FORVM, No. 293/294
Mai
1978

Es war Vatermord

Friedrich Adlers Attentat vom 21. Oktober 1916
Bild: Kikeriki, 5. November 1916

Dem alten Herrn bleibt nichts erspart

Der Gast war Ende Dreißig und fiel mit seinem dunklen Jackett unter den Adeligen, Beamten und Offizieren im Lokal nicht weiter auf. Mit seinem Wuschelkopf, mit Brille und Schnauzer mochten ihn die Stammgäste im Speisesaal im ersten Stock des Hotels Meißl & Schadn in der Wiener Kärntner Straße für einen Künstler oder Journalisten halten. Er aß Reibgerstlsuppe, Rindfleisch mit Kohl, trank dazu Gießhübler Mineralwasser, als Dessert nahm er Pflaumenkuchen, am Schluß einen schwarzen Kaffee. Er zahlte acht Kronen und zwei Heller, steckte die rechte Hand in die Jackentasche und erhob sich. Die Saaluhr zeigte auf halb drei. Der Ministerpräsident drei Tische weiter hatte nach dem Mittagessen gerade seinen Likör getrunken und hielt eine Zeitung in der Hand. Der Attentäter legte die letzten Schritte fast laufend zurück. Karl Graf Stürgkh wandte ihm den Kopf zu und zog die Augenbrauen hoch. Die Mündung des Brownings war etwa einen halben Meter von der Stirn entfernt, als die beiden Projektile sie durchquerten. Ein drittes ging fehl. Der rechte Augapfel des Toten war stark vorgetrieben.

Der Attentäter gewann den Ausgang des Saals, wo ihn der Zahlkellner Fruhmann, vormals in Amerika Mitglied eines Athletikklubs, mit starkem Arm umfing. Offizierssäbel blitzten, Sessel wurden geschwungen, ein vierter Schuß löste sich. „Ich bin der Doktor Adler, ich werde es vor Gericht rechtfertigen!“

Im Arrestantenwagen zog der Polizeirat die Rouleaus herunter, und es entspann sich folgender Dialog zwischen Fritz Adler und Johannes Schober, dem späteren Bundeskanzler und Außenminister der österreichischen Republik:

SCHOBER: Was ist Ihnen denn eingefallen!
ADLER: Eingefallen! Können Sie sich nicht in mein Inneres hineindenken ? Wo alles in unserer Partei so feig ist und niemand Ideale hat? Ich habe mein Leben in die Schanze geschlagen, um den Zuständen ein Ende zu machen!
SCHOBER: Was wollten Sie damit erreichen?
ADLER: Ich habe schon lange Zeit an die Möglichkeit, irgendeine befreiende Tat zu verüben, gedacht ...
SCHOBER: Haben Sie an Ihren alten Vater gedacht?
ADLER: O ja! Er muß es ertragen!

Leben in die Schanze, den Zuständen ein Ende, der Vater muß es ertragen ... in diesem Aufschrei sind alle Elemente des psychopolitischen Dramas vereint, ist das Persönlichste mit dem Entferntesten verbunden. Allein das Wort „Zustände“ bringt so verschiedene Dinge auf einen Nenner wie den Krieg, die Welt, die Zuständ in Wien, die Regierung, die Partei, die Parteiwirtschaft (die Druckerei, die Zeitung, die Brotfabrik), den Vater, der den Sohn mit all diesen Zuständen umzingelt, Pater familias, Pater patriae, es geht nicht mehr ... befreiende Tat! Er muß es halt ertragen, wie dem alten Herrn in Schönbrunn bleibt ihm nichts erspart.

Verführung des Imperialismus

Beginnen wir die Analyse am äußersten Kreis. Was waren die „Zustände“ in der Welt am Samstag, den 21. Oktober 1916? Der Erste Weltkrieg stand in der Halbzeit und hatte sich totgelaufen. Die Westfront war im Sommer 1916 in Verdun endgültig zum Halten gekommen, zugleich hatte im Osten die Brussilow-Offensive den Russen Geländegewinne gebracht. Im August waren die Italiener in der 6. Isonzoschlacht vorgestürmt. Nur an der weichen Balkanflanke in Rumänien ging es für die Mittelmächte voran. Es handelte sich jetzt nicht mehr um den Sieg, sondern darum, wer als erster zusammenbrechen würde. Aufgrund ihrer inneren Konstruktionsschwäche waren dazu in erster Linie Rußland und Österreich prädestiniert.

Friedrich Adler wurde in seinem Gefühl, daß etwas geschehen müsse, daß eine revolutionäre Krise heranreifte, nicht getrogen. Am 8. März 1917 stürzte der Zar — ein halbes Jahr nach Stürgkh. Der Krieg aber ging unter der Regierung der russischen Mehrheitssozialisten weiter. Es dauerte weitere anderthalb Jahre, bis die Mittelmächte militärisch zusammenbrachen und am 9. (bzw. 11.) November 1918 die Kaiser in Deutschland und Österreich abtraten. Diese entscheidende Zeitverschiebung zwischen dem Zusammenbruch der russischen und der österreichischen Militärmaschine bedeutete auch die Unmöglichkeit der europäischen Revolution. Nach der Machtübernahme der Bolschewiki in Petersburg (7.November 1917) fiel die Ostfront zusammen, und als der Jännerstreik 1918 in Wien und Niederösterreich besiegt wurde, wälzte sich die Militärmaschine der Mittelmächte im Februar/März 1918 bis weit in die Ukraine hinein.

Diese in der Geschichtsschreibung euphemistisch „Brest-Litowsker Friede“ genannte Katastrophe verlängerte die Frist der Habsburger und Hohenzollern um ein weiteres halbes Jahr. Der „Brotfriede“ mit seinen Nahrungsmittellieferungen aus der Ukraine korrumpierte und ruinierte die mitteleuropäische Arbeiterbewegung und damit die europäischen Revolutionsaussichten („Sozialimperialismus“). Die gesamteuropäische Revolution scheiterte nicht erst — wie der linke Common sense heute noch glaubt — mit den bayrischen und ungarischen Räterepubliken im Frühjahr 1919, sondern bereits im Jänner 1918, als es der Sozialdemokratie gelang, vom Streik auf den Brotfrieden umzusteigen. Es war das genau die Politik, die Fritz Adler mit seinem Attentat blockieren wollte, gegen die er mit Leidenschaft agitierte. Als er im Frühjahr 1917 in der Zelle seine Verteidigungsrede fürs Gericht konzipierte, schrieb er:

