweiterung der sozialen Basis der indischen Bourgeoisie, bewirkt nun deren brutale Abschnürung.

1984/II: Weiße Weltparasiten

Frank: Gehen wir zum zweiten Modell über. Dem ersten, das sich auf eine neue Arbeitsteilung und allgemeinen Rassismus gründet, stellen wir ein anderes gegenüber, das eine Verschärfung des gegenwärtigen darstellt: kein Rassismus und keine wesentliche Neuerung in der internationalen Arbeitsteilung in Verbindung mit der Verschiebung des Gleichgewichts zwischen alten und neuen Wirtschaftssektoren. Dagegen käme es zu einer maximalen Konzentration des Produktionsapparats in den USA, in Europa und in Japan. Das ist „1984 Nummer zwei“, während „1984 Nummer drei“ dieselbe Konzentration im Zentrum und ein paar Brosamen an der Peripherie sowie Stabilisierung einiger Mini-Subimperialismen vorsieht. Das Modell Nummer zwei setzt ein totales Repressionsregime in den Metropolen voraus, mit besonderer Härte in den Phasen der Umstrukturierung.

Manifesto: Dieses Modell sieht jedoch keine Einschränkung der Produktionsbasis im Zentrum vor.

Amin: Nein, keine Einschränkung, sondern ein relatives Wachstum, sobald das Modell verwirklicht ist. Um es aber zu verwirklichen, um produktivere Technologien zu verwenden, um die Arbeitskräfte umzuverteilen, eine neue Lohnhierarchie aufzubauen usw., wären mindestens zwanzig Jahre nötig, während derer alle Mythen und Ideologien, die in den letzten 25 Jahren die Entwicklung getragen haben, zusammenbrechen würden. Es wäre — grosso modo — eine Wiederholung der Periode von 1914 bis 1945: Revolution, Faschismus und Nazismus, zwei Weltkriege oder so. Da es in diesem Modell keine Verlegung der klassischen Industrie in Länder mit niedrigen Löhnen geben würde, müßten die Arbeiter, die in den klassischen Industrien der Metropolen beschäftigt sind, die Kosten der Umstrukturierung tragen.

Frank: In diesem Modell ist eine Gleichgewichtslage vorstellbar, aber der Weg dahin ist politisch so schwierig, daß man die Hypothese als unrealisierbar ansehen kann. Die heutige Situation ist das Ergebnis von 25 Jahren ununterbrochener Expansion. Neue Absatzgebiete müßten erschlossen werden, ein neuer Geist von 1945 müßte aus den Trümmern des gegenwärtigen Produktionsapparates entstehen ...

Amin: All dies bedeutet Repression, nicht unbedingt vom faschistischen Typus, wenn man unter Faschismus ein Bündnis zwischen der Industrie- und Finanzbourgeoisie mit den Mittelschichten versteht, die aus früheren Entwicklungsphasen übriggeblieben sind. Dies wäre ein wahres 1984: eindimensionale Ordnung, gewaltsame Unterdrückung der Minderheiten, verbunden mit einem diffusen Liberalismus — kurz, repressive Toleranz.

Manifesto: Kommen wir noch einmal auf die erste Hypothese zurück, die Hypothese einer neuen internationalen Arbeitsteilung. Sie ist von atlantischem Typ, das heißt, sie erfordert maximale Koordination zwischen den Ländern des Zentrums. Nur wenn man ein allgemeines Einverständnis voraussetzt, kann der klassische Industrieapparat der entwickelten Länder an die Peripherie verlegt werden. Ist nun ein Maximum an Einverständnis oder ein Maximum an Konflikten zu erwarten?

Amin: Meiner Meinung nach ein Maximum an Kontlikten, ein hemmungsloser Kampf zwischen den verschiedenen Clans der Bourgeoisie. Man muß bedenken, daß auch die subimperialistischen Länder Politik zu machen beginnen. Dies scheint mir übrigens die dominierende Tendenz der letzten Jahre zu sein: Konflikte in Zoll- und Währungsfragen, Konflikte in der Europäischen Gemeinschaft, Konflikte zwischen den Mächten um Einfluß etwa in Ägypten, in Mauretanien und in Tunesien.

