FORVM, No. 105
September
1962

Fahrkarte zu den Sternen

Aus einem neuen Sowjet-Roman / Eingeleitet und übersetzt von Erich Frank

Wassilij Aksjonow [*] gehört zu jener Gruppe junger sowjetischer Schriftsteller, die nach dem XX. Parteitag „entstalinisierte“ Prosa zu schreiben begannen. Auf Owetschkin, den ersten von ihnen, folgten Tjendrjakow und Kusnjezow, und heute stehen Namen wie Kosakow, Bogomolow, Nikitin, Slouchin, Aitmatow und Gladilin mit Aksjonow in einer Reihe.

Charakteristisch für diese Gruppe ist ihr Mißtrauen gegenüber großen Worten und ihr Bestreben, auch Sowjetmenschen so darzustellen, wie sie sind — nicht wie sie sein sollten und wie sie in der vierten Dimension des Sozialistischen Realismus groß und ernst dem Kommunismus entgegenstapfen. In der neuen sowjetischen Prosa machen sich neben Produktionsproblemen und ideologischen Seelenstürmen nach und nach auch private Gefühle, Liebe und sogar Liebeswirren geltend, wobei der ewige Krampf um den „positiven“ Helden meist so gelöst wird, daß er zumindest am Anfang ein Suchender ist.

Aksjonow geht noch einen Schritt weiter. Der Held seines Romans „Fahrkarte zu den Sternen“, Dimka, weiß auch am Ende des Buches noch nicht, wohin sein Weg ihn führen wird. Er ist einer von vier siebzehnjährigen Moskauer Studenten, die eines Tages, vor dem Übergang an die Hochschule, aus der vorgeschriebenen Bahn ausbrechen und davongehen. Das Leben nimmt sie in die Schule. Sie lernen schwere körperliche Arbeit, Liebesglück und Liebeskummer kennen, sie begegnen dem Tod — Dimkas älterer Bruder bleibt tragisch auf der Strecke — und aus den arroganten, vom Alltag angeödeten Halbwüchsigen werden ernstere, bessere Menschen.

Seit seinem ersten Erscheinen in der Zeitschrift „Junost“ (Nr. 6 und 7, 1961) ist um Aksjonows Roman eine bewegte Auseinandersetzung im Gange. Von der russischen Jugend wurde er begeistert aufgenommen, aber die linientreuen Kritiker gaben zu bedenken, daß das von Aksjonow bekundete Mißtrauen gegen die großen Worte leicht in ein Mißtrauen gegen die großen Ideale und Ziele der Partei ausarten könne. Die offizielle Nervosität führte schließlich zur Entsendung von unauffälligen Rollkommandos, die die Hefte aufkaufen oder konfiszieren sollten. Sie kamen zu spät. Der Roman war bereits vergriffen, und die sowjetische Jugend begann den Jargon der jungen Helden Aksjonows nachzusprechen. Jetzt sah sich „Literatura i Schisn“, das dogmatisch-konservative Organ des Schriftstellerverbandes, zum Einschreiten veranlaßt und schrieb:

Hier werden Millionen junger Sowjetmenschen besudelt, die weder von Cafés noch von Rock-’n-Roll und abstrakter Malerei hingerissen sind. Gewiß trifft man hie und da noch die von Aksjonow beschriebenen Typen, aber es ist doch klar, daß sie eine Fäulniserscheinung sind, gegen die man ankämpfen muß, auch mit der Waffe des Schriftstellers. Manchmal erscheinen bei uns noch Bücher, die der kommunistischen Erziehung im Wege stehen. Eine prinzipielle, auf dem Standpunkt der Partei stehende Kritik muß gegen sie auftreten.

Das wird der prinzipiellen Kritik nicht leichtfallen, denn inzwischen mehren sich die Stimmen, die für Aksjonow Partei ergreifen. Sie stützen sich auf das neue Programm der KPdSU, in dem es ausdrücklich heißt, daß „die Künstler ein weites Betätigungsfeld vor sich haben, auf dem sie ihre schöpferische Initiative und hohe Meisterschaft beweisen können, und das eine Vielfalt von schöpferischen Formen, Stilgattungen und Genres ermöglicht“. Besonders wird darauf verwiesen, daß das Programm vom „kühnen Mut zu Neuerungen in der künstlerischen Darstellung des Lebens“ spricht.

