FORVM, No. 96
Dezember
1961

Erstarrte Reflexe der Linken

Wer sind Sie, verehrter und geneigter Leser? Sie sind das eine gerade nicht: verehrt. Und Sie sollen das andere nicht scheinen: geneigt. Heutzutage werden Sie als Ungeneigter genommen und als Unverehrter behandelt. Es wird Ihnen die Meinung gesagt. Sie werden beschimpft. Beschimpft als Massenmensch, Materialist, Saturierter, als Klerikaler, Konformist, alter oder neuer Nazi, als Restaurateur, sprachloser Schwätzer, Autoritätshöriger, als dieses Blödsinnige und das Verächtliche und jenes Sträfliche. Und Sie haben sich, unverehrter Leser, so sehr an diese Anathematik gewöhnt, daß Sie nun schon danach verlangen. Ein voller Erfolg Ihrer Verfolger.

Sie kommen, mir vor wie jenes Kind, das jeden Abend vor dem Schlafengehen verprügelt wurde und eines Abends, als die Prügel einmal ausblieben, schlaftrunken bettelte: „Mama, bitte Popo verhauen!“

Immerhin, wir Kinder werden älter, und es ändert sich wenn nicht die Substanz unserer Naivität, so doch ihre Form. Man entwickelt die Technik, sich augenzwinkernd auf die Seite der Zuchtmeister zu schlagen. Dann trifft es hoffentlich „andere“. Und diese Chance haben Sie, unverehrter Leser.

Hingegen brauchen Sie Ihr Leben nicht zu verändern. Das tut der Angreifer auch nicht. Er bezieht von vornherein einen Standpunkt oberhalb und außerhalb des anonym beschimpften Publikums. Er gehört von vornherein zu den Guten.

Das ist der Mechanismus dieses neuartigen Erfolgs. Er verursacht nicht die geringsten moralischen Kosten. Man gehört zu den Guten — wer wünschte das nicht? Man verurteilt den Krieg — wer täte das nicht? Man beweist, daß Christus vollkommener war als die angeblich christlichen Politiker unserer Tage — wer wüßte das nicht? Man wirft den demokratischen Sozialisten Mangel an Konsequenz vor — wem könnte man das nicht vorwerfen? Und man ist gegen Lumpen — ja wer wäre das nicht? Kurz, man ist schlichten Gemütes für das Gute, und das ist gut für schlichte Gemüter.

In diesen harmlosen Markenwagen rattern sie, jeden Augenblick einer Überholungskarambolage gewärtig, über die Autobahn des Erfolgs auf das ungeliebte Ziel, das Publikum zu, und das Publikum empfängt jubelnd die schweren Jungen, die mit stolzem, leerem Blick in die Triumphstraße einfahren. Je stolzer und abweisender, um so besser. So wollen wir unsere Lieblinge.

Wehe, wenn einer darunter ist, der freundlich und sorgenvoll lächelt, anhält, aussteigt und sich im Gespräch als ein schlichter Mitbürger erweist! Wie kam denn der überhaupt bis hierher? fragen die Leute. Und wenn er sagt: Ihr seid so schlecht nicht, liebe Leute, sagen die Leute: Idiot. Und wenn er sagt: Auch ich bin schlecht, sagen die Leute: Da haben wir’s, aber das wollen wir gar nicht wissen. Und wenn er sagt: Meine Lieben, Sie und ich, wir haben ein schweres Gewissen, sagen die Leute: Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck. — Wehe nämlich, wenn einer die Routine, den Mechanismus, die Konvention der Slogans verletzt! Wehe, wenn er gar zu sagen wagt, die Bäume, die diese Donnerer mit ihren Blitzen treffen, seien längst ausgebrannt oder bloß von ihnen errichtete Kulissenbäume aus Pappe.

