FORVM, No. 152-153
September
1966

Für eine freie Stimme

Jüngsthin gab es in Jugoslawien eine immer größere Zahl offener und öffentlicher Äußerungen von Leuten, die mit der Politik des Bundes der Kommunisten (KP Jugoslawiens) ideologisch nicht übereinstimmen und die marxistische Philosophie nicht akzeptieren, auch nicht deren Jugoslawisch-„revisionistische“ Spielart.

Beweismittel hiefür liefern unter anderem die Einstellung der Zeitschriften „Danas“ und „Perspektive“, die Beschlagnahme der Februar-Nummer des „Delo“, der Angriff auf die Zeitschrift „Praxis“, das Verbot des Filmes „Grad“ und die Ansprache des Präsidenten an die Vertreter der öffentlichen Anklagebehörden des Bundes und der Republiken am 12. Februar 1965. [*]

Monopol für 10%

Diese Situation ist durchaus verständlich. Für die fast 20 Millionen Einwohner Jugoslawiens gibt es nur eine einzige politische Organisation. Sie repräsentiert nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung, besitzt aber das ausschließliche Recht, die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen zu gestalten und das öffentliche Leben des Landes zu bestimmen. Sie hat praktisch das Monopol hinsichtlich aller Informationsmittel.

Die große und ständig wachsende Zahl von Leuten in diametraler Opposition zu den Ansichten des Bundes der Kommunisten verfügt über kein einziges Presseorgan. Diese Leute müssen entweder schweigen oder sind dazu gezwungen, den Durchbruch an die Öffentlichkeit mittels camouflierter Attacken in der offiziellen Presse zu versuchen; die in Frage stehende Publikation wird daraufhin meist durch Entzug der staatlichen Subvention bestraft, was ihrer völligen Einstellung gleichkommt.

Die neue jugoslawische Verfassung, verlautbart am 17. April 1963, sowie die gesetzlichen Bestimmungen betreffend die Presse und andre Nachrichtenmittel, garantieren ohne Einschränkung die Freiheit der Presse, der Information, der Meinung und der politischen Assoziation, insoweit die damit verbundene Tätigkeit im Einklang mit der Verfassung steht, d.h. nicht antisozialistisch ist, nicht zu nationalem Haß aufreizt, keine Kriegshetze darstellt usw.

In der neuen Verfassung findet sich durchaus nichts, woraus sich ableiten ließe, daß der kommunistischen Partei ein Monopol hinsichtlich gesellschaftlicher und politischer Tätigkeit zukäme; das Prinzip der sozialistischen Organisation der Gesellschaft wird von der Verfassung auf keine Weise mit dem Prinzip der Einparteienherrschaft verknüpft.

Es gibt daher eine gesetzliche Basis für die Gründung einer Publikation, die sich offen gegen das existierende politische Regime wendet. Eine solche Publikation könnte zum Kristallisationspunkt einer künftigen gesellschaftlichen und politischen Organisation werden, die völlig legal, nicht-kommunistisch und demokratisch sein würde.

Die praktischen Möglichkeiten für die Verwirklichung eines solchen Projektes werden weiter unten erörtert. Vorerst eine Analyse der gegenwärtigen Situation in der Welt und in Jugoslawien zum Nachweis der Dringlichkeit und Wichtigkeit einer solchen offenen und legalen Oppositionsbewegung innerhalb der sozialistischen Welt, wovon Jugoslawien trotz vieler Differenzen immer noch ein organischer Teil ist.

Im Jahr 1966 lebt die Menschheit in vieler Hinsicht anders, verglichen mit der Zeit vor zehn oder zwanzig Jahren. Die soziale Revolution der Völker Lateinamerikas nimmt gerade erst Gestalt an, der Kampf der Völker Afrikas um nationale und wirtschaftliche Unabhängigkeit ist in vollem Gange. In Asien erlangt China eine immer stärkere Stellung als Fahnenträger rassistisch-nationalistischer Bewegungen. Unterdessen sind in der nördlichen Hemisphäre Veränderungen im Gange, die, allen Anzeichen zufolge, für die Zukunft der Menschheit immer größere Bedeutung erlangen werden; das dominierende Ereignis der letzten zehn Jahre, die große Hoffnung für die Erhaltung der Freiheit im europäisch-amerikanischen Kulturkreis, war der Bruch zwischen der russischen kommunistischen Partei und der Volksrepublik China. Dieser Bruch war von vielen Veränderungen innerhalb der Sowjetunion begleitet und wird alle weltpolitischen Entwicklungen in der nächsten Dekade bestimmen.