Die folgende (gekürzte) Übersetzung des 2. Kapitels aus Aksjonows Roman möchte andeuten, wo in den Augen der offiziellen Sowjetkritik der kühne Mut aufhört und die Häresie beginnt.

Wie lieb’ ich doch diese bildhafte Stadt,
die wuchernde, mit den verfallenden Mauern.
Verschlafenes, goldenes Asien
ruht auf ihren Kuppeln ...

Herr Dichter, Sie werden Ihre Stadt nicht wiedererkennen! Kommen Sie, gehen wir durch die Straßen. Es gefällt Ihnen nicht besonders: Das Grauen packt Sie: Das verstehe ich. Sehr gut verstehe ich es, daß Leute, die hierher kommen, in diesen Gassen von Angst befallen werden und bedrückt sind. Vielleicht würde auch mich das Grauen packen, wenn ich diese Stadt nicht gern hätte. Gerade diese Stadt, die vergessen hat, daß sie einmal „bildhaft“ war.

„Gehen wir“, sagte Boris. „Warum stehst du da wie eine Salzsäule: Ich mag es nicht, wenn du so ins Leere starrst.“ Wir steigen hinab in die Untergrundbahn, mischen uns in den Menschenstrom, gehen durch den langen gekachelten Gang. Das Scharren der Füße auf dem Kachelboden erinnert an das Rauschen eines sommerlichen Regenschauers, aber wir Moskauer hören diese Geräusche normalerweise nicht. Für uns ist dies Stille. Wir reagieren nur auf scharfe Reize. Ich träume vom Regen, deshalb höre ich ihn vielleicht auch. Ich träume vom Urlaub.

In unserer Station steigen wir aus, reihen uns in die Schlange zum Zeitungsstand ein, dann in die Schlange vor der Trafik. Den kleinen Platz vor der Station bevölkert wie jeden Abend eine Fuhre junger Burschen. Sie sitzen auf dem Geländer und stehen in kleinen Gruppen herum. Sie grinsen und sehen den Leuten nach, die aus der Metro herauskommen. Hinter den Mädchen fliegen Bemerkungen und Kommentare her, ab und zu wird gepfiffen. Vor der Metro herumzulungern ist die beste Unterhaltung, die sich der Mensch am Abend wünschen kann.

„Schau sie dir an“, sagt Boris. „Schau ihnen nur in die Visagen. Da läuft es einem kalt über den Rücken.“

„Unsinn“, sage ich. „Das sind ganz normale Moskauer Burschen. Nur daß eben hier einer vor dem andern großtut, das ist alles.“

„Normale Moskauer Burschen! Ich danke schön!“ schreit Boris. „Diese Bagage hältst du für normale Moskauer Burschen? Lauter Rowdies sind das, einer wie der andere. Der Schlamm der Großstadt!“

„Geh baden, Boris! Du kennst doch unseren Dimka, oder nicht?“

„Ja. Und?“

„Ich wette, daß Dimka ein ganz normaler junger Moskauer ist. Und selbst er lungert manchmal hier herum. Wenn du nicht wüßtest, wer er ist, könntest du ihn von den anderen hier nicht unterscheiden. Und würdest Feuer und Schwefel auf ihn herunterwünschen.“

„Und was, glaubst du, ist euer Dimka? Der kann denen da ruhig die Hand geben. Ein durchtriebener Kerl ist er.“

„Höre, Boris ...“

„Ja? Was denn? Willst du mir vielleicht erzählen, daß Dimka irgendwelche Pläne fürs Leben hat: Daß er imstande wäre, sich für etwas zu begeistern? Daß irgendetwas auf der Welt ihm heilig ist? Alles, was der im Kopf hat, sind Tonbänder, Mädchen und Saufen! Ein Zeugnis hatte er, daß es eine Schande war ...“

Weiß der Teufel, was da in den Borja gefahren ist. Und das nennt sich mein Freund!

Wir kommen zu unserem Haus. Boris will irgendwelche Bücher von mir mitnehmen.

„Ein Vorschlag“, sage ich zu ihm, nachdem wir schon eine hübsche Weile geschwiegen hatten. „Willst du erfahren, woran unser Dimka denkt?“ Ich sage das so, als ob ich selbst ganz genau wüßte, woran Dimka denkt. „Setzen wir uns auf eine Viertelstunde zu uns in den Hof. Um diese Zeit ist er immer dort. Reden wir mit ihm.“

Das „Barcelona“ lebt sein Abendleben so wie alle Häuser in Moskau. Mit einem runden Hundert von Fenstern, mit allen drei Stockwerken, guckt es in den Hof. Hinter den Vorhängen bewegen sich Leute, lassen die Fernsehapparate mit voller Lautstärke laufen.

