FORVM, No. 203/II
November
1970

Fakten und Ziffern zur FLQ

Eskalation seit 1968

„Vive Québec libre!“ rief Frankreichs Staatschef General de Gaulle im Frühling 1968 vor Tausenden Frankokanadiern in Montréal. Dies führte damals zum Abbruch des Staatsbesuches in Kanada und erstmals zum Interesse der Weltöffentlichkeit für die Spannungen zwischen englisch und französisch sprechender Bevölkerung in Kanada.

Seither verschärfte sich die Situation in Québec ununterbrochen. Die Unabhängigkeitsbewegung wurde stärker und stärker.

Sommer 1968: 5000 Arbeiter der CNTU, der größten (frankokanadischen) Gewerkschaft in Québec, demonstrieren in Montréal. Die Polizei greift mit Tränengas ein.

Herbst 1968: Mehrere tausend Studenten besetzen die 17 neu eröffneten Jurior Colleges und fordern eine neue, französische Universität in Québec. Sie werden gewaltsam von der „Antiterroristen-Squadron“ der Polizei vertrieben.

Frühjahr 1969: 15.000 Studenten und Arbeiter demonstrieren gegen die McGill-Universität, Hochburg des englischen Bildungsprivilegs in Québec.

Herbst 1969: 30.000 Menschen demenstrieren gegen das Gesetz (Bill 63), das Französisch und Englisch in ganz Kanada als offizielle Staatssprachen einführt. Blutige Zusammenstöße mit der Polizei.

Oktober 1969: Die Polizei streikt in Montréal. Ihre Aufgaben werden vom Militär übernommen. Im Zuge von Demonstrationen gibt es einen Toten und mehrere Verletzte.

November 1969: Bombenanschlag auf die Montrealer Börse. Verhaftungswelle.

Mai 1970: Über 40.000 Menschen demonstrieren für die Befreiung politischer Häftlinge, inbesondere Charles Gagnon und Pierre Vallières, führende Mitglieder der Befreiungsfront für Québec (Front de Libération Québec, FLQ).

Oktober 1970: Die FLQ entführt den britischen Botschaftsattaché James Cross und den Arbeitsminister der Provinz Québec, Pierre Laporte. Die Regierung geht auf die Forderung der FLQ nach Freilassung von 23 politisehen Häftlingen nicht ein. Laporte wird ermordet. Die Zentralregierung schickt Militär und verhängt den „Kriegszustand“.

Geschichte seit 1610

Die Franzosen waren die ersten Kolonisten im Gebiet um den Sankt-Lorenz-Strom; 1610 wurde die Stadt Québec gegründet, Wenig später kamen die Briten. Anfängliche Handelsgegensätze wurden rasch zur politisch-militärischen Konfrontation. Als Frankreich durch den Siebenjährigen Krieg in Europa gebunden war, benutzte Großbritannien die Gelegenheit und siegte in „Neufrankreich“. 1763 wurde ganz Kanada britisch. Die Engländer hätten gerne die Franzosen wieder aus dem Lande geworfen. Sie deportierten kurzerhand alle französischen Siedler aus Neuschottland nach Frankreich. Deportation erwies sich jedoch bei den über 63.000 Franzosen um Québec als unmöglich. Trotz Forçierung britischer Einwanderung nach Québec bewahrten die französischen Siedler ihre Eigenständigkeit in Sprache, Kultur und Religion.

Die Franzosen fühlten sich nie recht glücklich unter britischer Herrschaft. Schon 1837 veranlaßten separatistische Bestrebungen London, Französisch- (Unter-) und Englisch- (Ober-) Kanada wiederzuvereinen, um die britische Vorherrschaft zu sichern. 1867 wurde dann die kanadische Union gegründet, der sich auch die Provinz Québec anschloß.

Wirtschaftslage

80 Prozent der Bevölkerung Québecs sind Frankokanadier, 17 Prozent britischer Abstammung. Doch über 99 Prozent der Wirtschaft befindet sich in fremden Händen: 60 Prozent in amerikanischen, 20 Prozent in anglokanadischen und 10 Prozent in britischen. So fließt der Gewinn aus den ungeheuren Bodenschätzen Québecs aus der Provinz ab. Québec ist eine der reichsten Provinzen Kanadas in bezug auf Bodenschätze: Eisen, Nickel, Titan, Molybdän, Niobium, Asbest und viele andere Minerale. Betrachtet man jedoch den Lebensstandard, so ist Québec die ärmste Provinz. Durchschnittsverdienst eines Anglokanadiers: 5502 kanad. Dollar, eines Frankokanadiers: 4300.

Québec war schon immer ein Getto für billige Arbeitskräfte, die Arbeitslosenrate immer höher als der gesamtkanadische Durchschnitt: 1969 in ganz Kanada 6 Prozent, in Québec 8,4 Prozent, in Montreal 12 Prozent. Die Arbeitslosigkeit Jugendlicher zwischen 14 und 19 beträgt fast 20 Prozent (1. Halbjahr 1970).

Dazu kommt ein empfindlicher Preisauftrieb, der im 1. Halbjahr 1970 4 Prozent betrug. Besonders Mieten und Lebensmittel verteuerten sich.

49 Prozent der Einwohner Montréals sind nach offiziellen Kriterien arm, da sie weniger als $ 3000 im Jahr verdienen; gesamtkanadischer Durchschnitt: 29 Prozent.