Rußland wird europäisch

Dieser Bruch ist, in vielfacher Vergrößerung, eine Wiederholung des Konflikts zwischen der kommunistischen Partei Jugoslawiens und dem Kominform im Jahre 1948. Die Reaktionen der beiden Seiten des gegenwärtigen Konfliktes sind mit den damaligen identisch. Die jüngsten Ereignisse in der Sowjetunion bestätigen, daß dieses Land denselben Weg einschlägt, den damals Jugoslawien nahm. Die Symptome sind bis ins kleinste Detail die gleichen.

Die Entstehung neuer Relationen zwischen den Mächten bedeutet eine weltpolitische Frontbildung, die eher auf verschiedenen kulturellen und geographischen Merkmalen beruht als auf der Verschiedenheit des gesellschaftlichen Systems; dadurch wurde deutlich, daß Rußland immer noch ein Teil der christlich-europäischen Kultur ist und sich wieder auf dem Weg der Europäisierung befindet. Dies wird zu weitreichenden inneren Veränderungen im Aufbau der sowjetischen Gesellschaft führen; die Entwicklung hat gerade erst begonnen, obgleich die Sowjetregierung den Anschein erwecken will, daß die wichtigsten Systemkorrekturen bereits im Gefolge des XX. Parteitages erfolgt seien.

Die übrigen sozialistischen Staaten Europas befinden sich auf demselben Weg.

Aber gerade auf diesem Weg werden die Sowjetunion und die „Volksdemokratien“ an einen Punkt gelangen, an dem die Legalität des totalitären Systems, die absolute Herrschaft einer einzigen Partei über die Mehrheit, und damit das innerste Wesen des Kommunismus, in Frage gestellt wird.

An diesem Punkt angelangt, werden die kommunistischen Parteien sich dem folgenden Dilemma gegenübersehen: entweder müssen sie dann freiwillig ihre Macht preisgeben, gemäß dem Ergebnis freier Wahlen; oder sie müssen dann versuchen, ihre Macht weiterhin zu behalten durch Rückkehr zur offenen Polizeidiktatur und Erneuerung des Versuches, sich mit den chinesischen Kommunisten zu vereinigen.

Es gibt keinen dritten Weg.

Gerade weil Jugoslawien, den Zeichen der geschichtlichen Stunde folgend, in den vergangenen zehn Jahren an der Spitze aller anderen sozialistischen Staaten marschierte, ist dieses Land nun als erstes an jener entscheidenden Weggabelung angelangt. Die Entwicklung in Jugoslawien zeigt, daß es nur jene zwei Wege für die sozialistischen Länder gibt: Rückkehr zur offenen Diktatur oder Liberalisierung, an deren Ende auch das Ende der Macht der kommunistischen Partei steht.

Die KP geht nicht freiwillig

Die Geschichte zeigt, daß nirgendwo und niemals eine totalitäre Partei ihre Macht freiwillig preisgibt. Es ist ziemlich naiv, zu erwarten, daß dies in Jugoslawien oder in den anderen sozialistischen Staaten sich ereignen wird. Aber es ist gleichfalls unmöglich, den Status quo zu konservieren, obwohl dies derzeit der einzige Wunsch der Führung des jugoslawischen Kommunismus ist.

Als Resultat des Bruches mit dem Kominform im Jahr 1948 hat sich Jugoslawiens damals totale Isolation von der westlichen Welt nun ins Gegenteil verkehrt, und dies führte zu einer drastischen Veränderung im Denken des jugoslawischen Volkes. Die Jugoslawen sind nicht mehr bereit, sich mit einem Lebensstandard abzufinden, der um so viel niedriger ist als jener der kapitalistischen Länder, noch auch wollen sie den Mangel an bürgerlicher, geistiger und politischer Freiheit dulden.