In diesem Kriege treten überall die Verführungen des Imperialismus an das Proletariat heran. Der Sieg soll ein größeres Wirtschaftsgebiet und damit wirtschaftliche Hebung der Arbeiter des siegreichen Landes bringen. Diese imperialistische Fata morgana, die dem grundlegendsten Klasseninteresse des Proletariats, dem Internationalismus, widerspricht, hat die sogenannte Mehrheit der Sozialdemokratie in Deutschland in den ersten Kriegsstadien gefangen genommen. Sie ist ins imperialistische Fahrwasser eingelenkt. Ihr Imperialismus verteidigt nicht blos das geschlossene deutsche Sprachgebiet, sondern die Integrität des deutschen Reiches (inclusive der französischen und polnischen Teile und der Kolonien), er fordert die Einholung Österreichs und der Türkei, er will Mitteleuropa. Und die Regierungssozialisten hätten Belgien wollen und alles andere, was gut und teuer ist, wenn die Trauben nicht zu sauer gewesen wären. Und ganz im gleichen Fahrwasser bewegte sich die Sozialdemokratie Österreichs, allerdings mit zwei Spielarten. Sie hat Vertreter des reichsdeutschen Imperialismus und Vertreter des speziell österreichischen Imperialismus. Aber in Mitteleuropa fanden sich alle schönen Seelen.

Der Staat haut nicht zu

Der Hebel zum Umsturz des Staates war für Fritz Adler der Umsturz in der eigenen Partei, der imperialistische Moloch war zuerst in der eigenen Partei zu besiegen. Fritz glaubte nicht, daß er mit der Erschießung des Ministerpräsidenten den Staat oder die herrschenden Klassen schwächen könnte, wie das die naiven Anarchisten alter Schule taten. Im Gegenteil, er erhoffte sich gerade aus der Verschärfung der Beziehungen zwischen Staat und Partei als Folge seiner Tat ein Ende der Umarmung und Verfilzung, eine klassenkämpferische Reinigung.

Er irrte sich gründlich. Die Partei distanzierte sich, und der Staat liberalisierte sich. Die Arbeiter-Zeitung hob am nächsten Tag (22. Oktober 1916) Fritz Adlers „Gegensatz zu der Partei“ hervor; sein Vater habe die Arbeiterklasse gelehrt, „daß sie nur in ernster und strenger Selbstzucht den Aufstieg aus der Enge und Entbehrung ihres Lebens in hellere Gefilde zu vollziehen vermag“. Stürgkhs zweiter Nachfolger Clam berief für Juni 1917 das Parlament (den Reichsrat) ein, was Stürgkh immer verweigert hatte, und im Vorfeld dieses freudigen Ereignisses konnte Fritz Adler am 18. und 19. Mai 1917 in öffentlicher Verhandlung sechs Stunden lang eine brillante Polemik vom Stapel lassen; durch die Zeitungsberichte wurde er zu einer weltberühmten Figur. Das Todesurteil wurde nicht vollstreckt, wie Fritz es anfangs erwartet hatte, sondern im September 1917 in eine 18jährige Gefängnishaft umgewandelt, die zugleich mit der Monarchie endete. Wie immer wurde das Habsburgerreich in der Niederlage liberal.

Wenn man nicht voraussetzt, daß Fritz Adler als einzelner den Lauf der Geschichte hätte ändern können, dann hat das Jahr 1918 seiner Flucht ins Gefängnis eher recht gegeben — seiner „Verzweiflungstat“, wie Lenin sie in einem Brief aus Zürich an den Wiener Linksradikalen Franz Koritschoner nannte:

Er verzweifelte an der Partei, er konnte nicht ertragen, daß mit dieser Partei zu arbeiten unmöglich ist, daß mit Victor Adler zu arbeiten unmöglich ist, er konnte sich nicht mit der Idee der Spaltung versöhnen, die schwere Arbeit der Tätigkeit gegen diese Partei auf sich nehmen. Und aus Verzweiflung — Attentat. Verzweiflungsrat eines Kautskyaners (25.Oktober 1916).

Ernst von Koerber (1850-1919)
war 1900/04 und von Oktober bis Dezember 1916 k. k. Ministerpräsident. Von ihm erwartete man die Beseitigung des Notverordnungsregimes („§ 14“). Unter seiner Ägide starb Franz-Josef I. (am 21. November 1916, einen Monat nach Stürgkh).

Wo blieb die USPÖ?

Adlers Attentat verdeckte, verschob, verstellte einen Tatbestand, der in Deutschland bereits klar zutage lag: die faktische Aufspaltung der Sozialdemokratie in drei Flügel, einen linken, einen mittleren und einen rechten. Der linke Parteiflügel um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nannte sich nach seinen Publikationen zunächst „Gruppe Internationale“ (April 1915), später „Spartakus-Bund“ (ab 1916, nach den Spartacusbriefen). Das Zentrum um Haase (SPD-Vorsitzender), Kautsky, Hilferding und Ledebour sammelte die Kriegsgegner in der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ (SAG, Anfang 1916 gegründet, nachdem zu Weihnachten 1915 erstmals auch die Zentristen gemeinsam mit Liebknecht im Reichstag gegen die Kriegskredite gestimmt hatten). Die Rechte wurde von Ebert, Scheidemann, David und Noske geführt („Mehrheitssozialisten“). Nach einem weiteren Bruch der Abstimmungsdisziplin im März 1916 wurden Linke und Zentrum aus der SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen.

Im April 1917 gründeten Linke und Zentrum zusammen die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD), die fünf Jahre hindurch bestand und auf ihrem Höhepunkt Mitte 1920 eine Million Mitglieder hatte und nahezu fünf Millionen Stimmen bekam, fast soviel wie die mehrheitssozialdemokratische SPD (sprich MSPD). In den letzten Tagen des Jahres 1918, nach der deutschen „Revolution“, schied der Spartakus aus dem Verband der USPD aus und taufte sich KPD. Im Herbst 1920 trat ein Drittel der Mitgliedschaft der USPD zur KPD über (Levi, Däumig). Im Herbst 1922 schließlich vereinigte sich die Rest-USPD (Kautsky, Hilferding) wieder mit der MSPD. Die Kurve des Zentrums war geschlossen.

