FORVM, No. 222
Juni
1972

Eurokonzerne

I. Überlegenheit internationaler Konzerne

Die Zunahme multinationaler Gesellschaften ist ein Hauptmerkmal des Kapitalismus der Gegenwart: Ihre Zahl wird auf insgesamt 700 bis 800 geschätzt. Man rechnet damit, daß in 10 bis 15 Jahren 200 von ihnen die Weltwirtschaft beherrschen werden. Die Ära des Imperialismus war von Anfang an von der Internationalisierung des Kapitals begleitet. Vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit war die internationale Zentralisation von Kapital allerdings bloß eine Ausnahmeerscheinung. Von den beiden großen englisch-niederländischen Gesellschaften Unilever und Royal Dutch-Shell abgesehen, wurden die Trusts in der Regel vom Kapital einer einzigen Nation dominiert. Wenn sich auch die Praxis von Filialgründungen und Zusämmenschlüssen nach und nach ausbreitete, so blieb doch die Zentralisation von Produktion und Leitung im Ursprungsland aufrecht.

Die großen amerikanischen Gesellschaften haben als erste den Weg geschäftlicher Operationen auf internationaler Ebene beschritten. Vertikale Trusts und vielseitige Gesellschaften waren Zwischenstufen, die vom klassischen Trust oder Monopol zur multinationalen Gesellschaft führten. Die mächtigsten Gesellschaften Europas und Japans haben den gleichen Prozeß durchlaufen. Heute findet man eher in Europa als in den USA die ersten Beispiele für Konzerne, die nicht nur aufgrund ihrer Produktionsstätten und Märkte, sondern auch in Hinblick auf die Herkunft des Kapitals und der Spitzenmanager multinational sind.

Das Ausmaß ihrer Umsätze und Investitionen macht die stärksten multinationalen Gesellschaften den meisten Nationalstaaten überlegen. Eine Unzahl von Beispielen beweist, daß die Staaten der sogenannten Dritten Welt — die Marxisten bezeichnen sie zutreffender als halbkoloniale Länder — mit jenen nicht Schritt halten können. Die Gesellschaften maßen sich exterritorialen Status an, weil in der Epoche des Neokolonialismus Recht bleibt, was in der Epoche von Papas Kolonialismus Recht war: Wie kann man diesem Konzessionswesen beikommen, wenn selbst ein Staat wie Guinea solche Rechte den von multinationalen Trusts kontrollierten Unternehmen wie Pechiney, ALCOA, ALCAN und Ohlin-Matieson zugestehen mußte?

Ehedem waren die halbkolonialen Staaten bloß mit solchen ausländischen Trusts konfrontiert, die Rohstoffquellen zu monopolisieren suchten. Heute haben sie es mit noch viel mächtigeren Kolossen zu tun: den großen multinationalen Gesellschaften der verarbeitenden Industrie. Diese dringen in ihre Märkte ein; sei es als autonome Kräfte, sei es unter dem Deckmantel des gemeinsamen Risikos in Verbindung mit nationalem Privatkapital oder öffentlichem Kapital nationaler und internationaler Herkunft.

Die kleinen und mittleren Staaten des imperialistischen Lagers sind keineswegs besser dran. Ihre Handlungsfreiheit gegenüber multinationalen Konzernen ist eingeengt sowohl wegen der relativen Beschränktheit ihrer Mittel, als auch aufgrund der Möglichkeit der Gesellschaften, einen Staat gegen den anderen auszuspielen. Die Erpressung durch Verlagerung von Investitionen, d.h. geschaffener oder zu schaffender Arbeitsplätze, welche bereits im nationalen Rahmen so effektiv ist, ist es noch mehr auf zwischenstaatlicher Ebene.

In Holland stellt die Royal Dutch-Shell der Regierung Bedingungen in Zusammenhang mit der Registrierung ihrer Öltankerflotte. In den letzten Jahren wurde keiner ihrer Tanker mehr unter niederländischer Flagge angemeldet. Die Reeder fordern wesentliche Zugeständnisse der Steuerbehörden, um dies künftig zu ändern.