Erdölschwindel, Inflationstheater

Manifesto: Welche Rolle spielen Inflation und Erdölkrise?

Amin: Mit der Erdölkrise wurde starker politischer Mißbrauch betrieben. Sicher sind die Preise für Erdöl und andere Rohstoffe stark gestiegen, aber schon vorher waren in den Industriestaaten hohe Inflationsraten zu verzeichnen — infolge einer mit der Krise zuammenhängenden Umverteilung der Einkommen. Übrigens fällt die Vervierfachung des Rohölpreises nicht so sehr ins Gewicht, wenn man bedenkt, daß er nur zehn Prozent des Endproduktpreises ausmacht; eine 15- oder 20prozentige Inflation allein auf die Erdölverteuerung zurückzuführen ist absurd.

Frank: Da Sonntagsfahrverbot oder Verkürzung der Fernseh-Sendezeiten nur ganz unerhebliche Auswirkungen auf die Zahlungsbilanz hatten, glaube ich, daß die Sparmaßnahmen bloß getroffen wurden, um ein günstiges Klima für Unterdrückung zu erzeugen. 1984 ist keine Phantasie mehr. Was die Inflation anlangt, so habe ich dafür eine sehr einfache Erklärung: Inflation tritt ein, wenn die Profite abnehmen, und ihr Zweck ist, das Sinken der Profite zu bremsen: das ist ganz leicht zu arrangieren in einer Wirtschaft, die von starken Monopolgruppen beherrscht wird.

Manifesto: Ist es schon soweit, daß das Kapital nicht mehr imstande ist, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, auch nicht die von ihm selbst geschaffenen Bedürfnisse, und ergibt sich daraus die Möglichkeit, den Kapitalismus zu überwinden?

Frank: Bisher wurde jede kapitalistische Krise durch Umstrukturierungen gelöst, deren Tiefgang dem Ausmaß der jeweiligen Krise proportional war, und deshalb glauben wir, daß eine lange Krisenperiode mit tiefen und dramatischen Konflikten bevorsteht. Es ist möglich, daß auf die jetzige Krise kein neuer Aufschwung der kapitalistischen Entwicklung folgen wird. Ich glaube aber nicht, daß das Kapital am Ende seiner Geschichte angelangt ist.

Amin: Ich gebe auf die letzte Frage eine bejahende Antwort und möchte auf ein bestimmtes Datum verweisen: 1917. Damals war der Kapitalismus zum erstenmal in seiner Geschichte außerstande, gewisse Probleme der menschlichen Gesellschaft zu lösen; von diesem Augenblick an war es klar, daß die historische Funktion des Kapitalismus — die Akkumulation und die Befreiung des Menschen aus den Fesseln der Natur — sich ihrem Ende näherte. Der Umstand, daß dann die Probleme Rußlands schlecht gelöst wurden, daß die Ergebnissse der Oktoberrevolution nicht der ursprünglichen Zielsetzung entsprachen, widerlegt in keiner Weise die historische Unfähigkeit des Kapitalismus; tatsächlich hat die sowjetische Produktionsweise in Rußland Probleme gelöst, die der Kapitalismus nicht zu lösen vermochte. In diesem Sinn bedeutet die sowjetische Produktionsweise auch den Beginn einer Übergangsphase — nicht im Sinn des Stalinschen Triumphalismus, aber eben doch eine Übergangsphase, da sich auf der ganzen Welt die Probleme, die der Kapitalismus nicht lösen kann, mit jedem Tag vergrößern und also mit jedem Tag die Norwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus größer wird.

Zusammenbruch? Oder stoßen?

Manifesto: Das bedeutet wohl nicht zwangsläufigen Zusammenbruch, und schon gar nicht einen unmittelbar bevorstehenden.

