FORVM, No. 100
April
1962

Emigration der Musen?

Unmutsäußerungen eines Galerieleiters

Monsignore Otto Mauer, Kunsttheoretiker von Rang und als einer der führenden Köpfe des österreichischen Katholizismus langjähriger Mitarbeiter des FORVM, beschäftigt sich im folgenden mit der Situation der modernen Kunst unseres Landes. Sein pessimistisches Resumé hat umso mehr Gewicht, als er selbst seit Jahren eine verdienstvolle Heimstätte der Moderne leitet, die Galerie St. Stephan, deren Kreis die hier abgebildeten Werke entstammen.

Daß Österreich in seinen Schulen jahrelang Naturwissenschaftler ausbildet, um sie dann ins Ausland abwandern zu lassen, ist staatsbekannt. Wer den zeitweilig oder für Lebensdauer Emigrierten mangelnden Charakter oder mangelnden Patriotismus zuschreibt, sucht die Schuld auf der falschen Seite. Man kann nicht unter Bedingungen arbeiten, die einen fachlichen Fortschritt nicht ermöglichen. Das Fehlen von Apparaturen, von Bibliotheken, von wissenschaftlichem Hilfspersonal usw. ist schon zu oft beklagt worden, als daß hier noch ausführlich die Rede davon sein müßte.

Gehören zu diesen Emigranten (die allzu oft von Heimweh nach der österreichischen Atmosphäre geplagt werden) aber nicht auch die Architekten? Und werden es nicht morgen die Maler und Bildhauer sein, die sich anderswo die hier mühsam zu erkämpfende Existenz suchen werden? Oder muß der Erfolg im Ausland automatisch der Anerkennung in Österreich vorangehen? Alfred Kubin lief als junger Mann vergeblich die wenigen österreichischen Galerien ab, bis ihm Cassirer in Berlin die erste Ausstellung veranstaltete und so zum Durchbruch verhalf; seine erste Mappe wurde von einem Mäzen in München verlegt.

Die Diagnose ist die unerläßliche Voraussetzung für eine Therapie. Wir stimmen mit diesen Bemerkungen daher keineswegs das übliche österreichische Lamento an, das zur Selbstzersetzung dieser Nation gehört. Gewiß ist es hierzulande am gebräuchlichsten, den Staat für jedwede Misere verantwortlich zu machen. Nun kann man zweifellos diesem Gebilde, das wir in einem gewissen Sinne selbst sind, den Vorwurf machen, daß es dem Kulturbudget notorisch zu wenig Beachtung schenkt; man kann darauf hinweisen, daß für die Kultur im Staatshaushalt nur wenige Prozente der Gesamtausgaben aufgewendet werden, und man kann das Heil von einer absoluten wie relativen Erhöhung der Budgetansätze erwarten. Man kann auch beklagen, daß zwischen der Dotierung der Staatstheater und der Förderung der bildenden Künste kein Gleichgewicht mehr besteht — wie lange könnte eine Galerie allein von der Abendgage eines Sängers oder Dirigenten existieren! Vor allem müßte man den Atavismus der Steuergesetzgebung anprangern: in Österreich bleiben alle Zuwendungen von privater Seite an Institutionen des Kunstlebens, die selbst nicht wieder staatlich sind, steuerlich unbegünstigt (als gäbe es bei einigem Nachdenken keine Möglichkeit, einem Mißbrauch solcher Förderungsmaßnahmen vorzubeugen!). Vielleicht gereicht es der Kunst wirklich zum Schaden, daß hinter ihr keine mächtigen pressure groups stehen, die den Wahlerfolg der politischen Parteien beeinflussen können; daß die Zahl der Künstler nicht so erheblich ist wie die der Arbeiter (obwohl die Künstler schließlich kaum weniger arbeiten als diese); und daß Künstler keine Streiks ausrufen können, die das Wirtschaftsleben blockieren.