Soziale Lage

Erst Herbst 1969, über 100 (!) Jahre nach der Eingliederung Québecs in die kanadische Union, wurde Französisch gesetzlich als zweite offizielle Staatssprache in ganz Kanada verankert. Aber 95 Prozent aller Einwanderer gliedern sich in den englischsprachisen Teil der Bevölkerung ein, da die Aufstiegs- und Berufschancen mit Französisch viel geringer sind. Wenn der Trend anhält, hat Montréal zu Beginn der achtziger Jahre eine englischsprechende Mehrheit.

Auf Arbeitsuche hat man als Anglokanadier weitaus größere Chancen. Die Möglichkeiten, in gehobene Stellungen oder gar Führungspositionen zu gelangen, sind für Frankokanadier gering. Ungefähr 90 Prozent des gehobenen Managements in Québec sind britischer Abkunft.

Wie gesagt, beträgt die anglokanadische Bevölkerung 17, die frankokanadische fast 80 Prozent. Doch über 50 Prozent der Studierenden an den Colleges und Universitäten sind britischer Abkunft. Für frankokanadische Absolventen ist der Aufstieg in die Führungsspitze von Verwaltung und Industrie fast unmöglich.

Schlechter ist nur noch die Statisiik der kanadischen Indianer: 78 Prozent sind arm (sie verdienen weniger als $ 3000 im Jahr). Ihre Lebenserwartung beträgt 34 Jahre (kanadischer Durchschnitt: 62 Jahre). 50 Prozent aller indianischen Kinder gehen nur bis zum zwölften Lebensjahr zur Schule, und 150 Indianer aus einer Gesamtheit von 240.000 studieren.

Geschichte der FLQ

Québec wurde, wenn auch zögernder als andere kanadische Provinzen, industrialisiert. Der Lebensstandard erhöhte sich, absolut betrachtet. Doch die Relation zwischen anglo- und frankokanadischer Bevölkerung änderte sich nicht. Wie die angeführten Zahlen beweisen, besteht immer noch ein soziales Gefälle. An der ursprünglichen Situation hat sich nur wenig geändert.

Daher wandelte sich die liberale Tradition der Befreiungsbewegung in Québec, die auf friedlichem, evolutionärem Wege die Probleme im Rahmen der kanadischen Union lösen wollte, immer mehr in eine revolutionäre, militante Kampfbewegung, vor allem der Studenten und jungen Arbeiter, in Richtung Loslösung von der kanadischen Union. Die Befreiungsfront von Québec (FLQ) wurde 1962 gegründet und setzte sich ein freies und unabhängiges Québec zum Ziel.

Februar 1970 brachten Radio Kanada (CBC) und das kanadische Fernsehen (CTV) ein Interview mit Charles Gagnon, dem erwähnten Führer der FLQ. Es war das erste und letzte. Kein Vertreter der Befreiungsfront kam nachher je zu Wort. Premieriminister Trudeau hatte gedroht, CBC und CTV unter staatliche Zensur zu stellen. Worauf man „freiwillige Selbstzensur“ übte und nur mehr die offizielle Regierungsmeinung zu Wort kommen ließ.

In den Junior Colleges (CEPEGs) wurden Dutzende Studentenführer nach der Besetzung der CEPEGs, als man für die Durchbrechung des britischen Bildungsmonopols demonstrierte, ohne ordentliches Verfahren einfach ausgeschlossen. Es ist in 100 Prozent aller High Schools und 85 Prozent aller CEPEGs illegal, Flugblätter oder Zeitschriften zu verteilen oder Versammlungen abzuhalten. Verletzung dieser Regeln bedeutet sofortigen Ausschluß.

In Montreal wurde eine Stadtverordnung erlassen, die es gestattet, während einer bestimmten Zeit Demonstrationen generell zu verbieten (dies geschah Herbst 1969 einen Monat lang). Politische Führer werden vor Demonstrationen in Vorbeugehaft genommen. Die Polizei erhielt Blankovollmacht, „alles zu beschlagnahmen, was geeignet ist, jemanden zu ruhestörenden Handlungen zu verleiten“. Mit dieser Ermächtigung wurden ganze Druckereien konfisziert.

Von Québecs Justizminister, Rémi Paul, wurde eine Antiterror-Squadron eingerichtet, im Bedarfsfall verstärkt Paul Bundespolizei, Provinzpolizei, städtische Polizeikräfte und Armee. Bedarfsfälle sind Demonstrationen, nächtliche Razzien, Unruhen an Universitäten.

Während des „Kriegszustandes“ konnte die Regierung Gesetze auf dem Verordnungswege erlassen, die Polizei kann ohne Ermächtigung Hausdurchsuchungen vornehmen, ohne Haftbefehl Personen festnehmen (350 wurden festgenommen) und bis zu 90 Tagen ohne Genehmigung eines Untersuchungsrichters in Haft halten. Die seither an Stelle des „Kriegsrechtes“ beschlossenen Ausnahmegesetze sind kaum besser.

Welche vitalen Interessen sind durch die Separatisten bedroht? Es geht um die ungeheuren Bodenschätze der Provinz Québec. Québec fördert 20 Prozent aller Minerale in Kanada, die geförderten bergbaulichen Werte betrugen 1962 519,1 Millionen kanadische Dollar. Dazu kommen riesengroße noch nicht abgebaute oder noch gar nicht erschlossene Lagerstätten, vor allem in dem zu Québec gehörigen Labrador. Bei Trennung Québecs von der Union bestünde Gefahr, daß Besitz und Kontrolle dieser Reichtümer bedroht werden. Die Separatisten sind für Vergesellschaftung dieser Industrien; vgl. das in diesem Heft abgedruckte FLQ-Programm.

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