In Österreich gab es dieselben Bruchlinien, die Linksradikalen spalteten sich nach Kriegsende ab — nur kam es nie zum offenen Bruch zwischen Zentrum und Rechten. So wurde Österreich zum Mekka des zentristischen Einheitsmythos. Das Zentrum formierte sich um Otto Bauer, Friedrich Adler und Robert Danneberg; da Otto Bauer 1914-1917 in russischer Kriegsgefangenschaft saß, fiel Fritz Adler die Führerschaft zu. Er unterstellte sich der geistigen Anleitung Karl Kautskys, des Vaters der Marxorthodoxie — wie dieser war er Redakteur des theoretischen Organs der Partei (hie Kampf, dort Neue Zeit). Dem Untersuchungsrichter gestand Fritz Adler, daß ihm der Führer der deutschen Parteiopposition, der Abgeordnete Hugo Haase, bei einem Besuch in Wien im April 1915 erzählt habe, „welches Interesse die Opposition in Deutschland daran habe, daß auch in Österreich eine international gesinnte Richtung vorhanden sei, da ja die Mehrheit in Deutschland einen starken Stützpunkt gerade in Österreich, und insbesondere durch die Deckung ihrer Politik durch meinen Vater findet. Haase und Kautsky haben mir auch wiederholt später gesagt, daß sich die Scheidemann und Ebert nicht so weit vorgewagt hätten, wenn sie nicht die Gutheißung meines Vaters gehabt hätten.“

Linksradikale wühlen

Im Sog der deutschen SAG-Gründung belebte Fritz Adler einen seit 1911 bestehenden Parteischülerverein namens „Karl Marx“ im März 1916 neu und hatte damit eine legale Plattform für fraktionelle Tätigkeit. Zu Adlers kleinem „Zentrum“, das nicht mehr als 120 Mitglieder gewann, stieß eine noch kleinere linke Gruppe. Ihr Führer war Franz Koritschoner, ein Neffe Hilferdings, Bankbeamter und Jusstudent, später der wichtigste Führer der KPÖ in ihrer Anfangszeit. Koritschoner hatte mit einigen linken Studenten und russischen Emigranten bolschewistischer Richtung im Winter 1915/16 ein „Aktionskomitee der Linksradikalen“ gegründet.

Sie traten dem Karl-Marx-Verein bei. Ein gestandener Sozialdemokrat unter den „Marxianern“ schildert das Treiben dieser Clique in einem empörten Brief an Fritz Adler so: „Mit Bedauern habe ich wahrgenommen, daß eine Gruppe jugendlicher und fremdsprachiger Genossen unsere Tribüne zum Tummelplatz für ihre wilde, jeder Klarheit entbehrende sogenannt ‚revolutionär‘sozialistische Phraseologie gemacht hat.“ Die Genossin Therese Schlesinger hätte gar angedeutet, daß man den Weg auch ohne die Partei gehen könnte, und Beifall geerntet ... (Therese Schlesinger war dann 1919-1923 brave sozialdemokratische Nationalrätin).

Diesen Weg der Konfrontation bis zum Bruch ging man in Deutschland auf der Reichskonferenz im September 1916, wo Zentrum und Linke immerhin 40 Prozent der Delegierten hinter sich brachten. Als sie auf einer eigenen Konferenz im Jänner 1917 Heerschau hielten (ein Viertel der Delegierten kam vom Spartakus), konnten sie immerhin den Parteivorsitzenden, einige Lokalorganisationen, das theoretische Organ und etliche Tageszeitungen auf ihr Konto buchen. Wo aber blieb die Opposition in Österreich, wo wären die Legionen Fritz Adlers? Auf der ersten Reichskonferenz der „deutsch“österreichischen Sozialdemokratie im Mai 1915 stimmten nur 11 der rund 100 Delegierten mit ihm, auf der zweiten im März 1916 nur 16 der 243 Delegierten. Diese zehn Prozent waren einfach nicht genug, um einen eigenen Verein auf die Beine zu stellen, ja sie reichten nicht einmal zu einer stabilen Opposition. Durch ihre Schwäche konnte die Fraktion in der Revolutionsära dann zum gerne hergezeigten linken Feigenblatt der rechten Mehrheit degradiert werden. Geborgtes Leben!

Wiederauferstehung der Internationale in den Schweizer Bergen

Die deutsche und österreichische Partei standen unter starkem Druck der internationalen sozialistischen Entwicklung, namentlich der Zimmerwalder Friedensbewegung und der russischen Revolution. Die erste Zimmerwalder Konferenz wurde im September 1915 im gleichnamigen Schweizer Bergdorf abgehalten, die zweite im April 1916 in Kienthal und die dritte im September 1917 in Stockholm. Zimmerwald war ein Bündnis des Zentrums mit der Linken wie die USPD, wie der Karl-Marx-Verein. Der Führer der Linken in Zimmerwald war natürlich Lenin, der sich aber bei den Zentristen mit seiner Forderung, den Weltkrieg in allen Ländern in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, nicht durchsetzen konnte. Man einigte sich auf die Formel, einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen zu verlangen.

Österreich war in Kienthal nur durch den Linksradikalen Koritschoner vertreten, Fritz Adler wurde vom Sekretär der Zimmerwalder Konferenz, dem Schweizer Nationalrat Grimm, gar nicht eingeladen, da er diesem zuwenig links erschien (so Adler selbst im Polizeiverhör). Nach Kienthal wollte Adler zwar fahren, es gab aber Einreiseschwierigkeiten, und mit Rücksicht auf seine Partei und seinen Vater brach er die Reise in Salzburg ab (er wollte „nicht illoyal vorgehen“).

Nichtsdestoweniger war Fritz Adler einer der ersten, die auf den Zimmerwalder Aufruf reagierten: Am 3. Dezember 1915 verfaßte er ein Manifest mit der Überschrift „Die Internationalen in Österreich an die Internationalen aller Länder!“, in dem er die Hoffnung ausdrückte, „daß dieser Krieg ohne Sieger und ohne Besiegte in allgemeiner Ermattung sein Ende finden [möge] und daß damit der Wunsch in Erfüllung gehe: Allen Regierungen die Niederlage und allen Völkern die Unbesiegbarkeit.“ Er kam sogar Lenin entgegen mit der Formulierung: „Unsere Methode heißt nicht Krieg, sondern Revolution.“ Allerdings wollte er diese Revolution, im Unterschied zu Lenin, erst „nach dem Kriege“ machen. Adlers Statement fand weite internationale Verbreitung, es wurde im Zürcher Volksrecht, in der Berner Tagwacht, im italienischen Avanti und auf russisch in Trotzkis Pariser Nasche Slowo abgedruckt.