Wehe, wenn sich einer die selbstmörderische Unabhängigkeit leistet, an der Gebetmühle der guten Phrasen nicht mitzudrehen! Wenn er es wagt, die Schlagworte, die man Ihnen zu Ihrer masochistischen Freude täglich auf den Kopf gibt, in Frage zu stellen und dabei zu anderen Ergebnissen kommt, als es die literarisch-publizistische Konvention heute und hier will. Er kann gewiß sein, daß die Leute gelangweilt beiseite blicken. Ein Studienfreund und überzeugter Parteigänger der CDU sagte mir einmal bei Erörterung dieses Sachverhaltes: „Weißt du, wenn ich tagsüber meine Pflicht im Arbeitsministerium getan habe, ziehe ich mich abends in eine gemütliche Ecke zurück und lese Romane und Aufsätze linksgerichteter Schriftsteller. Abends möchte man schließlich mal was anderes haben.“

Das ist’s. Das Bürgertum will mißhandelt werden, allerdings nur abends und gemütlich in der Ecke sitzend. Zirkus, Kabarett — für aufgekratzte Bürger. Die einfachern Leute gehen in die Volkshochschule.

Willige Prügelknaben

Ich werde nie das gute Gewissen begreifen, mit dem Heinrich Böll (um von einem wirklich ernsten Mann zu reden) unermüdlich gegen die Deutschen polemisiert. Er ist 1917 geboren, er gehörte nicht zu der Generation, die ihren Kaiser Wilhelm wieder haben wollte oder den noch nicht entjungferten Kommunismus begrüßte und schließlich verzweifelt den Staat an den Proleten aus Braunau ablieferte. Aber er war 22, als der Nazikrieg ausbrach und was haben die durchschnittlichen Deutschen Schlimmeres getan als er oder ich? Die Leute sagten 1933: Hitler wird in einem halben Jahr abgewirtschaftet haben. Das war ein Irrtum, den Böll und ich nicht teilten. (Die meisten Deutschen glaubten nämlich, das Nazi-„Programm“ sei nicht ernst gemeint.) Aber dann? Haben Böll und ich Widerstand geleistet? Sind wir im Konzentrationslager gesessen, erschlagen worden oder wenigstens in Strafkompanien gewesen? Sind wir dazwischengesprungen, als vor unseren Augen die deutschen Juden zusammengetrieben und zusammengeschlagen wurden? Ist uns vor Grauen über das, was in den Konzentrationslagern geschah, der Bissen im Hals steckengeblieben? Sind wir emigriert? Oder, wenn wir als Unbekannte schon nicht wußten wohin, sind wir wenigstens bei der ersten Gelegenheit desertiert wie Alfred Andersch? Nichts von alledem. Wir sind brav in Hitlers Krieg gezogen. Ich habe den Eindruck, Böll kann es dem deutschen Volk nicht verzeihen, daß er brav in Hitlers Krieg gezogen ist.

Außer Verbrechen, die auf Charakterfehlern beruhen und auf die nicht nur die Literaten, sondern alle halbwegs anständigen Menschen reagieren, gibt es schließlich politische und geistige Meinungsverschiedenheiten, die man nicht auf Charakterfehler zurückführen dürfte. Sollte es sich aber teilweise wirklich um das handeln, was den Deutschen immer wieder vorgeworfen wird, nämlich weniger um Meinungen als um Egoismen oder Lässigkeiten, so haben wir überlebenden Literaten nicht das geringste Recht, uns von der Kritik auszunehmen. Die totale Polemik, die von sich selbst absieht und das ganze Volk heruntermacht, enthüllt sich ihrerseits je länger je mehr als ein Charakterfehler — oder als die lässige Pflege eines Tricks, der sich als zugkräftig erwiesen hat. Was auf dasselbe hinausläuft. Im günstigsten Fall handelt es sich um Gewissensernst, der nicht ernst genug ist, da er für sich selbst eine unglaubhafte, unverdiente Integrität beansprucht.

Wir überlebenden Literaten haben diesem Volk nicht mehr vorzuwerfen als uns selbst. Daß wir, von Herkommen und Umgang zum Feind der Nazi bestimmt, überleben wollten und unseren Kompromiß schlossen oder uns einfach fügsam verhielten, Masken trugen oder stumm blieben, das mag alles verständlich sein, es mag uns sogar verziehen sein, aber — können wir uns das vergessen? Meine erzählenden und sonstigen Schriften zeugen davon, daß ich bis an mein Lebensende an einem schweren Gewissen tragen werde. Und ich kann nur hoffen, daß der oder jener Generationsgenosse sich beim Lesen sagt: ja genauso war es, ja wir wollen uns das nicht vergessen. Das ist alles. Und sollte ich mit dieser Hoffnung „Erfolg“ haben, so ist es kein kostenloser Erfolg, denn ich investiere mein eigenes — beschädigtes — Renommée. Ich denke, Sie verstehen, daß einen so etwas nicht leicht ankommt. Ich repräsentiere nämlich kein Gewissen der Nation, ich repräsentiere mein eigenes Gewissen, und das ist schwer von Schuld: von Kompromiß, Unterlassung und Feigheit. Aber ich sah wenigstens nie einen Grund, weshalb ich das, wie so viele andere, hinterher hätte verheimlichen sollen. Schon das erste Wort, das ich nach dem Krieg in der Zeitschrift „Die Wandlung“ schrieb, ging von diesem schweren Gewissen aus; in der Hoffnung, das Gewissen der Leser lasse sich vielleicht davon mitreißen.