Ähnlich denkt man heute in den anderen sozialistischen Staaten, insbesondere in der Sowjetunion, im Gefolge des Bruches mit den chinesischen „Dogmatisten“ des Kommunismus.

Der Status quo kann in Hinkunft nur noch so aufrecht erhalten werden, wie er fast ein halbes Jahrhundert lang in der Sowjetunion aufrechterhalten wurde: durch die Polizei.

Versuche, den Lebensstandard zu heben, die Wirtschaft zu liberalisieren und einige ideologische und soziale Freiheit zu gewähren, hiebei aber die Einparteienherrschaft zu erhalten — das ist der Kurs, der in Jugoslawien gesteuert werden sollte. Die von der Regierung eingeleiteten Reformen wurden aber in der Praxis bereits wieder beträchtlich verändert und so reduziert, daß der einzige Effekt bisher ein neuerliches Absinken des Lebensstandards war.

Die Einschränkung der Reformen war deshalb nötig, weil die einzigen Maßnahmen, die den Lebensstandard heben können — wirtschaftliche Liberalisierung, freier Markt, freie Konkurrenz, Privatinitiative —, zugleich jene sind, die automatisch auch zur politischen Liberalisierung führen, und diese wiederum führt in letzter Instanz zum Zusammenbruch der totalitären Macht der kommunistischen Partei.

Dies aber wird die Partei niemals willentlich zulassen. So bliebe also die andere Alternative: die Wiedereinführung erst der versteckten, dann der offenen Polizeidiktatur und, in dem Versuch, für diese Diktatur eine Stütze zu finden, die engere Verbindung mit der russischen kommunistischen Partei. Sehr wahrscheinlich wird sich dies nicht ereignen, zumindest nicht auf offene Weise, solange Tito an der Macht ist.

Sogleich nach Titos Abgang wird der Parteiapparat jedoch gezwungen sein, aus Gründen der Selbsterhaltung sich an die Sowjetunion so eng anzulehnen wie etwa die bulgarische Partei. Alle jene in der jugoslawischen kommunistischen Partei, die von Moskau unabhängig bleiben wollen, werden sich dann der Opposition anschließen müssen, d.h. den fortschrittlichen Kräften, von denen weiter unten die Rede sein wird.

Nach dem Bruch im Jahr 1948 wollte die KP Jugoslawiens zwischen sich und der Sowjetunion einen Trennstrich ziehen und war folglich darauf bedacht, sowohl die Unterstützung des eigenen Volkes wie auch die der Weltmeinung zu gewinnen. Die extremsten kommunistischen Fanatiker wurden aus dem Bund der Kommunisten „gesäubert“. Die Kollektivwirtschaften (Zadrugas) wurden aufgelöst. Eine beträchtliche Dezentralisierung fand statt. Eine Form der Arbeiterselbstverwaltung wurde eingeführt, welche man nunmehr auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens ausdehnt.

Während solcherart die theoretische Möglichkeit der Selbstregierung gegeben ist, konzentriert sich in der Praxis nach wie vor alle Macht in den Händen des Bundes der Kommunisten. Dies auf Grund der entscheidenden Tatsache, daß der Kommunistenbund die einzige organisierte politische Gruppe ist, welche in allen Bereichen des Lebens wirksam agiert und alle Nachrichtenmittel in ihrem Besitz hat. In dem Augenblick, in dem er dies für nötig erachtet, kann der Kommunistenbund immer noch zur offenen Zentralisation nach sowjetischem Muster zurückkehren. Es existiert immer noch kein gesellschaftlicher Mechanismus, der sich dem kommunistischen Regime wirksam entgegenstellen könnte.