II. Hilflosigkeit der imperialistischen Großmächte

Selbst die mächtigsten imperialistischen Regierungen sind nicht in der Lage, ihre Entscheidungen den multinationalen Gesellschaften aufzuzwingen, wenn dadurch deren wirtschaftliche Interessen und Strategien berührt werden. Das Ziel der US-Regierung, Kapitalexporte durch Einführung einer neuen Steuer einzuschränken, wurde von diesen Gesellschaften mit Hilfe des Marktes der Euro-Obligationen und des Euro-Dollars durchkreuzt. Die blitzartige Geschwindigkeit kurzfristiger Kapitalbewegungen hat es den multinationalen Gesellschaften erlaubt, seit 1967 permanent Spannungen und Krisen des Währungssystems hervorzurufen, um durch vorhersehbare Wechselkursänderungen Spekulationsgewinne zu erzielen.

Die Entwicklung der letzten Jahre widerlegt alle jene, welche die These der „gemischten Wirtschaft“ verfechten. Dieser Theorie zufolge besitzt der Staat ein hinreichendes Gegengewicht, um die Konzentration der ökonomischen Macht in den Händen der Monopole zu neutralisieren. Weil diese Staaten bürgerlich geblieben sind und sie in keinem Fall gegen die Interessen der Bourgeoisie oder einer ihrer dominierenden Schichten handeln können, ist es offenkundig, daß sie der maßlosen Macht, die sich heute die großen internationalen Monopole aneignen, zunehmend hilflos gegenüberstehen.

Die Tendenz zunehmender staatlicher Intervention — ein weiteres Kennzeichen der kapitalistischen Wirtschaft der Gegenwart — wird durch die Gesetze der Privatwirtschaft ebenfalls auf den Kopf gestellt. Die multinationalen Gesellschaften nehmen diesen Staaten gegenüber eine Haltung distanzierter Indifferenz ein. Dieses Phänomen darf nicht nur unter den Vorzeichen der Hochkonjunktur betrachtet werden.

Wenn die Märkte sich ausdehnen, die Profite steigen, die Technologie rasch modernisiert wird, die Investitionen sich ausweiten, können die internationalen Trusts die Illusion nähren, die staatliche Intervention habe bloß den Glanz und die Weisheit einer Stallfliege. Aber sobald die Konjunktur abflacht, das Wachstum sich verlangsamt, überschüssige Bestände und Produktionskapazitäten sich bilden und die Profitrate fällt, stürzen sich diese Herren auf die öffentliche Macht: Manchmal erbetteln sie Unterstützung; manchmal fordern sie Schutz vor ausländischer Konkurrenz (unter dem Vorwand „unlauteren“ Wettbewerbs); ständig beschuldigen sie die Gewerkschaften, durch überhöhte Forderungen eine Kosteninflation zu verursachen und so die Gans, die goldene Eier legt, töten zu wollen. Und natürlich wird von den Regierungen verlangt, die Gewerkschaften zur Ordnung zu rufen, sei es mit Hilfe von Arbeitslosigkeit, sei es — wenn das nichts nützt — mit Hilfe direkter Repression.

Geht die Konjunktur zurück und droht auch den multinationalen Gesellschaften eine allgemeine Rezession, verlangen sie in ihrem Markt- und Unternehmensbereich — also auf internationaler Ebene — Maßnahmen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft und eine antirezessionistische Fiskalpolitik. Um nicht einer Stagnation zu verfallen, die die Antwort auf nationalen Protektionismus darstellt, erzwingen sie eine Bereinigung des Widerspruchs zwischen Internationalisierung der Produktivkräfte und Beschränktheit der Nationalstaaten, indem sie die Errichtung multinationaler Staaten in den drei geeigneten Halbkontinenten propagieren: Nordamerika, Westeuropa, Ostasien. Sie entschließen sich für dieses Modell, weil es bloß multinational und nicht weltweit ist, denn ihre Interessen werden ebenfalls nicht in allen Gebieten der Welt geteilt.

