FORVM, No. 121
Januar
1964

Ganz Europa soll es sein

(Text eines Vortrages in Köln)

Es scheint mir notwendig, vorerst die Antwort auf eine Vorfrage zu geben: Was meinen wir, wenn wir Europa sagen? Hier könnte ich mich nun all der gängigen Definitionen und Interpretationen bedienen. Probieren wir es anders.

Die Encyclopaedia Britannica sagt: „Europa ist, ausgenommen Australien, die kleinste jener hauptsächlichen Unterteilungen der Landoberfläche der Erde, welche gewöhnlich mit der konventionellen Bezeichnung Kontinente unterschieden werden.“

Der große General des Zweiten Weltkrieges und Präsident der französischen Republik, de Gaulle, sagt in seinen „Mémoires de guerre“: „Europa würde nach der furchtbaren Zerrissenheit, die es während 30 Jahren zu erleiden hatte, und den großen Veränderungen, die in der Welt eingetreten sind, sein Gleichgewicht und seinen Frieden nur durch eine Assoziierung zwischen Slawen, Germanen, Galliern und Romanen finden können ... in Form einer organisierten Assoziation seiner Völker von Island bis Istanbul und von Gibraltar bis zum Ural.“

Warum ich diese beiden Zitate wähle? Weil mir die eine Aussage ein Prototyp des britischen Understatement und die andere ein Prototyp des romanischen Pathos zu sein scheint, die eine den Unterton des Globalen enthaltend, die andere die Überbetonung des Kontinentalen. Und über das, was zwischen beiden liegt, möchte ich nun als Mitteleuropäer sprechen, als einer, der aus einem Land kommt, das „übriggeblieben ist“ nach dem Zerfall eines großen Reiches, worunter ein anderer Franzose, weniger pathetisch, den Schlußstrich so gezogen hat: „L’Autriche, c’est ce qui reste.“

Aber ich komme auch aus einem Land, dem immer wieder eine besondere Rolle in Europa zugeteilt wurde, das eine Mal Herzstück oder Drehscheibe des Kontinents, das andere Mal Brücke zwischen West und Ost zu sein, und von dem Rainer Maria Rilke sagt: „Da sind sie alle einander nah, diese Herren, die aus Frankreich kommen und aus Burgund, aus den Niederlanden, aus Kärntens Tälern, von den böhmischen Burgen und vom Kaiser Leopold.“ Ein Land, von dem Erzherzog Karl in seinem Armeebefehl vom 6. April 1809 sagte, daß sich „die Freiheit Europens unter unsere Fahnen geflüchtet hat“.

Auf nichts von alledem will ich mich berufen, lediglich eines beanspruchen: daß ich aus einem Land komme, das am weitesten in den Osten Europas hineinreicht und gleichzeitig die Bedeutung seiner Bindungen an den Westen am stärksten während einer zehnjährigen vierfachen Besatzung erkannt hat. Daraus hat sich vielleicht ein gewisser Sinn für Beharrlichkeit, ein gewisses Verständnis für den Ausgleich und ein Instinkt für das, was möglich ist, entwickelt. Ich sage „vielleicht“, weil doch darüber das Urteil der Geschichte noch aussteht.

Nach diesem etwas verwirrend anmutenden Versuch einer Standortbestimmung und seiner gleichzeitigen Relativierung scheint es mir nun notwendig, konkret zu werden: Wenn wir heute von Deutschland reden, meinen wir das ganze Deutschland — auch wir, die wir nicht aus Deutschland sind, können und wollen uns mit der gegenwärtigen Teilung nicht abfinden. Aber ebenso richtig ist es, daß wir, sosehr wir uns heute mit der Organisation und Integration des demokratischen Europa befassen, deshalb nicht einfach das andere Europa abschreiben können. Niemand von uns hat das Recht, diese beiden Postulate zu ignorieren, und dennoch, wenn wir heute von Europa mit politischem Sinn für das, was ist, reden, bleibt uns nichts anderes übrig, als zur Kenntnis zu nehmen, daß es im Augenblick zwei Europa gibt: das demokratische und das kommunistische.