Für legale Opposition

Da in Jugoslawien kein so hoher Grad von Zentralisation wie in Rußland vorliegt, desgleichen wegen der relativ starken Abhängigkeit von materieller Hilfe aus dem Westen besteht jedoch derzeit noch die Möglichkeit, den totalitären Klammergriff der Einparteienherrschaft aufzubrechen. Es ist möglich, insbesondere im gegenwärtigen Augenblick, eine organisierte gesellschaftliche und politische Kraft zu schaffen, die sich dem Kommunistenbund entgegenstellen könnte, insbesondere wenn der Bund das Wagnis unternehmen sollte, sich mit der russischen kommunistischen Partei wieder zu vereinigen.

Es gibt heute in Jugoslawien nur zwei organisierte soziopolitische Kräfte: den Bund der Kommunisten und das Ministerium für Staatssicherheit (SUP). Die Armee kann keinesfalls als eine solche unabhängige Kraft betrachtet werden.

Der Kommunistenbund ist eine heterogene Gruppe, in der nur eine kleine Minderheit wirkliche Macht besitzt. Diese besteht aus den Berufsfunktionären des Bundes und seiner Satellitenorganisationen, wie des „Sozialistischen Bundes des arbeitenden Volkes“ und des „Bundes der Arbeitergewerkschaften“, sowie aus den Vorsitzenden der Kommunen (Gemeinden) und ähnlichen Amtsträgern. Die überwiegende Mehrheit der Mitglieder des Bundes sind nicht überzeugte Kommunisten, sondern Personen, die der Partei aus rein opportunistischen Gründen einer Karriere beigetreten sind. Es gibt nur wenige Fanatiker des theoretischen Kommunismus in der Partei. Insbesondere unter den jungen Mitgliedern und unter den Intellektuellen innerhalb des Kommunistenbundes gibt es große Sympathie für jene potentielle Kraft, die wir in erster Annäherung als demokratische Kraft bezeichnen wollen.

Das Ministerium für Staatssicherheit verfügt über eine Polizeiorganisation (UDBA), die als praktisch völlig unabhängig von der kommunistischen Partei gelten muß; sie arbeitet mit dieser nur zusammen. Aus verschiedenen Gründen würde das Sicherheitsministerium nicht ohne weiteres an der Seite des Parteiapparates stehen, wenn dieser beschließen sollte, mit der Sowjetunion wiederum gemeinsame Sache zu machen.

Erstens kam ein beträchtlicher Teil der Beamten des Sicherheitsapparates gerade in den Jahren von 1948 bis 1954 zu diesem und hatte aktiven Anteil am Kampf gegen die sowjetische Geheimpolizei und die fanatischen Anhänger der Sowjetunion (die „Kominformisten“); daher hat diese Gruppe schon aus psychologischen Gründen für die Bedrohung aus dem Osten ein feineres Gefühl als für Bedrohung aus dem Westen.

Zweitens ist der Sicherheitsapparat über die wahre Situation im Lande viel besser informiert als der Parteiapparat.

Die Haltung der Sicherheitspolizei gegenüber der demokratischen Opposition wird in vieler Hinsicht davon abhängen, wie der Kampf um die Macht an der Spitze der kommunistischen Partei ausgeht.

Die beiden hauptsächlichen — potentiellen — Kräfte in einer künftigen Auseinandersetzung sind noch unorganisiert.

Wenn Tito geht ...

Auf der einen Seite stehen die demokratischen Elemente, deren Sympathie jeder Form der Liberalisierung gilt. Sie werden vom westeuropäischen sozio-ökonomischen System mehr angezogen, insbesondere von jenem der skandinavischen Nationen, als von der östlichen Form des Sozialismus. Diese Elemente sind in vieler Hinsicht sehr verschiedenartig — in ihren Zielen, Hoffnungen, Vorstellungen —, aber sie sind sich alle in dem Wunsch einig, daß eine wirkliche gesellschaftliche Kraft entstehen muß, die imstande ist, sich gegen die Herausbildung einer totalitären Diktatur zu wehren, wenn Tito seine Machtposition verläßt.