Amin: „Erschöpfung der historischen Funktion“ bedeutet nicht Unfähigkeit zu weiterer Entwicklung der Produktivkräfte. Doch darauf kommt es nicht an. Das römische Weltreich blieb den Barbaren bis an sein Ende stets auf allen Gebieten überlegen — technisch, militärisch, administrativ; das heißt aber nicht, daß es sich nicht schon lange im Niedergang befand, in dem Sinn, daß es am Ende seiner historischen Funktion angelangt war. Nichts anderes wollen wir mit unseren Formulierungen über ein drohendes „1984“ sagen. Wir haben mögliche kapitalistische Lösungen für die gegenwärtige Krise skizziert, aber nur, um zu zeigen, wie barbarisch diese Lösungen sind und wie unwegsam der Pfad ist, der von der heutigen Wirklichkeit zu einem 1984 führt.

Manifesto: Zum erstenmal in seiner Geschichte erscheint die kapitalistische Entwicklung auch den relativ privilegierten Gesellschaftsschichten und Ländern nicht mehr als ein befriedigendes Modell. Der Kampf des Proletariats läßt sich nicht mehr im Rahmen der kapitalistischen Entwicklung halten und wird zur Forderung nach einer neuen Produktionsweise.

Amin: Damit bin ich völlig einverstanden. Es ist kein Zufall, daß die Antworten des Systems, das immer abstrakter wird, sich in die Perspektive eines 1984 einfügen, wie Orwell es 1933/34 aufgrund des Hitlerismus und gewisser Charakterzüge der amerikanischen Gesellschaft beschrieben hat. Kürzlich habe ich die „Deutsche Ideologie“ wiedergelesen und darin einen Satz gefunden, den ich mehrfach unterstrichen habe und der besagt, daß der Kommunismus notwendig ist, wenn die Menschen der totalen Vernichtung entgehen wollen. Das ist übrigens nichts anderes als die berühmte Alternative „Sozialismus oder Barbarei“: Der Kommunismus ist die einzige Möglichkeit, die Probleme zu lösen, welche die kapitalistische Entwicklung der zeitgenössischen Menschheit gestellt hat. Und in diesem Sinn gilt auch Marx’ Hypothese, daß der Kapitalismus selbst das historische Subjekt geschaffen hat, das ihn überwinden wird, seinen eigenen Totengräber. Der negativste Aspekt der Perspektive eines 1984 wäre die Zerstörung des Proletariats als überlegene Produktivkraft und als gegnerische Klasse: 1984 würde die Proletarisierung aller und das Ende des Proletariats bedeuten. Aber von jetzt und hier zu einem 1984 oder zum Kommunismus führen nicht zwei gerade Wege, sondern wir rudern in einer Art widerspruchsvollen Magmas, worin eine besondere Bedeutung den Widersprüchen innerhalb der herrschenden Kräfte zukommt, welche durch die Krise verschärft werden. Vergessen wir nicht, daß das russische und das chinesische Proletariat siegen konnten, weil die Machtinstitutionen in Auflösung begriffen waren und die herrschenden Kräfte in sich gespalten. Die dem kapitalistischen System innewohnende Tendenz zu einem 1984 ruft bei jedem Schritt in dieser Richtung Reaktionen hervor, welche diese Tendenz umkehren und einen revolutionären Prozeß auslösen können. Solche Reaktionen und Gegentendenzen zeigen sich im Zentrum wie an der Peripherie, doch glaube ich, daß sie sich am ehesten in der sogenannten Zwischenzone durchsetzen könnten: an den fortgeschrittensten Punkten der Peripherie und an den rückständigen des Zentrums. Dort kommt es zur stärksten Anhäufung von Widersprüchen und damit zu alternativen Möglichkeiten.

Amin und Frank gehören zu den bekanntesten Dritte-Welt-Ökonomen. Samir Amin ist Professor an der Universität von Dakar/Senegal und ist vor allem für sein Buch über „ungleiche Entwicklung“ bekannt geworden, das im Frühjahr auf deutsch erscheint. André Gunder Frank ist Lateinamerika-Spezialist — Näheres siehe NF November 1974, wo wir seinen Offenen Brief über Chile abdruckten. Il Manifesto ist eine linke Tageszeitung in Italien, hervorgegangen aus einer KP-Dissidentengruppe um Rossana Rossanda: gegenwärtig ist die Gruppe Kristallisationskern einer neuen Partei, die sich links von der KP etablieren will.

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