Die Entwicklung im demokratischen Europa — die wirtschaftliche und die kulturelle — unterliegt unserer direkten Einflußnahme, wie es eben in Demokratien üblich ist. In diesem Europa können wir unsere politischen Vorstellungen verwirklichen, natürlich nur in dem Maße, in dem wir uns mit demokratischen Mitteln und Methoden politische Macht und politische Einflußnahme zu sichern vermögen.

Strahlungen nach Osten

Was das andere Europa betrifft, so haben wir keine Möglichkeit der direkten Beteiligung an seiner Gestaltung und Willensbildung. Und es ist sehr die Frage, inwieweit die Bürger dieses Teiles Europas in einer näheren oder ferneren Zukunft diese Möglichkeit haben werden — oder vielleicht richtiger: inwieweit die Proletarier dieser Länder, in denen nach der klassischen leninistischen Terminologie die „Diktatur des Proletariats“ etabliert wurde, einmal wahren politischen Einfluß werden ausüben können.

So wenig für mich Zweifel bestehen, daß es unserseits keine direkte Einflußnahme auf die politische Entwicklung in diesem Teil Europas geben kann, so sehr bin ich überzeugt, daß das Beispiel unseres Europa seinen Einfluß in immer stärkerem Ausmaß auszuüben vermag.

So hat sich gezeigt, daß die in den letzten zehn Jahren sich rasch entwickelnde wirtschaftliche Integration Europas ähnliche Tendenzen auch in Osteuropa gefördert hat: der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Freihandelsassoziation auf der einen Seite steht das COMECON, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, auf der anderen Seite gegenüber. Daß es sich beim COMECON um ein Integrationsgebilde handelt, geht aus seiner juristischen Natur hervor: es ist eine durch mehrseitige Verträge geschaffene Institution mit Völkerrechtsstatus, jedoch ohne supranationalen Charakter. Die Beschlüsse des COMECON bedürfen der Transformation in innerstaatliches Recht. Das COMECON hat verschiedene Organe und ein Sekretariat. Natürlich hat auch hier, wie im gesamten europäischen kommunistischen Block, die Sowjetunion eine absolute Hegemoniestellung.

Neuerdings soll eine entscheidende Entwicklung in der osteuropäischen Integration dadurch herbeigeführt werden, daß der Wirkungsbereich und die Entscheidungsgewalt des COMECON institutionell erweitert werden; seine neue Aufgabe besteht darin, eine auf Arbeitsteilung basierende Integration herbeizuführen. Ihm soll es nun obliegen, in Zukunft die Zustimmung zur Errichtung neuer Industrien zu geben oder den Aufbau neuer Industriezweige zu projektieren. Ebenso soll es durch die Errichtung der „Internationalen Bank der sozialistischen Länder“ zu einer internen Multilateralisierung der Zahlungen innerhalb des kommunistischen Osteuropa kommen.

Dabei ergibt sich eine sehr interessante Entwicklung: während in unserem Teil Europas ein Staat, der sich der europäischen Integration gegenüber nur restriktiv verhält und sie immer wieder zu limitieren wünscht, im allgemeinen als wenig fortschrittlich angesehen wird, wird die gleiche Haltung innerhalb des Ostblocks — wie im Fall Rumäniens — als ein Zeichen zunehmender Liberalisierung gewertet.

Wenn wir nun die Tatsache der Existenz zweier Europa zur Kenntnis nehmen müssen, so ergibt sich daraus eine Konsequenz, die ich schon verschiedentlich angedeutet habe: Soferne es in den nächsten Jahren nicht zu einer neuerlichen Verschärfung der weltpolitischen Gegensätze kommt, worüber sich im Augenblick nur wenig sagen läßt, wird es zu — wenn auch bloß limitierten — Annäherungen zwischen den großen Integrationsbereichen Europas kommen.

Ich setze dabei freilich voraus, daß es uns vorher möglich sein wird, zu einer Überwindung der wirtschaftlichen Spaltung im demokratischen Europa zu gelangen.