Am andern Ende des Hofs basteln zwei Freunde, Gera und Gora, auf einem Fensterbrett an einem Magnetophon herum. Gleich werden sie es spielen lassen, bis allen das Trommelfall platzt. Bis der Hausmeister kommt.

Dimka mit seiner Clique taucht im Hof auf.

Noch nie habe ich Galja mit Freundinnen gesehen. Sie geht nur mit Dimka, Alik und Jurka. Und die Burschen kleben an ihr wie siamesische Zwillinge. Es ist schwer abzuschätzen, ob sie ihr den Hof machen oder ob es nur die Fortsetzung einer Kinderfreundschaft ist.

Sie setzen sich auf eine kleine Bank, nicht weit von uns. Vielleicht sehen sie uns nicht. Vielleicht wollen sie uns nicht sehen.

Gera und Gora lassen das Tonband schon minutenlang laufen und der Hausmeister kommt noch immer nicht. Das „Barcelona“ scheint heute abend in lyrischer Stimmung zu sein.

Die Jazzsynkopen schlagen auf die Erde wie Hagelgraupen, wie ein Preßhammer, sie attackieren die Mauer, sie versuchen die reglosen Sterne loszuschütteln, sie stimmen einmal weich und dann wieder wild bis zur Verrücktheit. Drei Paar spitze Halbschuhe und ein Paar Pumps klopfen den Takt mit. Wir sehen den Jungen nicht in die Gesichter, sie sind im Schatten unter dem Flieder. Und die Stimmen hören wir nur in den Pausen zwischen der Musik.

Warum habe ich eigentlich den Entschluß gefaßt, mit Dimka zu reden? Was weiß ich denn wirklich von meinem kleinen Bruder? Was denkt er? Wir Denisows sind eine intellektuelle Familie. Der Vater ist Dozent und die Mutter beherrscht zwei Sprachen. Dimka hat alles gelesen, was ein Bub aus einer „guten Familie“ gelesen haben soll. Und er kann sich bei Tisch benehmen, wenn Gäste kommen. Erzogen aber hat ihn das „Barcelona“, erzogen hat ihn unsere Gasse und unsere Metrostation. Ein wenig auch das Stadion und das Tanzparkett in der Malachowka, und ein wenig die Schule. Das klingt lästerlich, denn die Schule hätte ihn doch vor allem erziehen sollen ... Ach, laß doch. Es ist noch nicht so lange her, da bist du selbst noch zur Schule gegangen.

„Pablito ...“, flüstert das Magnetophonmädchen erschöpft.

Alik: Ich begreif nicht, warum der Jurka herumraunzt. Den ganzen Sommer wird er mit dem Nationalteam unterwegs sein, und nachher nehmen sie ihn als hervorragenden Sportler irgendwo ohne Prüfung auf.

Dimka: Du raunzt wirklich? Herrschaften, er fährt nach Ungarn — und da raunzt er noch!

Jurka: Nach Ungarn fährt der Galatschjan, nicht ich.

Galja: Red keinen Unsinn, Jurik.

Jurka: Ich red keinen Unsinn. Es stimmt. Sie haben den Galatschjan aufgestellt. Angeblich ist er ein besserer Taktiker als ich. Mein Alter jubelt. Du wirst auf die Fakultät gehen, sagt er. Wenigstens wird etwas aus dir.

Die Trompete! Der laute Klang der Trompete fliegt zum Himmel und kreist und die dumpfe Stimme des Kontrabasses löst ihn ab. Und wieder die Trompete. Und das Leben geht weiter. Und Jurka wurde nicht ins Nationalteam gestellt. Ich begreife durchaus, daß das eine Tragödie ist. Das Saxophon jault. Und das Leben geht weiter. Und mein kleiner Bruder ist unzufrieden mit dem Leben. Was braucht er — außer der Trompete, dem Kontrabaß und dem Saxophon? Versuch du einmal, mit ihm darüber zu reden! Er wird dich auslachen. Das Leben geht weiter und die Trompeten spielen heute ein wenig anders als vor elf Jahren.