Die alte „kapitalistische“ Opposition ist wenig zahlreich und weit verstreut. Die Hauptmasse der demokratischen Elemente besteht aus der kulturellen und technischen Intelligenz, aus religiösen Menschen aller Bekenntnisse, aus den ideologischen Gegnern des Marxismus auf dem höchsten Niveau der kulturellen Elite, aus den Anhängern des christlichen Personalismus in Slowenien, aus den Vorkämpfern der nationalen Aspirationen in Kroatien und Serbien, schließlich aus einem sehr hohen Prozentsatz der jüngeren Parteimitglieder. Zur richtigen Zeit könnten sich alle diese Kräfte unter dem gemeinsamen Kampfruf zusammenschließen: „Djilas und Djilasismus!“

Auf der anderen Seite stehen die Anhänger der Diktatur, des Zentralismus, des „Sozialismus“ sowjetischen Stils, Leute, die von der psychologischen und gesellschaftlichen Krankheit des Totalitarismus noch nicht geheilt sind. Dies sind insbesondere die älteren Aktivisten im unteren Bereich des Parteiapparates, die nunmehr vernachlässigten Kommunisten der ersten Stunde, die „alten Kämpfer“, einige pensionierte Offiziere, die früheren „Kominformisten“ und ganz allgemein jene, die ihre Positionen im Zuge der Liberalisierung eingebüßt haben.

Leider gehört zu dieser Gruppe auch eine Anzahl junger Intellektueller mit Sehnsucht nach „planmäßiger Leitung“ unseres Lebens. Sie sind in ihrer Psychologie den westeuropäischen Kommunisten verwandt. Gerade in dieser Gruppe findet man die größte Zahl von Fanatikern.

Unter Tito handelt der Kommunistenbund in seiner Innenpolitik praktisch auf gleiche Weise wie in seiner Außenpolitik; er wahrt das Gleichgewicht zwischen den beiden Blöcken, er balanciert geschickt zwischen den demokratischen und den totalitären Kräften.

Diktatur oder Djilas

Aber keine der beiden Kräfte ist mit der gegenwärtigen Situation zufrieden. Nur die Spitzengruppe des Parteiapparates ist ängstlich darauf bedacht, den Status quo zu erhalten. Letztlich wird der Kommunistenbund, unter dem Druck von der einen wie der andren Seite, gezwungen sein, sich zur totalitären Seite hinzuwenden; der entgegengesetzte Kurs würde schließlich zur Machtübernahme durch Djilas oder einer ähnlichen Persönlichkeit führen — und dies wäre das Ende der absoluten Macht der kommunistischen Partei.

Die demokratischen Kräfte meinen, daß Wohlfahrt und Freiheit des Landes im umgekehrten Verhältnis zur totalitären, die Einparteienherrschaft bedingenden Natur seines politischen Systems stehen; daher ist der Lebensstandard in Jugoslawien immerhin höher als in der Sowjetunion. Die demokratischen Kräfte streben daher, bewußt oder unbewußt, nach einer völligen Liquidation der absoluten Macht der kommunistischen Partei. Dies bedeutet jedoch auf keine Weise, daß sie in ihrer Mehrheit Gegner des Sozialismus sind.

Die Anhänger des Totalitarismus buchen hingegen alle wirtschaftlichen und sonstigen Schwierigkeiten, wie sie in diesem Lande stets vorhanden sind, auf Rechnung der „Tragödie des Jahres 1948“, d.h. auf Rechnung der Dezentralisierung und Demokratisierung, z.B. in Form der Selbstverwaltung. Eine wichtige Unterstützung erfahren die Anhänger der Diktatur durch die traditionelle Sympathie des jugoslawischen Volkes für Rußland sowie auch dadurch, daß Jugoslawien nun schon jahrelang von der Sowjetunion isoliert ist; die Leute haben daher schon vergessen, was sowjetischer „Sozialismus“ bedeutet und sind manchmal bereit, zu glauben, daß sich die Verhältnisse in Rußland seit dem XX. Parteitag völlig gewandelt haben.

Auf Grund des Einflusses der totalitär gesinnten Gruppe wurden die Werke von zeitgenössischen sowjetischen Autoren wie Solshenitsyn in unserem Land kaum verbreitet. Solche Werke, in denen die Mythen der sowjetischen Propaganda demaskiert werden, übergeht man mit Stillschweigen; bestenfalls werden sie nach langem Zögern gedruckt und erfahren dann keinerlei Publizität (z.B. „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“). Bezeichnenderweise verweist die totalitär gesinnte Gruppe fast ausschließlich auf die offizielle sowjetische Propaganda; sie versucht auf jede mögliche Weise jene tiefwurzelnden russischen Ideale zu ignorieren, welche stets antimaterialistisch und antikommunistisch waren.