Am Totpunkt des Krieges im Jahr 1916 sah sich Fritz Adler in einer Zwickmühle: Einerseits wurde er durch seine persönliche Bindung an die deutsche und internationale Opposition (SAG und Zimmerwald) zum Handeln vorwärtsgetrieben, anderseits sah er durch die Kleinheit der Parteiopposition in Österreich keine Perspektive, vor ihm lag das organisatorische Nichts. Während die deutschen Zentristen die Mehrheit in einigen Parteiorganisationen hatten, — damit Kassen und Zeitungen, eine funktionierende Reichstagsfraktion —, wäre Fritz Adler ohne Zeitung, ohne Lokal, ohne Geld dagestanden. Man hätte ein paar Flugblätter verteilt und wäre dafür ruhmlos im Kotter gelandet.

Bild: Kikeriki, 29. Oktober 1916

Spalten? Zurücktreten? Auswandern? Schießen?

Lenin meinte in seinem Brief an Koritschoner kaltschnäuzig: „Adler würde der revolutionären Bewegung viel mehr Nutzen bringen, wenn er, ohne die Spaltung zu fürchten, systematisch zu illegaler Propaganda überginge.“ Das war einerseits leicht gesagt, und anderseits wollte Fritz mehr aus seinem Opfer machen. „Ich stehe in der Partei isoliert da“, sagte er nach seiner Tat zu einem Polizeiinspektor, „ich fühle mich sozusagen als die sozialdemokratische Masse und hielt es daher als meine Pflicht, so zu handeln, wie alle hätten handeln sollen.“ Fritz sah es klar vor sich: Das Stocken der Armeen, die Stagnation der Herrschaftspolitik beschwor eine revolutionäre Krise herauf, wie zu Kriegsbeginn mußte man wählen zwischen Protest oder Sichtreibenlassen, Mittun. Es mußte also etwas geschehen. Nur was? Fritz hatte kein Vehikel für seinen Kurs; wie sollte er eingreifen?

Unmittelbar nach Kriegsausbruch hatte Fritz Adler dem Parteivorstand in zwei Briefen seinen Rücktritt angeboten: „Ich habe mich der Arbeiterzeitung geschämt ... Ich passe nicht zum Funktionär der Partei in einer solchen Ära“ (8. August 1914). „Ich gestehe, daß ich glücklich wäre, wenn anstatt der täglichen Dokumentierung unserer Schmach das Blatt eingestellt, die Druckerei gesperrt und wir alle im Loch sitzen würden“ (13. August 1914). Im Gegensatz zu seinem Vater meint er also, man hätte die Organisation opfern sollen. „Ich pfeife auf alle ‚Leser‘ unseres Tagblattes, wie es heute ist und wäre glücklich, wenn ich unseren Genossen ein offenes und ehrliches Flugblatt zustecken könnte“ (Brief vom 8. August 1914). Das größte Flugblatt ist ein Attentat!

Wenn das Gefängnis schon sicher war, wollte er durch ein Selbstopfer (Fritz hielt seine Exekution für sicher) gleich einen Paukenschlag tun. „Nur nicht gar so feig!“ hatte Otto Bauer seine Parteifreunde gemahnt, als er vor Kriegsbeginn als Reserveoffizier nach Böhmen einrücken mußte. „Es war gewissermaßen mein Mut die Überkompensation der Feigheit der anderen“, sagte Fritz seinen Vernehmern sechs Tage nach der Tat.

Mehrmals versuchte dieser Hamlet der österreichischen Sozialdemokratie dem selbstempfundenen Zwang zur Tat durch Übersiedlung ins Ausland auszuweichen. Als er den ersten Anlauf zur Flucht im April 1915 auf Zureden führender Genossen abbrach, tauchte das Attentat als mögliche Lösung auf: „Der Gedanke des Attentats trat im Laufe der nun folgenden fünf Vierteljahre hie und da wieder in den Vordergrund — das war immer in Perioden des Pessimismus, wenn ich glaubte, daß mit meiner Arbeit für die Politik der Linken keine Aussicht auf Vorwärtskommen sei — und er trat in den Hintergrund, sowie es mir wieder gelang, ein Stück in dieser Arbeit vorwärts zu kommen.“

Fritz Adlers Logik ist durchaus nachzuvollziehen, es war ein rationaler Kurs: Die politische Krise zog herauf, die Linke mußte handeln; es war keine genügend große Gruppe da, also glaubte er es als einzelner tun zu müssen; schließlich sollte die Provokation möglichst groß und kompromittierend sein, um der Partei ein weiteres Paktieren mit dem Staat zu verunmöglichen. In diesem Zusammenhang sagte Fritz in der Vernehmung am Tag nach der Tat: „Ich wünschte ... meine Parteigenossen zur Erkenntnis zu bringen, daß ihre bisherige Politik des Entgegenkommens, je länger der Krieg dauere, um so unmöglicher werde, und hoffte, sie dazu zu veranlassen — oder wenigstens Gruppen von ihnen —, den Weg einer Politik zu betreten, deren erste Voraussetzung sozusagen der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit den Vertretern des absolutistischen Regimes ist.“

Wenn der Sozialpatriotismus in der Partei durch Fraktionsbildung und politischen Kampf nicht zu besiegen war — vielleicht konnte ein provokatorisches Selbstopfer einen nicht mehr zu kittenden Bruch herbeiführen? (Das erinnert von fern an Baaders Strategie, den seiner Meinung nach sowieso latenten Faschismus des BRD-Systems hervorzubomben ...) Konsequenterweise mußte das Opfer möglichst hoch oben sitzen, konnte also nicht, wie Adler zunächst erwog, ein Zensurbeamter oder Staatsanwalt sein, und der k. k. Ministerpräsident war, so dachte er, einem gewöhnlichen Minister jedenfalls vorzuziehen.

Acht Kronen zwei Heller ohne Trinkgeld:
Fritz Adler griff zwischendurch in die Rocktasche und entsicherte den Browning (Rechnungszettel aus dem Polizeiakt)

Oberarbeiter & Unterarbeiter, Deutsche & Tschechen

Wenn man diese äußere Logik des Attentats anerkennt, bleibt die Frage: Warum waren Zentrum und Linke in Österreich so schwach?

Weil ein Teil des sozialen Gegensatzes als nationaler auftrat und dadurch als sprengende Kraft der Sozialdemokratie verlorenging (oder ihr erspart blieb — wie man will). Die Widersprüche wurden nicht innerhalb einer Nation fokussiert, sondern zerflossen „horizontal“ in Nationalitätenprobleme.