Jurka: Wenn ich nur einen Knopf Geld bei mir hätte, würde ich mich besaufen.

Dimka: Etwas anderes bleibt einem ohnedies nicht übrig.

Alik: Du, Jurka, wir werden uns gemeinsam für die Regieklasse auf der FAMU [**] vorbereiten.

Galja: Bereit dich lieber mit mir für die Schauspielklasse vor. Du hast die Figur dazu.

Dimka: Ich rate euch, laßt euch auf der Timirjasewka [***] einschreiben. Dort haben sie angeblich eine neue Fakultät eröffnet. Für Stierkämpfer. Dafür bringt Jurka alle Voraussetzungen mit. Und Galka soll auf die Kürschnerschule gehen, sie wird Fuchs- und Zobelpelzchen vorführen. Die bringt dafür auch alle Voraussetzungen mit.

Galja: Und du, Dimotschka? Wofür bringst du die Voranssetzungen mit?

Ein unverschämter Bariton überredet ein Mädchen mit irrwitziger Geschwindigkeit. Laß die Ziererei, schlag dir allen Unsinn aus dem Kopf und küß mich. Noch, küß mich noch. Das ist das einzige, was dir wohltut. Gera und Gora sind wie verrückt und der Hausmeister kommt noch immer nicht. Sollte es ihnen gelingen, das Tonband zu Ende zu spielen?

Boris neben mir schweigt und raucht. Auch ich schweige und rauche.

Wieder Trompeten, Saxophone und Kontrabaß. Auf dem beleuchteten Fleck mitten im Hof tanzt Galja mit Dimka. Alik und Jurka klatschen den Takt. Und unser armer kleiner Park fliegt in die Höhe, hängt über den Dächern. Die Sterne drehen sich wie bei einem Rundtanz. Ein Mädchen tanzt mit einem Burschen und die ganze Welt setzt sich Faschingsmasken auf. Die Jugend tanzt am Fuße des Olymp und die ausgedienten Kämpfer stellen sich im Kreis auf. Schamhaft bergen sie ihre verrosteten Schwerter hinter dem Rücken und grinsen ungläubig. Die Jungen tanzen. In diesem Augenblick verlangen sie nicht mehr. Tanzt, solange ihr siebzehn seid. Tanzt und wiegt euch im Sattel, taucht in die Tiefen und klettert mit den Bergsteigern empor. Fürchtet euch vor nichts, all das ist euer — die ganze Welt. Die Ausgedienten werden ihre Schwerter nicht erheben. Dafür garantieren wir.

Boris geht, als ob er ein Lineal verschluckt hätte. Nichts habe ich ihm bewiesen. Und wie es scheint, werde ich ihm wohl niemals etwas beweisen.

Allmählich wird es still. Die Fenster schließen sich, die Leute im Hof gehen auseinander. Nur Dimkas Clique bleibt noch. Sie stecken die Köpfe zusammen und flüstern sich etwas zu. Alik hat einen Sechser in die Luft geworfen und ihn auf dem Knie festgehalten. Dimka zeichnet mit einem Zweig Figuren in den Sand ...

Ich gehe mit Dimka durch unsere Gasse. Es ist Nacht. Wir steigen über die Pfütze bei den Sodawasser-Automaten und kicken leere Eisbecher mit den Schuhspitzen weg.

Dimka und ich sind gleich groß. Auch in der Schulterbreite wird er mich bald eingeholt haben.

„Wir haben ungefähr folgenden Plan“, sagt Dimka. „Zuerst fahren wir nach Riga, ans Meer. Dort erholen wir uns ein wenig. Schließlich müssen wir uns doch, zum Donnerwetter, ein wenig erholen! Dann tippeln wir am Ufer entlang bis Leningrad. Unterwegs verdingen wir uns in irgendeinem Fischerkollektiv. Jemand hat mir gesagt, daß man dort eine ganze Fuhre Geld verdienen kann. Und dann weiter. Wir schauen uns Reval an, und Anfang August sind wir in Leningrad. Dort schicken wir Galka auf die Schauspielakademie, und wir ...“

„Was — ihr?“

„Wir denken uns irgendeinen neuen Plan aus.“

„Wieder so einen perfekten Plan, wie diesen hier“, sage ich. „Bis ins Detail durchdacht, nichts vergessen. Sobald euch das liebe Geld ausgeht, erscheint ein Fischerkollektiv, ihr schmeißt ein Netz ins Meer und zieht goldene Fischlein heraus. Was braucht man mehr, Dimka? Ein Gedicht von einem Plan!“

„Ich pfeif auf alle Pläne!“

Ich bleibe stehen und fasse meinen Bruder an den Rockaufschlägen.