Obgleich derzeit weder die demokratische noch die totalitäre Gruppe wirklich imstande ist, ihre Ansichten publik zu machen, beeinträchtigt das Fehlen eines von der kommunistischen Partei unabhängigen Presseorgans die demokratische Strömung viel stärker als die totalitäre. Die totalitäre Gruppe glaubt überdies, mit guten Gründen, daß ihr die kommunistische Presse früher oder später offenstehen wird.

Heute freilich ist Tito noch an der Spitze der Partei und der Nation. Die kommunistische Führung hat sich noch nicht entschlossen, ihre Unabhängigkeit zu opfern, um ihre Macht zu bewahren. Jugoslawien bemüht sich immer noch mit allen Mitteln um das Bild eines legalen und liberalen „sozialistischen Staates“, um solcherart weiterhin westliche Hilfe zu bekommen und Zutritt zur EWG zu erlangen. Heute ist es daher noch möglich, mit legalen Mitteln, gestützt auf die Verfassung und die Gesetze, eine unabhängige oppositionelle Zeitschrift zu gründen, die zum Kristallisationskern einer künftigen legalen Organisation der gesellschaftlichen und politischen Opposition werden könnte.

Die Welt muß helfen

Natürlich wäre es unrealistisch, auch nur zu versuchen, dieses Ziel ohne die moralische Unterstützung der Weltmeinung zu erreichen.

Ein solches Oppositionsorgan würde sehr rasch alle demokratischen Kräfte um sich scharen und ihnen helfen, sich auch ideologisch zu organisieren. Jüngste Erfahrungen mit Infiltration der offiziellen Presse nach Art der Partisanen-Kriegführung beweisen, daß eine solche Bewegung sich zu einem Erdrutsch entwickeln würde, speziell bei den jungen Leuten, noch spezieller bei den Studenten.

Gewiß würde es viele Schwierigkeiten geben und auch viel psychologisch bedingte Furcht. Man darf nicht vergessen, daß mehr als zwei Jahrzehnte lang das politische Leben in Jugoslawien völlig erstickt war, wie auch überall sonst in der sozialistischen Welt, und daß daher viele soziale und demokratische Instinkte und Reflexe einfach abgestorben sind.

Die Möglichkeit des Erfolges einer solchen Publikation beruht auf der jugoslawischen Verfassung und den pressegesetzlichen Bestimmungen.

In den Fundamentalsätzen der neuen Verfassung (Kapitel II) heißt es ausdrücklich:

Die unverletzliche Grundlage der Stellung und Rolle des Menschen beruht auf: ... der freien Assoziation des arbeitenden Volkes, der gewerkschaftlichen und anderen Organisationen sowie auf den gesellschaftlichen und politischen Gruppen, formiert zum Zweck gemeinsamer Bedürfnisse und Interessen; ... auf demokratischen politischen Verhältnissen, die dem Individuum gestatten, seine Interessen zu verwirklichen; auf dem Recht der Selbstregierung und anderen Rechten sowie wechselseitigen Beziehungen, welche die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit fördern durch direkte und aktive Teilnahme am öffentlichen Leben, insbesondere an den Einrichtungen der Selbstregierung sowie an gesellschaftlichen und politischen Organisationen, die das Individuum selbst schafft und durch welche es Einfluß auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins ausübt ...; auf freier Initiative in der Entwicklung ... der gesellschaftlichen und persönlichen Aktivität im Interesse des Individuums und seiner gesellschaftlichen Umgebung.

Art. 34 Abs. 1 der Verfassung lautet:

Das Recht des Bürgers auf gesellschaftliche Selbstregierung ist unveräußerlich ...