Markus Prachensky, Rouge sur blanc
Öl, 1962

Das alles mag so sein und ist gewiß unerfreulich, aber des Übels Wurzel ist es nicht. Ist nicht der Staat ein Spiegelbild der Gesellschaft, die ihn trägt? Und was tut diese — noch freie — Gesellschaft für Kunst und Künstler? Das blaue Wirtschaftswunder ist an diesem Land keineswegs unbemerkt vorübergegangen, die Stationen des Backhendlkonsums wachsen wie Pilze aus dem Boden, und das kleine Völkchen der Phäaken am Donaustrand läßt sich’s unter der Sonne seiner politischen Neutralität gar kannibalisch wohl ergehen. Gewiß: die Frustration des Künstlerischen durch die Verwaltung der großen Kommunen ist enorm. Man baut Wohnviertel um Wohnviertel; nicht zu verachtende Summen fließen in die Taschen routinierter Architekten, die den Normalisierungswünschen der Stadtväter vorbehaltslos entgegenkommen. Aber die Begabten der jungen Generation gehen leer aus, weil sie sich die Maße der Fensteröffnungen nicht auf den Zentimeter vorschreiben lassen. Mit unfehlbarer Sicherheit werden künstlerische Aufträge für öffentliche Bauten nach politischen, karitativen oder protektionistischen — nur nicht nach künstlerischen Gesichtspunkten vergeben. Sie werden an die hoffnungslos Unbegabten verschleudert, und mit den Ziffern dieser fehlgeleiteten Kunstförderungsbeiträge dekoriert man stolz und eitel die Budgets der Gemeinden.

Andreas Urteil, Schreitender
Bronze, 1959

Aber zurück zur Gesellschaft. Wie schmal ist doch die Schicht der Interessierten, die sich, fast unverändert in ihrer Zusammensetzung, bei den Vernissagen der Ausstellungen trifft — wenn nicht gerade ein Nachziehverfahren mit Prominenten wie van Gogh, Cézanne und Gauguin im Schwange ist oder die über jeden Zweifel erhabenen alten Ägypter, Azteken oder Inder angeboten werden. Intellektuelle, die in ihren Sachgebieten respektables Niveau Zeigen, äußern sich kindisch und vulgär über zeitgenössische Kunst. Die Vokabel Tachist gilt ihnen als geläufiges Schimpfwort. Den wenigen Sammlern von Bedeutung (man betrachtet sie offenkundig als Mäzene, da sie die physische Existenz von Künstlern ermöglichen) steht eine träge Masse von Desinteressierten gegenüber, deren Bleigewicht alle Initiativen lähmt. Zugegeben: nie in der Geschichte ist ohne Nebenabsicht und Nebeninteresse gefördert und gesammelt worden. Was tut’s? Mögen doch Industriemagnaten und Bankleute zwecks Kapitalanlage Kunstwerke unserer Zeit kaufen, wenn es ihnen nur nebenbei Spaß macht! Vielleicht haben manche von ihnen in den ersten Tagen der Berlinkrise von Bildern auf Gold oder Diamanten umgeschaltet und ihre Bildkäufe storniert — hierzulande ist auch das nicht möglich, weil man hier noch nicht so weit ist, in der Kunst ein Wertobjekt entdeckt zu haben.

Kunst ist, wie alle geistigen und höchsten Wirklichkeiten, eine freie Sache; sie ist es in der Produktion und in der (sit venia verbo!) Konsumation. Und dem Künstler ist nicht gedient, wenn er aus Mitleid von der Gesellschaft oder als Dekoration von Staats wegen erhalten wird; aber die Unterbewertung der Kunst fällt, als Urteil über ihren Geisteszustand, auf die Gesellschaft zurück. Den Mangel an universaler Bildung zu beklagen und die Misere eines barbarischen Spezialistentums zu brandmarken, ist alltäglich geworden; Kunstkenntnis und Kunstliebe ins Bewußtsein der Nation zu heben, ist bisher mißlungen. Man sage nicht, die zeitgenössische Kunst sei verwirrend in ihrer Vielfalt und Rätselhaftigkeit. Warum empfindet man die Vielfalt nicht als Reichtum, warum erscheint rätselhaft, was Kunst als Kunst, nicht als Reproduktion und Dekor ist? Kants „Kritik der reinen Vernunft“ zu lesen, kostet Anstrengung, und Rilkes Duineser Elegien sind keine Lektüre für Volksschüler — nur in der Kunst will man Volkstümlichkeit zur Spielregel machen, nur die Kunst will man wie eine Speise konsumieren?