Kostenlose Rückversicherungen

Aber ich habe mir geschworen: nicht noch einmal. Und ich weiß, so wie ihr alle es wißt, daß der neue Terror nicht noch einmal von den Nazi kommt, sondern daß er im Kommunismus heranzieht. Ich brauche nur an die dreieinhalb Millionen Menschen zu denken, die aus der Sowjetzone geflohen sind, und ich weiß Bescheid. Und ich kann euch sagen: Nicht leicht bringt man den Mut auf, sich auf die Proskriptionsliste der Kommunisten setzen zu lassen. Es ist bei Gott für einen Schriftsteller in diesen Jahrzehnten ein schwerer Entschluß, keine Rückversicherung einzugehen und keine Flucht nach vorn zu unternehmen, wenn sie ihm moralisch so leicht gemacht wird: ein paar kostenlose „gute“ Sprüche und weiter nichts. Aber es ist heute so, wie es immer auf dieser Welt war: die wirklichen Untäter zu brandmarken kostet einiges. Die Kosten muß man selbst zu tragen bereit sein. Man kann sie nicht versichern.

Wir sind zwar in den letzten Jahren zu der stillschweigenden Übereinkunft gelangt, den Verächtern unserer Gesellschaftsform keine Flucht nach vorn und keine Rückversicherung nachzusagen, aber ich kündige hiemit diese unfaire Übereinkunft. Wozu diese Vorgabe? In jedem einzelnen dieser Fälle spielt der beruhigende Gedanke mit, jetzt nichts und im Notfall auch nichts befürchten zu müssen. Und wie einfach das doch ist: Man ist für das „Gute“ — dagegen kann kein Mensch etwas einwenden; man übt die verbriefte, ermutigte, ja anbefohlene Freiheit des Wortes aus und ist sensationeller Aufmerksamkeit sicher; und bei den Kommunisten steht man, sozusagen ohne sein Zutun, als „kritischer Realist“ in der Anwärterkartei; man bekommt dann gegebenenfalls die Chance, zum sozialistischen Realisten aufzurücken. Da ist man doch auf jeden Fall fein heraus! Zeigt mir eine prächtigere politische Lebensversicherung! Heureka! Sie haben eine Marke „guter Mensch“ entdeckt, mit der sie herrlich gegen den verfaulten Westen polemisieren können, die Gegnerschaft gegen den Kommunismus für dumm erklären dürfen und sich ungewollt einen guten Platz auf der roten Kartei sichern. Die Freiheit der Völker vor dem bolschewistischen Strick dürfen sie freilich nicht bereden, sondern immer nur die Freiheit vor dem westdeutschen „autoritären Regime“. Sie haben für ihre Person die Quadratur des Zirkels gefunden, indem sie über Nichts reden und gegen Nichts donnern. O ahnungsloser Sokrates! Bemitleidenswerter Cato in Utica!

Warum aber kam es zu jener stillen Übereinkunft, hinfort den Vorwurf der Rückversicherung fallen zu lassen? Weil man den Dolus nicht beweisen kann. Ins Herz kann man den Leuten nicht blicken. Aber — man kann von der Zunge auf das Herz schließen. Da ist im August 1961 ein Büchlein erschienen, worin sich zwanzig Schriftsteller für „Die Alternative“, nämlich die Sozialdemokratie erklären. Noch nie ist mir eine naivere Selbstentlarvung vor Augen gekommen. Die meisten der zwanzig finden gar nichts dabei, für die Sozialdemokratie zu werben und gleichzeitig über diese Partei die Nase zu rümpfen:

„Hoffnung ..., daß die SPD aus purer Unsicherheit hie und da das Rechte ... tun wird.“ — „... bedenklich, daß die SPD inzwischen auf ihre Weise an der Diffamierung der Intellektuellen sich beteiligt ...“ — „Bei allen Skrupeln, diversen Vorbehaltungen, Einwänden, Abstrichen, Gewissensbissen, Angsten, bösen Vorausahnungen: SPD.“ — „Ohne Begeisterung ... wähle ich ...“ „... das kleinere Übel ...“ — „... das geringere Übel ...“ — „... das kleinere Übel ...“ — „Vieles an der sozialdemokratischen Partei erfüllt mich mit Sorge.“ — „... wähle ich die sozialdemokratische Partei ohne jede größere Erwartung“ — „... müßte sie doch um ein Gran weniger anfällig sein. Eine winzige, recht winzige Hoffnung.“ — „Wenn mir nur eine Alternative angeboten wird, hat es keinen Sinn, nach einer zweiten zu schreien ... dennoch ein schwerwiegender Vorbehalt ...“

Einige Autoren — Siegfried Lenz, Christian Ferber, Inge Scholl, Hans Werner Richter — unterscheiden sich deutlich von der Mehrheit der Artikelschreiber, da sie eigentlich Liberaldemokraten oder — wie Richter — echte Sozialdemokraten sind; Scholl hat eine ausgezeichnete politische Grundüberlegung beigesteuert.

Aber die Mehrheit dieser Leute? Was ist mit ihnen? Sie sind links und halten die CDU für verbraucht, unberechenbar, gefährlich. Mögen sie. Aber warum halten sie auch von der SPD nichts? Weil sie nicht „antiklerikal“ genug ist. Weil sie nicht „sozialistisch“ genug ist. Weil sie nicht „antimilitaristisch“ genug ist. Also weil sie für Toleranz, für demokratischen Wettstreit und für nationale Freiheit und die Mittel zur Sicherung dieser Freiheit ist. Diese Ablehnung der SPD beweist entweder, daß die Artikelschreiber überhaupt keine Beziehung zu prinzipiell freiheitlicher plus konkreter, umständebedingter Politik haben oder daß sie sich den Rücken frei halten wollen. Freischwebend links mit demonstrativer Abneigung gegen die Sozialdemokratie, freischwebend links mit demonstrativem Hohn für die westliche Lebensordnung, freischwebend links mit verlegenem Schweigen über die Terrorisierung Europas östlich der Elbe, freischwebend links mit verlegenem Schweigen über Berlin — höchstens, daß sie sagen, wir hier hätten es in der Ostzone und Berlin „so weit kommen lassen“ ... Was soll die Sozialdemokratie mit solcher geistigen Hilfe? Was soll überhaupt die freie Welt mit „Beiträgen“ solcher Patentversicherter?

Ich sehe nicht ein, warum ich meine Gesinnung und mein aktuelles politisches Urteil hochtrabend vernebeln sollte. Ich bin z.B. kein Sozialdemokrat. Aber das hindert mich nicht, mit Wenzel Jaksch, so oft ich ihn sehe, in der Verurteilung der gespielten Verharmlosung der bolschewistischen „Chimäre“ unmißverständlich einer Meinung zu sein. Das hindert mich auch nicht, die Sozialdemokratie für eine ehrenwerte politische Gruppierung anzusehen. Ich hätte noch das erste verächtliche Wort an ihre Adresse zu richten. Zwar billige ich die Außenpolitik der CDU, aber ich bin überzeugt, daß auch für die SPD die politische Freiheit unseres Volkes an erster Stelle steht. Und das ist in diesen Jahrzehnten die Hauptsache.

Nun mögen Sie die letzte Frage stellen, die eigentlich die erste ist: Warum sind denn diese Literaten überhaupt links? Woher stammt dieses Klima? Das muß doch einen einsichtigen Grund haben.

Ich behaupte: Diese Haltung ist nichts als ein erstarrter historischer Reflex.

Jahrhundertelang hatten die freien Geister gar keine andere Wahl, als grundsätzlich oppositionell zu sein. Die Freiheit des Denkens mußte den Kirchen abgerungen werden, die Freiheit des Individuums den absolutistischen Herrschern, die Chancengleichheit den privilegierten Ständen. Geist und Opposition waren also Korrelate. Im Laufe der Zeit hat sich die Opposition in den Parlamenten mit dem Begriff links bezeichnet. Freiheitlicher Geist und links wurden identisch.