Der Gegensatz zwischen Rechten und Linken in der „reichs“deutschen Arbeiterbewegung hatte seine Wurzel in der sozialen Differenzierung der Arbeiter selbst, zwischen dem Typus der gewachsenen Klein- und Mittelbetriebe in Sachsen und Thüringen, die den klassischen Arbeiterradikalismus beherbergten, und den modernen Großbetrieben Westdeutschlands, die eine junge und eher an imperialistischen Forderungen der Schwerindustrie interessierte Arbeiterschaft aufwies, also Rechte. In Österreich war dieser Gegensatz national geteilt; in Böhmen standen die neuen Großbetriebe im tschechischen und die alten Mittelbetriebe im deutschen Teil; das führte nach der Abspaltung der tschechischen Partei von der deutschösterreichischen 1911 dazu, daß die Wiener Zentrale ein „linkes“ (besser: zentristisches) Image und die tschechischen Dissidenten ein „rechtes“, nationalistisches Image gewannen.

Ganz allgemein war im österreichischen (zisleithanischen) Teil der Monarchie das deutsche Element immer obenauf, das galt auch für die Arbeiterklasse. Man kann sagen, daß die Slawen im allgemeinen die Hilfsarbeit machten, also die Unterschicht der Arbeiterklasse bildeten, und die „Deutschen“ als Arbeiteraristokraten die besseren Posten besetzten. Das führte z.B. zur Zersetzung der sogenannten Reichenberger Linken.

Wie sich die sozialen Gegensätze an der Basis und in der Parteienlandschaft national maskierten, so auch die Fraktionsgegensätze in der Sozialdemokratie. Fritz Adler kritisierte seine Mitgenossen Pernerstorfer und Leuthner als deutsche, Renner und Seitz als österreichische Sozialimperialisten. „Wenn Sie verstehen wollen, was mich hierher geführt hat“, sagte er in seiner Verteidigungsrede vor Gericht, „dann ist es die Tatsache, daß dieser Geist der biederen Verlogenheit in meine Partei, in die Sozialdemokratie Eingang gefunden hat, daß er in ihr repräsentiert ist durch diesen Doktor Karl Renner, der nichts anderes darstellt als einen Lueger in der Sozialdemokratie, der den Geist der Prinzipienlosigkeit, den Geist der Gaukelei in unsere Partei gebracht hat.“

Noch schärfer formulierte Fritz im schriftlichen Entwurf zu seiner Rede vor Gericht, den er sich im Gefängnis aufsetzte; dort figurieren Renner & Pernerstorfer als „wirklich überzeugte Annexionisten“, die sich „der Moral des Gelegenheitsdiebstahls“ bedienten („Der Typus dieser Gruppe ist in Deutschland Scheidemann“). Wenn das Kriegsglück sich wendet, wären sie sogar bereit, „das Banner ‚Keine Annexionen und keine Kriegsentschädigungen‘ zu entfalten. Die Abneigung gegen Annexionen unter den Führern der Sozialdemokratie hat ja stark zugenommen. Die Trauben sind allzu sauer.“ Pernerstorfer gehöre nicht in die Partei, Leuthner sei ein „Alldeutscher“, er wolle nichts anderes sein als „ein Werkzeug des auswärtigen Amtes in Berlin“. Renner sei ein „Allösterreicher“, einer von jenen primär Schwarz-Gelben, „die den Internationalismus nur als Werkzeug des österreichischen Staatsgedankens benützen wollen“. Karl Seitz, der damalige Stellvertreter Viktor Adlers und spätere (ab 1918) Vorsitzende der Partei, war für ihn „der geborene Drückeberger der Revolution“. („Er hat einmal auf der Babenbergerstraße bei einer Wahlrechtsdemonstration Polizistensäbel gesehen und seit damals sind alle seine Bedürfnisse an gewaltsamen Konflikten mit den herrschenden Klassen reichlich gedeckt.“) Seinen Ekel vor Renner begründet Fritz mit folgender Episode:

Ich erinnere mich, wie ich niedergedrückt war, als er mir einmal sagte: „So einen Mann sollten wir in der Partei haben wie den Naumann, der einer jeden Menschengruppe seine Pläne ihrem Geschmack gemäß mundgerecht zu machen versteht.“ Ich konnte darauf vor Empörung keine Antwort herausbringen, denn mich beherrschte der Gedanke, daß alle Bedürfnisse an Zweideutigkeit in der Partei durch Karl Renner reichlich gedeckt sind, daß alles, was an derartiger Demagogie möglich ist, durch ihn in die Partei Eingang gefunden hat.

In der Tat ist ja Renner immer ein Anhänger von Naumanns Mitteleuropaidee geblieben, sei es im Weltkrieg in seiner Artikelserie im Kampf, die später als Buch herauskam („Marxismus, Krieg und Internationale“), sei es in der Anschlußpolitik, an der er in der Ersten Republik länger festhielt als die Partei (Unterstützung des Zollunionsabkommens 1931, Ja zu Anschluß Österreichs 1938, Ja zum Anschluß des Sudetenlandes 1938). Fritz Adler erklärt diesen deutschnationalen Einschlag der ersten beiden Generationen sozialdemokratischer Intellektueller mit ihrem Herkommen aus dem deutschliberalen Lager; über seinen diesbezüglichen Gegensatz zu seinem Vater sagt er im Entwurf zur Verteidigungsrede:

Wir sind durch eine Generation getrennt. Wie er 18 Jahre alt war, wurde die Schlacht bei Sedan geschlagen, und wie ich 18 Jahre alt war, haben die Sozialdemokraten die Tribüne des Parlaments gestürmt unter Badeni. Für ihn blieb die Ideologie der deutschen Nation, wie sich [im] Kriege gezeigt hat, das entscheidende Moment gegenüber allem, was er selbst am Aufbau der Internationale mitgewirkt hat. Er hat den Funktionswandel des Vaterlandes zumindest im Anfang des Krieges nicht erfaßt, blieb vollständig befangen in den Gedanken von 1870. Der Gesichtspunkt der Internationale trat für [ihn] vollständig in den Hintergrund.