Gerade die Elite unserer Zeit versagt an der Kunst unserer Zeit. Psychologie und Metaphysik der zeitgenössischen Kunst sind nicht einmal zum Hobby von Intellektuellen avançiert. In den Versteigerungshäusern werden für Tausende von Schillingen pochoir-Drucke erstanden, die nichts anderes als unverantwortlicherweise signierte lithographische Reproduktionen sind. Natürlich kauft man nur die geläufigen Namen, Léger, Braque, Matisse usw., obwohl man für das gleiche Geld Gouachen von Hollegha, Mikl, Prachensky und Rainer erhandeln könnte. In Düsseldorf oder Paris kann es geschehen, daß Ausstellungen junger Maler am Tag der Eröffnung zur Gänze verkauft werden und die Sammler schon Stunden vor dem offiziellen Termin erscheinen, um sich die besten Stücke zu sichern. In der Landes- und Kulturmetropole Wien sind Kunstausstellungen oft vierzehn Tage nach der Eröffnung von den Tageszeitungen noch nicht einmal angezeigt, geschweige denn gewürdigt worden, und der Rekord der Interesselosigkeit des Publikums — kein einziges verkauftes Bild — ist hierzulande nicht allzu selten. In Mailand könnte schon der Rücktransport von Ausstellungen entfallen, weil kein Bild unverkauft blieb, und in Bern mußten ganze Expositionen als unverkäuflich deklariert werden, weil man sich der Zudringlichkeit ungebetener Interessenten erwehren wollte. Aber in Wien ist es möglich, daß über bedeutende Maler der Gegenwart in den Zeitungen (die allerdings im Ausland niemand liest) nur wenige Zeilen verloren werden.

Josef Mikl, Kopf mit lichten Teilen
Öl, 1960

Überhaupt die Kritik: Welche auf ihre Reputation bedachte Tageszeitung würde es wagen, Theaterpremieren nicht am nächsten Tag zu besprechen? Auch Konzerte (die zumeist nicht wiederholt werden) genießen den Vorzug sofortiger Beachtung. Aber Ausstellungen werden unter Umständen erst dann besprochen, wenn ihr Termin schon abgelaufen ist. (Eine einzige Wiener Tageszeitung hat sich zum Gesetz gemacht, Vernissagen am folgenden Tag zu rezensieren: „Die Presse“). — Architektur-Kritik ist in Wien weitgehend unbekannt. Eine Großstadt kann Jahr um Jahr mit den Scheußlichkeiten und Banalitäten Hunderter von Baulichkeiten, die den Namen Architektur nicht verdienen, bereichert werden — die Kunstkritik kümmert’s nicht. Aber auch die seltenen Fälle gelungener baulicher Leistungen finden, außer in den Fachzeitschriften, keine sachliche Würdigung. So verwandelt sich unversehens das Antlitz einer Stadt, so werden Bausünden begangen, die in Jahrzehnten nicht wieder gutgemacht werden können, ohne daß sich ein nennenswerter publizistischer Widerstand dagegen erhebt.