Eine EWG, ausgestattet mit gemeinsamer Währung, Konjunkturpolitik, Politik der öffentlichen Arbeiten und gemeinsamen Budget, d.h. mit wahrhaft souveränen Machtmitteln, ist der Prototyp eines Staates, wie er ähnlich auch in den beiden anderen Zonen errichtet werden könnte. Offen bleibt allerdings, wie die kolossalen Widersprüche zwischen staatlicher Superstruktur und wirtschaftlicher Infrastruktur von den multinationalen Gesellschaften zu meistern sind.

Selbst wenn solche Staaten tatsächlich errichtet werden, wäre es falsch, in ihnen ein Gegengewicht zur faktischen Macht der internationalen Monopole zu sehen. Ganz im Gegenteil: Sie wären ebenso ein Instrument dieser Monopole, wie es bis heute der Nationalstaat in der Ära des Imperialismus ist. Die Interessen der Arbeiter, der Konsumenten, der menschlichen Gemeinschaft — ständig konfrontiert mit der Maßlosigkeit der multinationalen Giganten — können nicht von imperialistischen Supranationalstaaten geschützt werden. Zu diesem Zweck muß ein ganz anderer Weg eingeschlagen werden; er ist gekennzeichnet durch die Autonomie der Arbeiterklasse.

III. Sozialistische Internationalisierung der Wirtschaft

Hauptpunkt dieser Strategie ist die Internationalisierung der gewerkschaftlichen Forderungen und Kämpfe: Die Anstrengungen der letzten 13 Jahre, eine Aktionseinheit der Führung zu erreichen, sind bisher gescheitert. Diese Anstrengungen werden heute aber zunehmend unterstützt durch die Tendenz zur Aktionseinheit an der Basis, wie bei Absprachen von Delegationen von Betrieben, die der gleichen multinationalen Firma oder dem gleichen Industriezweig angehören. Die internationale Solidarität mit den Streikenden eines einzelnen Landes zu beleben ist der sicherste Weg, um den ersten gesamteuropäischen Streik zu erreichen. Ein solches Ereignis könnte das internationale Klassenbewußtsein weiter voranbringen als Kongresse und Geheimkonferenzen über eine Periode von 20 Jahren.

Ebenso sind politische Aktionen notwendig, die die Machtlosigkeit der internationalen Monopole gegenüber Nationalisierungen und Übernahme der Produktion durch die Arbeiter auf nationaler Ebene zeigen. Das Beispiel Kuba, das seinerzeit am stärksten in die kapitalistische Wirtschaft integrierte lateinamerikanische Land, beweist, daß die Kraft einer revolutionären Massenbewegung ausreicht, um das Gewebe des internationalen Kapitals zu zerreißen. Die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse bleibt die unabdingbare Voraussetzung einer solchen Anstrengung.

Die Projekte der sozialistischen Internationalisierung der Wirtschaft ersetzen die kapitalistische Internationalisierung. Die multinationalen Gesellschaften in ihrer kapitalistischen Ausformung korrespondieren zur echten Internationalisierung der Produktivkräfte. Jeder nationale Sieg der Arbeiter über das internationale Kapital bringt die Notwendigkeit mit sich, die Wirtschaft und Gesellschaft auf einer tieferen Ebene wiederaufzubauen, als sie der Kapitalismus erreicht hat. Nur die rasche Ausdehnung einer siegreichen sozialistischen Revolution von einem Land auf mehrere benachbarte Länder würde die Wirtschaft von dieser zusätzlichen Last befreien. Dies würde den internationalen Zusammenhang, der vom Kapital bestimmt ist, umändern in eine Plattform für den Beginn eines international selbstverwalteten und geplanten Sozialismus des Überflusses, der durch den Abbau der Handels- und Geldwirtschaft gekennzeichnet wäre. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß der Mensch endlich die Technik, seine Umwelt und sämtliche sozialen Aktivitäten selbst beherrscht und bestimmt.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)