Diesbezüglich vertrete ich immer wieder den Standpunkt, daß eine solche Überwindung oder Vermeidung der totalen wirtschaftlichen Spaltung des demokratischen Europa am ehesten durch eine multilaterale Verbindung zwischen EWG und EFTA möglich wäre. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte in einem multilateralen Rahmenvertrag geregelt werden, dessen Grundlage sehr gut eine Kombination von Elementen einer Wirtschaftsunion und einer Freihandelszone sein könnte. Dieser Rahmenvertrag hätte neben allgemeinen Zielen auch generelle Regelungen über die Erreichung dieser Ziele zu beinhalten. Den einzelnen Mitgliedsstaaten der EFTA aber müßte es vorbehalten bleiben, durch bilaterale Derivatverträge mit der EWG die ihnen gemäße Form der Integration zu vereinbaren. Auf diese Art bliebe der EWG die führende Rolle in der europäischen Integration, und ihre Tendenz zur Supranationalität würde dadurch nicht beeinflußt werden. Ihre Vereinbarungen mit der EFTA wären ausschließlich wirtschaftlicher Natur — sozusagen ein kollektiver Assoziationsvertrag, welcher aber gleichzeitig jedem der EFTA-Staaten freistellt, sein Nahverhältnis zur EWG selbst zu bestimmen.

Was ist realistisch?

Ich weiß, daß man diesen Lösungsvorschlag als wenig realistisch betrachtet. Was aber ist realistisch? Zwei Jahre vor Abschluß des österreichischen Staatsvertrages hielt man diejenigen, die dafür eintraten, für wenig realistisch; zwei Jahre vor Abschluß der Römischen Verträge galt das gleiche von den Anhängern der EWG. Welchen Sinn hätten denn politische Ideen, wenn sie nur dann, oder erst dann, vertreten werden, wenn die Realisierung geradezu auf der Straße liegt? Die natürliche Begegnung der verschiedenartigen Institutionen der europäischen Integration — auch das habe ich schon des öfteren gesagt — könnte im Rahmen der ECE (Economic Commission for Europe) erfolgen, jener Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen, welche sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Staaten zum Ziel gesetzt hat. Es ist dies übrigens eine UNO-Institution, der die Bundesrepublik Deutschland und ebenso die USA als vollberechtigte Mitglieder angehören.

Ich bin mir bewußt, daß das, was ich hier sage, sich nur schwer in die kühnen und pathetischen Pläne jener einordnen läßt, die von freiheitlichen und revolutionären Entwicklungen im kommunistischen Europa träumen, ebensowenig in jene Pläne, deren Fürsprecher General de Gaulle ist, Pläne, die Europa eine Mittlerstellung zwischen der angelsächsischen und der kommunistischen Welt einräumen möchten. Ganz abgesehen davon, daß es für die Verwirklichung solcher Ideen notwendig wäre, daß Europa eine Wirtschaft und eine militärische Macht wird und daß sich daraus auch eine Politik ergeben muß — wozu man weder über das „Europe des affaires“ noch über das „Europe des partis“ gelangt —, ist es eine Frage, ob wir überhaupt eine solche Stellung für Europa beanspruchen sollen. Wäre es nicht besser, sich von vornherein auf echte Partnerschaft zwischen Europa und Amerika einzustellen und diese vorzubereiten? Dazu aber scheint es mir notwendig, daß wir uns in Europa in stärkerem Maße als bisher klar darüber werden müssen, was uns Amerika gilt.

Ich habe zuvor vom „Europe des affaires“ gesprochen, und ich weiß sehr genau, daß bei vielen von denen, die Europa „mit der Seele suchen“, dieses „Europe des affaires“ mit kühler Reserve betrachtet wird. Und trotzdem möchte ich sagen, daß uns vor unseren Augen und unter unseren Händen etwas Großartiges widerfahren ist. Sigmund Freud fand es rätselhaft, warum „die Individuen einander eigentlich geringschätzen, hassen, verachten und verabscheuen, und zwar auch in Friedenszeiten, und zwar jede Nation die andere ...“; er sprach schließlich die Hoffnung aus, daß „an diesen bedauerlichen Verhältnissen spätere Entwicklungen etwas ändern können“. Gerade in diesen Jahren erleben wir mitten in Europa eine solche Entwicklung: vor unseren Augen verschwinden Geringschätzung, Haß, Verachtung und Abscheu zwischen Franzosen und Deutschen, und ich glaube, daß wir gelegentlich innehalten sollen, um uns dieser Entwicklung zu besinnen.