Aber seit echte parlamentarische Demokratien installiert sind, regieren wir uns selbst. Der Unterschied zwischen den modernen Demokratien und den absolutistischen Regimen besteht auf jeden Fall darin, daß wir heute Rechte besitzen, die vor Verlust und vor Mißachtung geschützt werden müssen, während sie damals erst errungen werden mußten. Es hat sich herausgestellt, daß die Frischhaltung dieser Rechte, der Wille zur Freiheit, das Bewußtsein ihres Wertes nicht weniger schwierige Aufgaben bieten als ihre damalige Eroberung. Aber grundsätzlich erfordern diese Aufgaben eine ganz andere Einstellung zum „Staat“ als damals. Geist ist heute nicht mehr gleichbedeutend mit grundsätzlicher Staatsfeindschaft, sondern mit gemeinsamer Anstrengung für das gemeine Wohl, gleichgültig, ob ich mich zeitweise zur mehrheitlich gewählten Regierung in Opposition befinde oder nicht. Opposition innerhalb der Demokratien ist etwas völlig anderes als innerhalb eines absolutistischen (oder eines autoritären) Staates.

Und nun fällt die Antwort auf unsere Frage von selbst. Da diejenige linke Position, die mit dem freiheitlichen Geist identisch war, weil sie gegen feudale Privilegien zu kämpfen hatte, inzwischen gegenstandslos geworden ist, haben unsere linken Literaten eben keinen Gegenstand mehr. Daher können sie nur vag links sein. Sie halten aus trägem Analogiedenken und mit fixiertem historischem Reflex an einer sachlich verschwundenen Position fest. Und da sie schon selbst mit Fossilien statt mit Lebendigem umgehen, nimmt es weiter nicht wunder, wenn junge Literaten in dieselbe Denkhaltung hineinwachsen. Welch Glück für die Alten: so fangen sie den Generationsschub ab! Ich habe mich lange gefragt, wieso eine so hübsche Schar begabter Knaben blindlings diesem Unsinn zum Opfer fällt. Die Frage erledigt sich, sobald man entdeckt, daß auch ihre Lehrmeister nicht am lebenden, sondern am versteinerten Objekt demonstrieren. Da wird eine längst gegenstandslose, bestrickende Scholastik von Generation zu Generation weitergegeben. Nicht die Sachen, sondern die Formeln studiert man. Hei, wie sich da das Gehirn schärft! Sollte man nicht die Sozialdemokratie daran teilhaben lassen?

Die Politiker sind klüger

Aber mit Zorn stellen sie plötzlich fest, daß die Sozialdemokratie nicht mehr „links“ steht. Wütend werfen sie ihr Verbürgerlichung vor. In Wahrheit haben die hellen Köpfe dieser Partei bemerkt, daß sich die alten Sachverhalte teils in nichts, teils in gänzlich neue Formen der Massengesellschaft aufgelöst haben. Sie haben bemerkt, daß es auch in der modernen Massengesellschaft Aufgaben gibt, die anzupacken ihnen gut ansteht, weil sie andere Vorstellungen von ihrer Lösung haben als die führenden Köpfe anderer Parteien. Aber es handelt sich um tatsächliche Aufgaben und nicht um leere veraltete Analogien. Es hat, wie es bei einer so alten Partei nicht anders zu erwarten ist, eine gute Zeit gedauert, bis die neuen Sachverhalte gesehen, formuliert und schließlich zur Grundlage des Handelns gemacht wurden, aber der Prozeß der Neuorientierung scheint in vollem Gang zu sein.

Wie? Ein paar harmlose Politiker wären gescheiter, schneller und dem Geist der Zeit näher gewesen als die emsig formulierenden Literaten? Genau das. Während das Verdienst der SPD darin besteht, sich neuerdings auf die industrielle Massengesellschaft zu beziehen, und während das Verdienst der CDU darin besteht, den jahrhundertealten politischen Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus beseitigt zu haben, stehen diese vag linken Literaten verdutzt daneben und enthüllen sich als die altertümlichsten, unbrauchbarsten, verkalktesten Gebetsmühlendreher.

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