FORVM, No. 136
April
1965

Europäischer Realismus

Im Rahmen des ökonomisch-soziologischen Kolloquiums der Universität Basel hielt der Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten eine vielbeachtete, aber ungenügend wiedergegebene Rede. Wir freuen uns, nachstehend die wesentlichen Gedanken im authentischen Wortlaut veröffentlichen zu können.

Die verschiedenen Integrationsbestrebungen in Europa haben das wirtschaftliche und politische Leben während der letzten fünfzehn Jahre nicht nur charakterisiert, sondern in höchstem Maß mit neuen Ideen befruchtet.

Im Jahre 1967 wird es in Europa zwei voll entwickelte Handelssysteme nebeneinander geben: das der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und das der Europäischen Freihandelsassoziation. Im Jahre 1967 werden nämlich die Mitgliedsstaaten dieser beiden Gemeinschaften untereinander alle Zollschranken beseitigt haben, so daß die Waren zwischen diesen Staaten unbehindert zirkulieren werden. EFTA und EWG werden dann, jede für sich, einen gemeinsamen Markt darstellen: die EWG einen für etwa 180 Millionen, die EFTA einen für etwa 100 Millionen Menschen.

Wenn man aber die mit der EWG assoziierten afrikanischen Staaten und die mit England wirtschaftlich noch stark verbundenen Commonwealth-Staaten berücksichtigt, so werden diese Märkte, jedenfalls in gewissen Beziehungen, noch wesentlich größer sein. Sicher aber kann angenommen werden, daß die wirtschaftliche Demarkationslinie, die durch Europa geht, ihre Fortsetzung in Afrika, vielleicht sogar auch in Asien, finden wird.

Es ist gar keine Frage, daß sich der Markt der Vereinigten Staaten von Amerika außerhalb dieser beiden Integrationssysteme befindet. Es ist selbstverständlich, daß im Hinblick auf diese Entwicklung, die — ich wiederhole — im Jahre 1967 abgeschlossen sein wird, den Verhandlungen über die sogenannte Kennedy-Runde besondere Bedeutung zukommt. Wenn man auch noch so optimistisch über den Ausgang dieser Verhandlungen ist — wozu im Augenblick kein besonderer Anlaß besteht —, so würden sie ja doch nur zollpolitische Regelungen bringen, die gewiß den Warenverkehr erleichtern könnten, aber auf allen anderen Gebieten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit keinen Einfluß hätten.

EFTA und EWG werden immer wieder mit krisenhaften Entwicklungen zu tun haben; daraus aber ableiten zu wollen, daß eines dieser beiden Integrationssysteme vor dem Zusammenbruch steht, scheint mir wenig realistisch zu sein. Die Erfahrungen der letzten sechs Monate zeigen, daß beide Systeme stark genug sind, auch noch so ernste Krisen zu überwinden. Die EWG hat vor Jahresende ihre große agrarpolitische Krise überwunden, und man kann davon ausgehen, daß die EFTA ebenso die Krise überwinden wird, in die sie durch die Einführung der britischen Importabgabe geraten ist.

Die wirtschaftliche Integration innerhalb der EWG wird rasch weiter fortschreiten, und auch die EFTA wird, sofern es nicht vorher zu anderen Entwicklungen kommt, nicht umhin können, andere wirtschaftliche Bereiche als die bloß zollpolitischen in ihre Überlegungen einzubeziehen.

Ich könnte mir vorstellen, daß es hier bezüglich des Kapitalmarktes und der Kapitalbewegungen interessante Überlegungen geben kann, vor allem wenn man weiß, daß einige EFTA-Staaten hier Probleme haben.

Ebenso könnte ich mir denken, daß es zu einem stärkeren Zusammenwirken der Industrien in den EFTA-Staaten auf dritten Märkten kommt. So könnte es auch Überlegungen über ein gewisses Maß an Zusammenarbeit im Bereich der Entwicklungshilfe geben. Schon jetzt arbeiten die EFTA-Staaten im Rahmen der neu zu errichtenden Welthandelsorganisation zusammen. Die Erfahrungen, die man anläßlich der Pfundkrise gemacht hat, lassen eine gewisse wirtschaftspolitische Koordination geboten erscheinen.

Daneben gibt es sicher noch manches andere.

Bei der EFTA wird eine weitere Intensivierung der Integrationsbestrebungen wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, sie auf dem Boden freier Vereinbarungen zwischen den Industrien und den Banken einerseits und den Regierungen anderseits herbeizuführen, denn kurioserweise gibt es in den EFTA-Staaten, obwohl viele von ihnen sozialistische Regierungen haben oder sozialistische Parteien in den Regierungen vertreten sind, relativ wenig Planifikation, die ja bei manchen Mitgliedsstaaten der EWG besonders entwickelt ist.

Man kann aber, so glaube ich, als Arbeitshypothese akzeptieren, daß die beiden europäischen Integrationssysteme sich intensivieren werden und die große Gefahr besteht, daß die Kluft zwischen den beiden tiefer wird.