Neutralität und politische Integration

Und so möchte ich nun mit ein paar Bemerkungen — vor allem deshalb, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich als Bürger eines neutralen Landes der Beantwortung dieser Frage ausweichen möchte — einige Betrachtungen zur politischen Integration Europas anstellen: Es ist keine Frage, daß die bisherigen Resultate der politischen Integration Europas nicht sehr imponierend sind. Weder der Europarat — der ein Clearinghouse europäischer Ansichten ist — noch das Parlament der Europäischen Gemeinschaften sind wirkliche und echte Parlamente; sie sind es weder ihrer Verfassung noch ihrer Struktur nach und schon gar nicht, was die Aufgaben betrifft, die die europäische Integration als solche diesen Parlamenten stellt. Ganz abgesehen davon, daß hier echte konstitutionelle Reformen notwendig wären, wage ich, was einen kommenden europäischen Parlamentarismus betrifft, die Behauptung, daß wir zu einer Überprüfung der Grundsätze Montesquieus über die Gewaltentrennung kommen müßten.

Montesquieu sagt in seinem „De l’esprit des lois“ (Buch XI, Kapitel 6, „Von der Verfassung Englands“):

Die politische Freiheit des Bürgers ist jene Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit hat, muß die Regierung so eingerichtet sein, daß ein Bürger den anderen nicht zu fürchten braucht. Wenn in derselben Person oder der gleichen öffentlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden vereinigt ist, gibt es keine Freiheit; denn es steht zu befürchten, daß derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze macht, um sie tyrannisch zu vollziehen. Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben. Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft der Großen des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausübt: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder die Streitsachen der Einzelnen zu richten.

Das sind große Wahrheiten, aber leider haben sie nur mehr mit beträchtlichen Modifikationen für den modernen Parlamentarismus Geltung. Das sind ernste Fragen, an deren Lösung man daher mit großem Ernst herantreten muß. Denn was ist denn diese Macht über Leben und Freiheit der Bürger? Sie ist heute kombiniert mit ungeheurer wirtschaftlicher Macht, über die der Staat in seiner Omnipotenz verfügt; dieser Macht steht, wie ein österreichischer Staatsrechtler gesagt hat, die Nullifizierung des Individuums gegenüber. Der immer größeren Machtentfaltung des Staates entspricht eine immer lähmendere Ohnmacht des Einzelnen.

Achtung, Bürokratie!

Aber Macht auf der einen Seite und Ohnmacht auf der anderen Seite kann auch entstehen, wenn einer Bürokratie — und mag es eine sein, die über das beste Personal verfügt, und sogar über ein sehr menschenfreundliches — allein die Kenntnis der Zusammenhänge vorbehalten ist, wenn sie im alleinigen Besitz der komplizierten Geheimnisse der modernen Verwaltung ist. Sie verfügt so über eine Macht, die sich zwar nicht mit Brutalität entfaltet, aber sie versetzt den Einzelnen und sogar die politischen Vertreter vieler Einzelner angesichts dieser immer weniger durchschaubaren Zusammenhänge in einen Zustand wachsender Hilflosigkeit. Die Demokratie wird liquidiert durch die Diktatur, aber sie kann inhibiert werden durch den Einfluß der Bürokratie.

Es wird also notwendig sein, daß wir uns immer mehr um neue Formen der Demokratie bemühen, vielleicht sogar um die Formulierung neuer Grundsätze, und das schon heute, weil wir sonst überhaupt dem Phänomen der sich rasch entwickelnden und intellektuell hochqualifizierten internationalen Bürokratie vollkommen ratlos gegenüberstehen. Zwischen dem Gefühl der Bewunderung vor ihrer geistigen Potenz und dem der Vergeblichkeit, mit ihr zurechtzukommen, schwanken wir Politiker wie Rohr im Winde. Wenn uns Europa etwas gelten soll, dann müssen wir auch diese Zusammenhänge und die neuen Aufgaben der europäischen Demokratie rechtzeitig erkennen.