„Höre, Dimka. Als du noch ein kleiner Stöpsel warst, hab ich dich immer verteidigt und hab keinem erlaubt, dich zu verhauen.“ „Na und? Was soll’s?“

„Daß ich jetzt Lust hätte, dir ein paar ordentliche Ohrfeigen zu geben.“

„Das kannst du ja probieren!“

„Dummkopf. Denkst du denn gar nicht an die Mutter: Und was sie aufführen wird, wenn du verduftest?“

„Deshalb erzähle ich dir ja das alles. Du mußt sie beruhigen. Aber ...“ (und jetzt nimmt er mich beim Rockaufschlag) „... wenn du ein anständiger Mensch und Kamerad bist, dann spuckst du nicht aus, wo wir sind“.

„Sie wird das ganze Hauskomitee in Aufruhr bringen!“

Dimka schluckt und steckt die Hand in die Tasche, um nach Zigaretten zu suchen.

„Begreif doch, Vitja. Wir haben uns nun einmal entschlossen. Ich hab’s den Burschen eingeredet. Was wär’ ich für ein Kerl, wenn ich jetzt kneifen wollte?“

„Und was wärst du für ein Kerl, wenn du wegläufst: Von zu Hause läuft man mit zwölf oder dreizehn Jahren weg, und auch das nur in Kinderbüchern. Aber mit siebzehn — verzeih, Bruderherz — tut man es wirklich nicht. Wenn du einen Willen hast, zeig ihn an etwas anderem. Warum versuchst du nicht, auf die Hochschule zu kommen?“

„Weil ich nicht will!“ schreit Dimka verzweifelt. „Laß mich in Ruh’ damit! Glaubst du, ich will in deine Fußstapfen treten? Glaubst du, daß deine Art zu leben für mich ein Ideal ist? Dir, Viktor, haben Vater und Mutter das Leben geplant, als du noch in der Wiege lagst. In der Schule lauter Einser, auf der Hochschule lauter Ausgezeichnet, dann Aspirant, zweiter Fachassistent, Dozent, erster Assistent, Doktor, Akademiemitglied ... Was kann jetzt noch kommen? Der von allen hochverehrte Verstorbene? Du hast doch dein ganzes Leben lang keine einzige wirklich ernste Entscheidung getroffen, hast kein einziges Mal etwas riskiert. Geh baden! Wir sind kaum geboren — und schon haben sie alles für uns ausgedacht, schon ist unsere Zukunft entschieden. Das könnte ihnen so passen. Nein, lieber vagabundieren und ein Malheur nach dem andern haben, als sein ganzes Leben lang das Bübchen sein, das gehorsam fremde Entscheidungen ausführt!“

Das also ist es. Offenbar eine Lebensphilosophie. Du verachtest mich, Dimka? Du hast keine Lust, so zu leben wie ich? Du hältst mich für ... schweigen wir lieber. Es kommt mir gar nicht mehr so vor, als wäre ich der ältere Bruder und hätte die Oberhand.

Ich habe gewaltige Lust, mich meiner geliebten Beschäftigung zu widmen: mich flach ins Fenster zu legen, die Hände hinterm Kopf zu verschränken, an nichts zu denken und das längliche Rechteck zu beobachten, dessen Form an eine Eisenbahnfahrkarte erinnert. Eine Karte, die von der Sternenzange gelocht ist. Von dieser meiner Fahrkarte weiß niemand. Ich sage niemandem davon. Ich weiß nicht einmal, wann ich sie zum erstenmal bemerkt habe. Aber schon seit einigen Jahren, wenn mir manchmal von allem so unbehaglich wird, lege ich mich flach ins Fenster und schaue hinauf zu meiner Sternenfahrkarte ...

[*Siehe auch den Aufsatz von Manya Harari in diesem Heft, S. 362.

[*Siehe auch den Aufsatz von Manya Harari in diesem Heft, S. 362.

[**Akademie für Film, Musik und darstellende Kunst.

[***Landwirtschaftliche Akademie.

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