Abs. 2 Z. 6 desselben Artikels gibt dem Bürger

das Recht zur Diskussion über die Arbeit der staatlichen Behörden, der Einrichtungen der Selbstverwaltung sowie der im öffentlichen Interesse tätigen Organisationen sowie das Recht der persönlichen Meinungsäußerung über deren Arbeit und Aktivität.

Artikel 39 der Verfassung lautet:

Die Gedanken- und Meinungsfreiheit ist gewährleistet.

Artikel 40 der Verfassung lautet:

Gewährleistet ist die Freiheit der Presse und der übrigen Informationsmittel, die Freiheit der Assoziation, die Freiheit der Rede und der öffentlichen Äußerungen, die Freiheit der Versammlung und anderer Formen öffentlicher Zusammenkunft. Die Bürger haben das Recht des Ausdrucks und der Veröffentlichung ihrer Meinung durch die bestehenden Kommunikationsmittel, das Recht, die Informationsmittel für öffentliche Erklärungen zu benutzen, das Recht, Zeitungen und andere Druckwerke zu veröffentlichen, sowie das Recht, Informationen durch andere Kommunikationsmittel zu verbreiten.

Art. 40 Abs. 3 der Verfassung stellt genau fest, zu welchem Zweck die verfassungsmäßig garantierten Freiheiten nicht benützt werden dürfen:

Niemand darf diese Freiheitsrechte dazu benützen, die Grundlagen der verfassungsmäßigen sozialistischen demokratischen Einrichtungen zu unterminieren; den Frieden und die internationale Zusammenarbeit oder die Unabhängigkeit des Staates zu gefährden; zum nationalen, Rassen- oder religiösen Haß oder zur Intoleranz aufzureizen; oder Personen zu veranlassen, Verbrechen zu begehen oder auf irgendeine andere Weise die öffentliche Moral zu verletzen.

Die Gründung eines Presseorgans oder auch einer gesellschaftlichen und politischen Organisation, deren Grundsätze mit denen der Verfassung übereinstimmen, wäre daher jedenfalls legal.

Ziele der Zeitschrift

Fürs erste wird daher vorgeschlagen, eine ideologisch-politische Zeitschrift zu schaffen, die in ihrer ersten Ausgabe die folgenden Ziele proklamieren würde:

  1. grundsätzliche Opposition gegen das Einparteiensystem;
  2. antimarxistische und antimaterialistische Haltung;
  3. Förderung des demokratischen Sozialismus, welcher mit der Verfassung und den bestehenden Gesetzen völlig vereinbar ist.

Eine solche Zeitschriftengründung würde die Kräfte der antitotalitären Opposition in Jugoslawien anziehen und sammeln; die offene Diskussion der obigen Grundsätze — etwas bisher Ungehörtes in der sozialistischen Welt — würde das Interesse und die Sympathien weiter Massen der Bürgerschaft wecken.

Die Zeitschrift würde sich mit den hier angedeuteten ideologischen und politischen Problemen befassen; sie würde zugleich den Vertretern aller ideologischen Standpunkte für den Ausdruck ihrer Meinungen offenstehen. Von ihrem eigenen ideologischen Standpunkt würde die Zeitschrift eine breite Kampagne der Kritik des marxistischen Dogmas beginnen; sie würde die jugoslawischen Leser mit vielen modernen ideologischen Bewegungen in der Welt bekanntmachen — z.B. mit dem französischen christlichen Personalismus, mit dem russischen Solidarismus usw. Die Zeitschrift würde den Standpunkt verteidigen, daß nur die freie und ungehinderte Diskussion der verschiedenen Meinungen zu konstruktiven Lösungen führen kann.

Die Weltpresse könnte die Organisation, die ordnungsgemäße Registrierung und das Erscheinen der ersten Nummer der Zeitschrift fördern, indem sie die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf diesen Plan lenkt.

Es wird nicht angenommen, daß die Regierung das Erscheinen eines solchen Publikationsorgans bereitwillig gestatten wird; sie wird eher versuchen, das Erscheinen auf jede Weise zu behindern. Hingegen ist es sehr unwahrscheinlich, daß die jugoslawische Regierung im gegenwärtigen Augenblick riskieren wird, ihre eigene Verfassung und ihr eigenes Pressegesetz angesichts der Weltöffentlichkeit mit Füßen zu treten.