Wir nehmen das alles viel zu leicht; wir müßten diese Fragen viel intensiver durchdenken. Und es ist gerade jetzt die richtige Zeit, es zu tun, jetzt, da wir mit den ersten Erscheinungsformen dieses neuen Phänomens der europäischen Bürokratie konfrontiert werden.

Über die Art, wie dieses Europa gestaltet werden soll, hat der Schweizer Professor Zbinden einige schöne und gültige Formulierungen gefunden, die ich gerne hier zitieren möchte:

Europa ist groß und stark geworden durch die Vielfalt seiner Kräfte, durch seine reichen regionalen Traditionen der Kultur wie der Arbeit, denen es auch seinen hohen Stand der Qualitätsleistung und der feinsten Differenzierung verdankt, die jedem Großraumplaner von vornherein Grenzen setzen. Nur wenn diese Kräfte, die auch weiterhin, und fortan erst recht, die Eigenart und Stärke seiner Wirtschaft werden bestimmen müssen, erhalten bleiben, nur wenn zugleich auch alle überholten nationalen Hegemonietriebe daraus endgültig verbannt sind, kann die Einigung Europas auch eine Stärkung Europas, kulturell wie wirtschaftlich, bringen.

Bei Beurteilung dessen, was uns Europa gilt, stellt sich die Frage nach dem letzten Sinn der europäischen Einigung, denn die Einheit an sich muß noch nichts wirklich Großes und Bedeutungsvolles sein. Wir wollen ein hohes Maß an europäischer Integration im Wirtschaftlichen, im Kulturellen und im Politischen, weil wir — und das ist doch das Erste — endgültig die kriegerischen Auseinandersetzungen verhindern wollen, die zweitausend Jahre lang diesen Kontinent durchtobten und zweimal die Ursache globaler Kriege waren. Wir wollen die wirtschaftliche Integration Europas, weil durch sie doch in Wirklichkeit die politischen Klammern geschaffen werden, die dieses Europa zusammenhalten und darüber hinaus die Voraussetzung dafür sind, daß dieses Europa, das gegenwärtig einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt wie nie zuvor in seiner Geschichte, immer reicher wird, immer besser seine gewaltigen personellen und materiellen Ressourcen auszunützen in der Lage ist. Wir brauchen diesen Reichtum Europas, um ein immer höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit für die Menschen Europas zu verwirklichen.

Aber das scheint doch allmählich den Nachdenklicheren unter uns schon eher eine zu wenig weit gesteckte Zielsetzung zu sein. In Wirklichkeit brauchen wir doch den Reichtum Europas, um die große friedliche Aufgabe der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zu erfüllen, nämlich die der Überwindung der grenzenlosen Armut auf anderen Kontinenten unseres Planeten. Aber auch diese Aufgabe werden wir nur in der engen Zusammenarbeit mit Amerika erfüllen können.

Und so möchte ich zum Schluß auf die Frage „Was gilt uns Europa?“ eine gültige Antwort geben, indem ich John F. Kennedy zitiere, jenen Mann, von dem ich nichts Größeres zu sagen vermag, als daß er geradezu unbegrenztes Vertrauen in die Kraft des Geistes und dessen Fähigkeit, die Dinge zu gestalten, hatte.

Am 4. Juli 1962 hat er uns das Angebot einer „Declaration of Interdependence“ gemacht. Er hat darin erklärt, daß die Vereinigten Staaten von Amerika „bereit sein werden, mit einem Vereinigten Europa Mittel und Wege für die Schaffung einer konkreten atlantischen Partnerschaft zu diskutieren — einer wechselseitig vorteilhaften Partnerschaft zwischen der neuen Union, die nun in Europa im Entstehen ist, und der alten amerikanischen Union, die vor eindreiviertel Jahrhunderten geschaffen wurde. All dies wird nicht in einem Jahr vollendet sein — aber die Welt soll wissen, daß dies nun unser Ziel ist.“

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