Ein Bild wie aus dem Herbst ’77:
Ein bürgerliches Witzblatt (Kikeriki, 15. Oktober 1911) macht Viktor Adler dafür verantwortlich, daß während seiner Rede im Reichsrat auf den Justizminister Hochenburger auf der Regierungsbank ein Pistolenattentat verübt wurde. In Erinnerung an diesen Zwischenfall schied Fritz Adler den Justizminister aus der Reihe möglicher Opfer aus (daß „so vielleicht ein Zusammenhang gegen Hochenburger konstruiert worden wäre“: er wollte seinen Vater nicht in Verdacht bringen)

Die Fraktionskämpfe des Ödipus

Viktor Adler verstand es, die jungen Parteiintellektuellen in ein derart intensives Vater-Sohn-Verhältnis zu ziehen (Renner, Bauer, Deutsch), daß nur vollständige Identifikation mit ihm oder irrationales Aufbegehren möglich war. Mit Fritz führte er schon seit dessen früher Jugend einen Kampf um Mutter Partei. Es war Fritzens sehnlicher Wunsch, auf Vaters Spuren in die Partei einzutreten und für sie zu arbeiten, und es war Viktors größte Sorge, das zu verhindern. Es begann schon mit dem Kampf um die Studienwahl. Fritz wollte Geisteswissenschaften studieren, um für die Parteiarbeit gerüstet zu sein, Vater steckte ihn aber von vornherein in die Realschule, so daß er dann in Wien gar nicht auf die Universität konnte (ohne Latein). Es ging nur in Zürich. Viktor wollte sodann, daß Fritz Techniker würde; er ließ ihn also zunächst Chemie studieren. Man einigte sich schließlich auf Physik, das Fritzens philosophischen Interessen näherkam.

Fritz wurde Assistent, promovierte, habilitierte sich als Dozent und hielt in Zürich Vorlesungen in theoretischer Physik und Naturphilosophie (in den Spuren Ernst Machs). Leben konnte er freilich davon nicht, deshalb strebte er eine 1908 an der Zürcher Universität geschaffene Professur an. Sein Institutsvorstand Kleiner mußte aber mitteilen, daß ihm ein anderer vorgezogen worden wäre, sein Studienkollege Albert Einstein, damals ein kleiner Beamter im eidgenössischen Patentamt in Bern. Zu Fritz Adlers Ehre muß man sagen, daß er seine politischen Verbindungen nicht ausnützte, um sich einen Vorteil zu verschaffen, eher im Gegenteil, er erkannte Einsteins Überlegenheit neidlos an. Zehn Jahre später bekämpfte er allerdings heftig Einsteins Relativitätstheorie (siehe Kasten Seite 87).

... an echz Weana Kind:
Die beiden ersten Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokratie Viktor Adler (1852-1918, im Vordergrund) und Karl Seitz (1869-1950)
Bild: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek

Eine Familie, in der es knistert

„Ich glaube“, schrieb Fritz nach dem Scheitern seiner naturwissenschaftlichen Laufbahn an den Vater, „ich muß die Theorie verlassen, irgendeine praktische Betätigung suchen. Und das kann nur eine Parteitätigkeit sein ... Das ist das einzige, was nach der Erkenntnistheorie mir wichtig ist.“ So wurde Fritz Adler 1910 Redakteur des sozialdemokratischen Zürcher Volksrechts. Er konnte sich aber dort gegen die linke Fraktion Brupacher/Tobler, die er verdrängt hatte, nur ein Jahr halten; ein gewerkschaftlicher Boykott zwang den Schweizer Parteivorstand, Fritznach Wien abzuschieben, wo er im Frühjahr 1911 einer der vier Sekretäre der österreichischen Sozialdemokratie wurde. Ödipus hatte Laos eingeholt.

Die gespannte, an der Oberfläche bemüht freundliche Stimmung in der Familie Adler gibt ein Brief sehr gut wieder, den Fritz am 2. Februar 1917 (damals wurde er gerade von den Psychiatern interviewt) an seinen Bruder Karl — das schwarze Schaf der Familie — schrieb: „Unsere Familie besteht aus lauter sehr anständigen und guten Menschen, die alle hilfsbereit sind, weiter als es ihrer Möglichkeit und ihrer Einsicht in den betreffenden Fall entspricht. Aber wir sind alle so hilfsbedürftig, daß das, was bei äußerster Anspannung geleistet werden kann, für den, den es angeht, nie ausreicht und von dessen Standpunkt zu wenig ist.“ Während seiner Studien in Zürich sei er zwar von Vater und „Onkel Mundi“ (Siegmund, Viktors Bruder) unterstützt worden, aber: „So übergroß ihre Leistung von ihrer Seite aus gesehen war, so war sie von meiner Seite aus betrachtet noch zu klein. Ich hätte noch mehr Vertrauen und noch größerer materieller Hilfe bedurft ... Ich habe vor 8-10 Jahren stark darunter gelitten und schließlich gesehen, daß ich das, was ich durch sieben Jahre mitgemacht habe, auf die Dauer weiter zu ertragen nicht die Kraft haben werde.“ Vater und Söhne hätten zwar alle einen sehr feinen Schirm zum Registrieren, aber die motorische Kraft des Herzens sei gering ...

In dieser Zeit, als es ihm in Zürich schlecht ging, schrieb Fritz an seinen Vater einen Brief (30. Dezember 1908), in dem er die Stimmung rekapitulierte, mit der er als Zehnjähriger den Hainfelder Parteitag, die Gründung der Partei 1889 erlebt hatte:

Zwar hatte ich den Hausbesorgerkindern im Dunkeln zwischen den Türen genau erzählt, was dieser Parteitag sein werde, man werde die Hofburg in die Höhe sprengen, die Offiziere fesseln und die Soldaten werden dann auf unserer Seite kämpfen ... Als aber dann der kleine Willy Barth nach zwei Tagen kam und mir mitteilte, alles sei nicht wahr, er habe die Hofburg stehen gesehen, es sei nichts gesprengt, da war ich mit meiner Weisheit zu Ende. Das Programm der Radikalen schien mir offenbar ganz einleuchtend, was denn anderes in Hainfeld wohl geschehen hätte können.