Im Falle des Verbots ...

Sollte dies jedoch geschehen, würden daraus einige sehr positive Konsequenzen erwachsen; die Situation würde geklärt, den Naiven in diesem Land und im Ausland würden die Augen geöffnet, die Kristallisation der oppositionellen Kräfte in Jugoslawien würde beschleunigt.

Was die Organisation der Zeitschrift anlangt, gibt es genug Leute, die bereit wären, an einem solchen Wagnis mitzuwirken, darunter erstklassige Fachleute. Nach dem Erscheinen der ersten Nummer würde es einen großen Zustrom an Manuskripten geben. Es gibt jedoch einige finanzielle Schwierigkeiten; man müßte daher eine Gesellschaft der Freunde der Zeitschrift schaffen, welche nach Erscheinen der ersten Nummer die Leser zur finanziellen Unterstützung auffordert. Nach bisherigen Erfahrungen würden die zufließenden Mittel durchaus beachtlich sein, wenn es gelingt, den offen oppositionellen Charakter der Zeitschrift zu wahren.

Das einzige Problem ist daher die Finanzierung der ersten Nummer. Art. 17 des Pressegesetzes verbietet die Veröffentlichung von Zeitungen, die auf irgendeine Weise vom Ausland subventioniert werden, außer auf dem Weg über Abonnements. Es wäre absurd, wollte man mit der Unterstützung durch irgendeine existierende Organisation rechnen. Alle Organisationen — wirtschaftliche wie kulturelle — sind in den Händen der Kommunisten. Die persönlichen Mittel der Initiatoren dieses Unternehmens sind sehr beschränkt. Diese Frage bleibt also offen.

Man kann die Bedeutung des Erscheinens einer solchen Publikation in der sozialistischen Welt gar nicht überschätzen, insbesondere derzeit, da doch kaum ein Tag vorübergeht, ohne daß in der Sowjetunion illegale Publikationen herausgebracht werden, insbesondre von jungen Leuten.

Detonator für Demokratie

Die Gesellschaft der Freunde der Zeitschrift würde den Kern einer künftigen demokratischen politischen Organisation bilden; die Zeitschrift würde alle demokratischen Kräfte Jugoslawiens einigen, erst ideologisch, dann politisch. Das wäre eine realistische Grundlage für die Opposition gegen die Anstrengungen des kommunistischen Parteiapparates, sich mit der russischen Partei völlig zu liieren und eine offene Polizeidiktatur in Jugoslawien aufzurichten. Die Zeit ist nun höchst günstig für ein solches Unternehmen — und dies ist auch der letzte mögliche Moment hiefür. Ein Jahr später könnte es schon zu spät sein.

Wie die Erfahrungen des Jahres 1956 zeigen, produziert eine Welle der Liberalisierung oder ein beliebiges anderes politisches Phänomen in einem sozialistischen Land automatisch gleichartige Phänomene in anderen sozialistischen Ländern. In diesem Sinn wäre das Erscheinen einer Zeitschrift von der geschilderten Art in Jugoslawien von allgemeiner Bedeutung. Dies wäre der Detonator für eine Explosion der demokratischen Kräfte in der ganzen sozialistischen Welt, einschließlich natürlich der Sowjetunion.

Ich fasse zusammen: die Gründung einer Oppositionszeitschrift in Jugoslawien ist möglich und auch durchführbar, falls die Weltpresse durch Publizität Unterstützung leiht. Offen bleibt nur ein Problem: die Finanzierung der ersten Nummer. Keinerlei finanzielle Unterstützung von außerhalb des Landes wird akzeptiert werden — dies steht völlig außer Frage.

[*Bei der erwähnten Nummer des „Delo“ handelt es sich um jene, welche Mihajlovs Reisebericht „Moskauer Sommer“ publizierte. „Praxis“ erscheint unterdessen nicht mehr. Titos Ansprache vom Februar 1965 bezog sich auf die Laxheit der Anklagebehörden hinsichtlich Mihajlovs Bericht im „Delo“. — D. Red.

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