Das Gesagte gilt auch für die Kirche, insofern sie als Bauherr auftritt. Gewiß ist die Kirche noch immer einer der größten und für die Künstler interessantesten Auftraggeber, aber wieviel Möglichkeiten werden hier vertan oder bleiben ungenützt! Jahrelang können gotische Dome, deren gläserne Wände zur Zeit ihrer Schöpfung die mystische Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem repräsentierten, trivial verglast bleiben, ohne daß jemand das Bedürfnis empfindet, die Meister unserer Zeit — Christen wie Nichtchristen — für die Erneuerung heranzuziehen. Léger, der in Audincourt die vierzehn großen Fenster der Passion geschaffen hat; Matisse, der Vence in hohem Alter als sein Hauptwerk vollendete; Georges Rouault, der geistige Erbe Léon Bloys — sie alle sind tot, ohne daß man sie gerufen hätte. Herbert Boeckl hat das Triptychon seines Flügelaltares noch im Depot stehen, und kein kirchliches Bauamt hat Interesse an diesem expressiven Kunst- und Glaubenswerk. Dafür füllen Legionen von modernistischen Produkten (vom guten alten Kitsch nicht zu sprechen), für das teure Geld der Kirchensteuerzahler erworben, die Kirchenräume.

Das Kirchenbauprogramm der Diözesen ist imponierend und macht ihrem pastoralen Auftrag alle Ehre; es wird nach zeitgemäßen soziologischen Gesichtspunkten mit wissenschaftlicher Akribie erstellt. Aber die Gabe der Unterscheidung der Geister, im künstlerischen wie im spirituellen Sinne, mangelt den Auftraggebern. Nichts mehr wird historisierend gebaut, fast nichts aber auch wirklich modern (wenn diese Vokabel die zeitgemäße Schöpfung bedeuten soll). Sedlmayrs fataler „Verlust der Mitte“ schreckt manchen Wohlmeinenden, und Dilettanten ziehen als Apostel der Angst umher, die Kirche könnte auf dem Weg der Kunst in das Fangnetz von Gnostikern und Freimaurern fallen. So bleibt, was produziert wird, halbschlächtig und ohne wegweisende Kraft, und der Kult muß großer Symbole entbehren. Eine seit langem nicht mehr bestehende Tradition bildet den Vorwand, die schöpferischen Begabungen und Talente sich im Warten verzehren zu lassen. Frankreich hat sein Assy, sein Ronchamp, sein Vence — Österreich begnügt sich mit den kleinen Kirchen von Salzburg-Parsch (Arbeitsgruppe 4; Kokoschka, Wotruba, Mikl), von Kapfenberg-Schirmitzbühel (Schuster; Hoflehner, Bertoni), von Innsbruck-Arzl (Architekt Lakner), begnügt sich mit Uhls Studentenkapelle (Wien, Ebendorferstraße) und mit Gsteu-Achleitners Restaurierung der Rosenkranz-Kirche (Wien-Hetzendorf), um vom wenigen einiges zu nennen.

Die Wiener Galerien haben sich vermehrt, ihr Programm hat sich internationalisiert, die österreichische Beteiligung an künstlerischen Aktionen und Manifestationen im Ausland wächst, die Gespräche über das Thema der Kunst von heute reißen nicht ab. Ausländische Kritiker, Sammler und Museumsleute beginnen das Land vor dem Eisernen Vorhang zu besuchen, nachdem sie Polen und Jugoslawien bereist haben. Wotruba und Hoflehner sind international geworden (und Schiele, Klimt, Gerstl werden es langsam auch). Die Künstler selbst stagnieren nicht; sie arbeiten auch ohne Publikum. Allmählich wächst im Schweizergarten der erste Museumsbau empor, den Österreich für die moderne Kunst errichtet. Wird die Eröffnung dieses Museums der Anlaß sein, den Österreichern zu beweisen, daß es in diesem Lande eine lebende Kunst gibt?

Wladimir Weidlé hat uns mit dem Hinweis gedroht, daß die Musen sterblich seien — sollte es nicht genügen, die Österreicher damit zu schrecken, daß die Musen aus diesem Lande emigrieren könnten?

(Photographien aus dem Besitz der Galerie St. Stephan, Wien.)

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