Es ist gar nicht von der Hand zu weisen, es ist geradezu logisch, daß diese wirtschaftliche Spaltung ernsteste politische Konsequenzen haben muß.

Wir werden also spätestens 1967 vor ernstliche wirtschaftliche und politische Probleme in Europa gestellt werden. Man sollte sich keinem allzugroßen Integrationsoptimismus hingeben. Es wird Disproportionalitätskrisen und Meinungsverschiedenheiten über Kapazitäten innerhalb großer und wichtiger Industriezweige geben und sicher auch Zahlungsbilanzprobleme. Und es wird politische Spannungen geben, die die gegenwärtigen noch akzentuieren.

Es wird eine politische Malaise geben, die jedenfalls hicht geringer sein wird als jene, die wir heute schon haben. Wir können uns all das nur leisten, weil es auf der anderen Seite, in der kommunistischen Welt, ähnlich schwere Desintegrationserscheinungen gibt.

Es ist Aufgabe der Politiker, die diesen Namen wirklich verdienen, sich heute schon ernsthafte Gedanken darüber zu machen, wie man dieser Entwicklung entgegenwirken und die Probleme, die sich stellen werden, überwinden kann.

Wie es sein wird, das kann man nicht wissen. Wie es sein soll, muß man wissen.

Ich habe vor einigen Jahren, nach dem Scheitern unserer Bemühungen um eine große Freihandelszone und nach Gründung der EWG und EFTA, den Vorschlag gemacht, durch einen Rahmenvertrag zwischen den beiden und durch ein System von bilateralen Derivatverträgen den Brückenschlag zu realisieren. Ich gebe zu, daß die Zeit nicht reif war, diesen Vorschlag zu verwirklichen. Aber wird sie es auch 1967 nicht sein?

Ich glaube, es wird sich dann gebieterisch die Forderung nach Überwindung der wirtschaftlichen Spaltung in Europa ergeben. In der Zwischenzeit sind sehr ernste und bemerkenswerte Entwicklungen eingetreten. Die neue Stellung Frankreichs in der EWG und in der Weltpolitik muß doch von allen erkannt werden, so wie man verstehen muß, daß Großbritannien, dem man vor ein paar Jahren in Brüssel die Türe zuschlug, nicht so rasch wieder an die gleiche Türe klopfen kann.

Man wird voraussetzen müssen, daß sich die Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber der EWG ändern muß, falls die Kennedy-Runde zu keinem guten Ende gebracht werden kann.

Man wird zur Kenntnis zu nehmen haben, daß Frankreich in der EWG seine Partner nicht überfordern kann und daß manche der EFTA-Staaten den Weg zur EWG nicht antreten können, weil sie die Alternative, zwischen der EWG und England zu wählen, nicht akzeptieren können.

Wie also aus diesem Dilemma herauskommen? Hier liegt es nun, glaube ich, in erster Linie an Frankreich, dem doch eine Renaissance Europas so dringend ist, einen Weg zu zeigen, einen realistischen Weg, einen Weg echter Zusammenarbeit. Erst müßten, so scheint es mir, fruchtbare Gespräche zwischen Frankreich und England geführt werden.

Ich kann mich als Außenminister nicht in die innenpolitischen Angelegenheiten anderer Staaten einmengen — und ich will es auch nicht tun —, so wie ich verpflichtet bin, als Außenminister meine parteipolitische Auffassung zurücktreten zu lassen. Aber ich bin verpflichtet, Ideen, die in der internationalen Debatte aufgeworfen werden, so objektiv wie möglich zu prüfen. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß die von Präsident de Gaulle aktualisierten Probleme auf dem Gebiet der Währungspolitik, der internationalen Politik überhaupt, mir ernstester Beachtung wert zu sein scheinen, und je eher wir in Gespräche hierüber eintreten, desto besser wird es für die Wiederherstellung des Zusammenhaltes in der demokratischen Welt sein.

Man sollte überhaupt größere Bereitschaft zu Gesprächen haben. Ich war seit jeher Anhänger von Gesprächen zwischen dem Westen und dem Osten, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Westen weiß, was er mit diesen Gesprächen erreichen will, daß Eindeutigkeit in den Auffassungen besteht und daß ein Mindestmaß an Gemeinschaft in der Politik vorhanden ist. Erst recht aber muß man doch für Gespräche zwischen den Demokratien sein, wenn sie das Ziel haben sollen, diese Gemeinsamkeit wieder herbeizuführen.

Die europäische Zusammenarbeit, die gesamteuropäisch-wirtschaftliche Integration sind die Schicksalsfragen dieser Generation. Sie würden es verdienen, zum Gegenstand eines echten und klärenden Vorgespräches zwischen England und Frankreich gemacht zu werden, dem dann ein Gespräch in breitestem europäischem Rahmen folgen müßte.

Vielleicht wird man dann die eine oder die andere gute, alte Idee, über die man sich früher nicht verständigen konnte, doch anders beurteilen.

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