Über diese Parteigründung berichtet Fritz den Gerichtspsychiatern, daß sein Vater das Erbe des Großvaters dafür verwendet habe; der sei ein Börsianer gewesen und habe eine Million Kronen in Form von Häusern hinterlassen; Viktor sei von den Geschwistern die Vermögensverwaltung übertragen worden, es kam aber dann zu einem Streit, man wollte Viktor die Mittel, „die er für Parteizwecke verwendete“, entziehen. Auch hier sieht Fritz seinen Vater mit den Augen der Radikalen der achtziger Jahre vom Schlage Krcal/Rißmann/Peukert. (Krcal in seinen Memoiren: „Seine Vermögensverhältnisse hatten es ihm gestattet, selbst auf dem Boden der Arbeiterbewegung seine Capriolen zu treiben.“)

Kriegsverbrecher ohne Urteil:
In dieser Sitzung wurde der Erste Weltkrieg beschlossen. Links außen (mit Stehkragen) der k. k. Ministerpräsident Graf Stürgkh
Bild: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek

Der Übersprung in die 3. Ebene

Die Ödipus-Schlacht entwickelte sich folgerichtig so: Der Sohn lernte schon früh, den Konflikt von der Familien- auf die Parteiebene zu verschieben, in den Kampf zwischen links und rechts. Dieser konnte aber nicht zu Ende ausgetragen werden, weil es im Ernstfall wieder ein persönlicher Kampf mit dem Vater wurde, was verboten war, und so mußte eine neuerliche Verschiebung eintreten, von der Partei nach außen, auf den Staat: Der Parteichef als Gegner wurde durch den Regierungschef ersetzt. Die ganze Entwicklung auf das Attentat hin zeigt einen sich steigernden innerparteilichen Sohn-Vater-Konflikt, dessen Blitzschlag im letzten Moment nach außen abgelenkt wird. Das psychische Bedürfnis, den Vaterkonflikt zu verdrängen (die „Bravheit“, die den politischen Reformismus gebiert), führt zu einer Verschiebung des Konflikts von der zweiten auf eine dritte Ebene — von Viktor Adler zu Karl Stürgkh. Durch den Angriff auf den Übervater sollen die Mächte der Rache (Regierung, Gericht) veranlaßt werden, die Bestrafung des wirklichen Vaters vorzunehmen, ihn so klein zu machen, daß er zum mitkämpfenden Bruder wird:

Ob die Provokation des Attentats einer richtigen Strategie entsprang, ist eine politische Frage. Psychologisch ist diese Strategie jedenfalls die Rationalisierung einer Übersprungshandlung.

Dieser psychologischen Deutung nähern sich auch die Psychiater der Wiener medizinischen Fakultät, die auf Veranlassung des Vaters das zweite Gutachten erstellten. Sie sagen, Fritz zog das Attentat dem innerparteilichen Kampf vor, „weil er dann auch gegen seinen Vater hätte auftreten müssen, den er trotz allem außerordentlich verehrte“. Seine Teilnahme an der Arbeiterbewegung sei „gewissermaßen mit einer religiösen Überzeugung zu vergleichen“ (Mutterimago der Partei).

Viktor Adler selbst erfuhr die psychoanalytische Deutung der Tat durch einen Brief des Wiener Arztes Leo Chassel vom 2. Jänner 1917. Chassel schreibt da vom „immanenten Vaterhaß“, der bei Friedrich Adler „sogar schon ins Bewußtsein trat und zu schweren Konflikten mit Vater und Partei führte. Der Vater wird jetzt ins Unterbewußtsein verdrängt, das Bewußtsein bekämpft die Mordlust. Aber nicht mit vollständigem Erfolg. Für den Komplex ‚Vater‘ wird durch Verdrängung ein gleichwertiger Komplex eingesetzt ...“ usw. Chassel regte sogar die Heranziehung Freuds als Sachverständigen an.

Die Fakultät (Adlers Freund Tandler war damals Dekan) entschied sich allerdings für Wagner-Jauregg.

In allen Selbstzeugnissen Fritz Adlers aus der Zeit vor dem Attentat finden wir die Indizien des „Überspringens“ der Aggression. In seinem letzten Artikel in der Oktobernummer des Kampf, in dem er das Lob der deutschen Parteiopposition singt, beklagt er das mangelnde Bedürfnis nach Selbständigkeit bei den österreichischen Parteigenossen, „die vom Staate her den patriarchalischen Absolutismus so sehr gewöhnt sind, daß sie sich auch in der Partei bei ihm am wohlsten fühlen“. Im Entwurf zu seiner Gerichtsrede klagt er seinen Vater an, er habe in entscheidender Stunde versagt, er habe „alle Versündigungen gegen den Geist der Bewegung der Renner, Seitz, Ellenbogen, Leuthner gedeckt“. Wiewohl er ihn persönlich achte, „so geht mir meine Verbindung zu den Ideen doch näher als alle Verbindung zu Personen“ (das war der von Viktor so gefürchtete „Exzeß des Mathematischen“). Das Manuskript schließt mit folgender Passage:

Trockenes Hammerbrot

Ich sah [im Sommer 1916], daß keine Hoffnung mehr ist, daß der alte Parteivorstand zum alten. Geist der Bewegung zurückzufinden vermochte. Und ich sah immer klarer und klarer, daß das, was zu ändern nötig ist, nicht innerhalb der Partei geleistet werden kann, sondern von außen gemacht werden muß. Und das brachte mich nun persönlich in den schlimmsten Konflikt. Denn ich war der wirkliche Vertraute aller Interna der Partei und stand nun immer vor der Alternative, ob ich die Treue halten müsse den Personen, deren Geheimnisse ich kannte und die ich öffentlich vernichten konnte, oder der Sache, die es erfordert, daß die Partei befreit werde von diesem Parteivorstand.

Schon als die Partei am 8. Juli [1916] beschloß, das Hammerbrotwerk zu behalten, während die Befreiung von ihm die Voraussetzung einer Rückkehr zu den alten Bedingungen der Bewegung gewesen wäre, war ich mir klar, daß nun die Möglichkeit, auf eine Gesundung in Österreich zu rechnen, abgeschnitten sei.

Die der Partei gehörenden Hammerbrotwerke, eine 1907/08 errichtete moderne Großfabrik, welche die Läden der Konsumgenossenschaft belieferte, war quasi die Nabelschnur, die die Partei mit der Kriegswirtschaft verband. Anfang 1914 praktisch bankrott, war das Unternehmen durch Heereslieferungen wieder aktiv geworden, und seine Gewinne kompensierten mehr oder weniger die Verminderung der Mitgliedsbeiträge. Über diesen Kanal bekamen die Parteiführer Zugang zur kriegswirtschaftlichen Staatsbürokratie; Renner, der Konsumvereinsobmann, wurde beispielsweise im November 1916 Direktor des staatlichen Kriegsernährungsamtes.

