Heft 5-6/2002
November
2002

Gedächtnis und Geschlecht

Sammelbände sind selten Bücher, die frau als Gesamtes empfehlen kann. So auch ein neuer Band über Geschlechterkonstruktionen in verschiedenen Formen des Erinnerns an den Nationalsozialismus, der neben guten Beiträgen auch einiges an Schund enthält.

Ich lese und staune: „Das jüdische Gedächtnis“ sei ein „männliches [kursiv im Original] und die Art des Gedenkens und des Erinnerns an die Shoah habe der israelischen Gesellschaft der Maskulinisierung der israelischen Subjektivität aber auch des israelischen Gedächtnisses in die Hände gespielt.“(99) Ronit Lentin, israelische Soziologin und Aktivistin der „israelischen und palästinensichen Frauenfriedensbewegung“ (420) führt in ihrem Beitrag Das Geschlecht des Schweigens. Israelischer Zionismus und die Shoah aus, wie die „Gegen-Geschichten (Counternarratives“) (95) beim Aufbau Israels“zum Schweigen gebracht wurden„. Das zionistische Narrativ, indem es sich selbst als“maskulin„und die jüdische Diaspora als“feminin„konstruierte, habe die Überlebenden zum Schweigen gebracht und sie diskursiv von der Geschichte der israelischen Nation distanziert. (99)“ (...) und die Shoah kehrt stets dann als (p)re-skriptives existentielles politisches Narrativ zurück, wenn sich das israelisch-jüdische Kollektiv gefährdet glaubt, etwa durch die zweite Intifada von 2000/2001, die hart unterdrückt wurde." (99) Lentin bemüht in der Folge auch noch holocaustverharmlosenden Vergleiche und spricht von der „Nakba, die palästinensische ‚Shoah‘“ (106), von der Shoah, als „Rechtfertigung für die anhaltende Besetzung“ und landet bei ihrem Resümee schließlich beim „‚Auschwitz-Code‘, der bis heute evoziert wird, sobald sich Israelis bedroht fühlen oder die Exzesse der Besetzung rechtfertigen wollen, zuletzt bei der ‚Al Aksa-Intifada‘ von 2000/2001.“ (111)

Wenn auch in anderen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes noch vereinzelt totalitarismustheoretische Vergleiche — etwa bei Jolande Withuis’ Die verlorene Unschuld des Gedächtnisses, in dem sie Gulags als Doppelgänger der nationalsozialistischen KZs diesen gleichsetzt (78) — vorkommen, so ist Gedächtnis und Geschlecht insgesamt doch eine Empfehlung wert. Achzehn Beiträge beschäftigen sich unterteilt in vier Kapitel (Verleugnungen / Sakrali-sierungen / Sexualisierungen / Verschiebungen) mit Geschlechterkonstruktionen und -ideologien, die verschiedene Formen des Erinnerns, etwa Denkmäler, Filme, Autobiografien und Gedenkfeiern, konstituieren.

Christl Wickerts Beitrag Tabu Lagerbordell. Vom Umgang mit der Zwangsprostitution nach 1945 (43-58) thematisiert den lange Zeit von Männern dominierten Diskurs über Lagerbordelle und das Ignorieren früher Berichte KZ-Überlebender bzw. die juristische oder historische Nicht-Bearbeitung. Über Rhetoriken der Pornografisierung und deren Funktion in der Darstellung der Geschichte der Opfer als auch der Täter des Nationalsozialismus schreibt Silke Wenk (269–291). Contstanze Jaiser’s Christliche Legenden der Versöhnung. Edith Stein, Maximilian Kolbe und die Rabensbrücker Ordensschwestern (137–162) beschreibt sehr kirchen-kritisch die Heiligsprechung des schlechthin Sinnlosen, hinterlässt bei der Leserin jedoch den Anschein, sich mit Antisemitismus im besonderen nicht beschäftigt zu haben. Jedoch sind ihre Beispiele für christliche Heiligenlegenden und deren Vorstellungen des Martyriums, d.h. eines „Blutzeugisses für Christus“, etwa im Falle Pater Maximilian Kolbes, der als „Märtyrer der Versöhnung“ zwischen der deutschen Tätergesellschaft und den polnischen Verfolgten dienen sollte, sehr spannend zu lesen. Julia Duesterbergs Beitrag (227-243) skizziert anhand des Beispiels der KZ-Aufseherin Dorothea Binz die Stereotypisierung von NS-Täterinnen (abwechselnd als Verführte, triebhaft agierende Bestien, Inbegriffe „verkehrter Weiblichkeit“ und devianter Natur) und damit die Entlastung derselben als selbsverantwortliche Subjekte, die Entscheidungen trafen, für die sie verantwortlich sind. „Tausende der minderbelasteten ehemaligen KZ-Aufseherinnen gliederten sich nach Rückkehr, Freispruch oder Amnestie wieder in die Gesellschaft ein und – schwiegen. Sie wurden wieder zu dem, was sie gewesen waren – ganz normale Frauen.“ (242)

Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Hg. von Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit und Silke Wenk. 426 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt, New York 2002, € 30,80

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)