Fritz sagte seinem Vater nach der Entscheidung des Parteivorstands vom 8. Juli, daß er nun nicht mehr auf seinem Posten bleibe. Er machte Anstalten, sich auf Redakteursstellen in die Schweiz (Volksrecht) bzw. nach Deutschland (Neue Zeit) abzusetzen. Als diese Flucht mißlang, benützte er eine Zensurverfügung Stürgkhs (Untersagung einer Friedensversammlung liberaler Professoren, veröffentlicht am 20. Oktober 1916), um in das Attentat und damit ins Gefängnis und in die Gerichtsverhandlung zu entkommen. Am Vorabend hatte man ihm in der Wiener Konferenz, wo er sich isoliert sah, das Wort „Parteiverderber“ zugerufen.

„Wenn ich das Attentat“, sagte er dem Untersuchungsrichter, „unter den gegebenen Bedingungen der Despotie und der Parteiminderwertigkeit und speziell unter den gegebenen Bedingungen der Konstellation, die am 21. Oktober bestand, nicht ausgeführt hätte, wäre mir dies als ein Bruch meines Charakters erschienen, den ich niemals mehr hätte gutmachen können.“

Illustrierte Kronen-Zeitung, 19. Mai 1917

Einig, einig, einig!

Als Fritz Adler am 2. November 1918 begnadigt wurde und nach Wien zurückkehrte, trat sofort Koritschoner an ihn heran zwecks Gründung einer Partei. Adler lehnte ab. Am 6. November hielt er vor dem Wiener Arbeiterrat eine Rede, in der er seine Tat durch die Deutung krönte, gerade sie habe die Parteispaltung verhindern helfen:

Vor zwei Jahren, bevor ich meinem Leben jene Wendung gegeben habe, habe ich mir gesagt, wenn nicht etwas Energisches geschieht und nicht die Gemüter gewendet werden, muß es auch in Österreich dazu kommen, was in Deutschland sich ereignet hat, jene Spaltung. Und es war nicht einer der letzten Gründe, die für mich bestimmend gewesen sind, daß ich geglaubt habe, der Partei auf diese Weise die Einigkeit erhalten zu können, indem ich jene Wendung zu bewirken suchte, die wirklich eingetreten ist, die darin zum Ausdruck kommt, daß es in der Masse der Partei keine „Rechte“ mehr gibt, sondern daß die große Masse der Partei heute auf dem Boden der Linken steht, und daß es möglich war, der Partei das Schicksal, das schwere Schicksal — Sie brauchen nur an den Jännerstreik in Deutschland und an den Jännerstreik in Österreich zu denken — zu ersparen. Deshalb, wenn heute Leute kommen und finden, jetzt sei der Moment, eine neue Partei zu gründen, so sage ich: es war vielleicht einmal vor zwei Jahren ein Moment, wo diese ernste Frage höchst aktuell war, heute sind wir, glaube ich, darüber hinweg, und wir können innerhalb der Partei wirken für das internationale revolutionäre Programm der Sozialdemokratie (lebhafter Beifall).

Das ist Austromarxismus!

Quellen

1. Archive:

  • Der Gerichtsakt des Adler-Prozesses befindet sich im Wiener Stadtarchiv (A 11, Kartons 489 und 489a). Die Aktenzahl ist Vr III, 6441 ex 1916. Die beiden Kartons enthalten den Polizeiakt über den Tatort, die Voruntersuchung mit den entsprechenden Polizeiberichten, Adlers Vernehmung durch den Untersuchungsrichter, die beiden psychiatrischen Gutachten, das Protokoll der Hauptverhandlung etc. sowie einige Briefe.
  • Im Allgemeinen Verwaltungsarchiv, Wien (Sozialdemokratische Parteistellen, Kartons 10 bis 16), finden sich Durchschläge eines Teils der Prozeßdokumente sowie viele Briefe.
  • Im Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien (SPÖ-Archiv), finden sich im Adler-Archiv (Mappen 39 bis 42, Friedrich-Adier-Prozeß) Durchschläge bzw. Abschriften eines großen Teils der Prozeßdokumente, darüber hinaus Manuskripte, z.B. Fritz Adlers Entwurf für seine Rede vor Gericht (Mappe 39). Der Hauptinhalt des Adler-Archivs sind Tausende von Briefen, vor allem zwischen Vater und Sohn.

2. Gedrucktes:

  • Fritz Adler selbst hat einen Teil der Prozeßdokumente in einem — verglichen mit der sonstigen SPÖ-Geschichtsschreibung — erstaunlich freimütigen Band herausgegeben; er enthält das Protokoll der Hauptverhandlung, das Verhörprotokoll der Voruntersuchung, Fritzens Briefe an den Parteivorstand nach Kriegsausbruch, sein internationalistisches Manifest vom 3. Dezember 1915 sowie seine Rede vor dem Arbeiterrat am 6. November 1918 (Friedrich Adler: Vor dem Ausnahmegericht, Jena 1923). Die Neuauflage im Europaverlag 1967 enthält nur mehr das Protokoll der öffentlichen Hauptverhandlung und einige AZ-Artikel gegen Adler (Johann Wolfgang Brügel [Hg.]: Friedrich Adler vor dem Ausnahmegericht, Wien 1967). Fritz Adlers Zeitungs- und Zeitschriftenartikel erschienen noch in der Kriegszeit im Parteiverlag; der Band enthält auch einige Beschlüsse und Resolutionen des „Vereins Karl Marx“ (Friedrich Adler: Die Erneuerung der Internationale. Mit einem Vorwort von Karl Kautsky, herausgegeben von Robert Danneberg, Wien 1918).
  • Friedrich Adler: Ernst Machs Überwindung des mechanischen Materialismus, Wien 1918
  • Victor Adler: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky. Herausgegeben von Friedrich Adler, Wien 1954 (unvollständige Briefsammlung)
  • Julius Braunthal: Victor und Friedrich Adler, Wien 1965
  • Rudolf Neck: Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg, Bd. 1, Wien 1964 (Dokumente aus staatlichen Archiven)
  • Hans Hautmann: Die verlorene Räterepublik, Wien 1971 (Linksradikale im ersten Weltkrieg, Entstehung der KPÖ)
  • Helge Zoitl: Kampf und Gleichberechtigung, phil. Diss. Salzburg 1967 (über die sozialdemokratische Studentenbewegung 1914-1925)
  • Michael Siegert: Sozialdemokratie und Imperialismus im Ersten Weltkrieg, NEUES FORVM September 1975 (= erster Teil der vorliegenden Arbeit; geht u.a. näher auf die Geschichte der Hammerbrotwerke und die Diskussion um Naumanns Mitteleuropapolitik ein)
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