ZOOM 4+5/1996
Oktober
1996
Stay behind the NATO

Gladio oder die Rache Moros

Im Zuge seiner Ermittlungen über ein Bombenattentat deckte der italienische Untersuchungsrichter Felice Casson eine geheime Untergrundorganisation auf. Daraufhin enthüllte der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti am 3. August 1990 eine „Operation Gladio“ des militärischen Geheimdienstes SISMI, die das Ziel hatte, eine Widerstandsgruppe für den Fall einer sowjetischen Invasion zu bilden. Sie sei aber schon 1972 aufgelöst worden.

Am 17. Oktober 1990 gab Andreotti zu, daß „Gladio“ noch immer arbeitet. Drei Tage später bestätigte er in einem Regierungsbericht die Existenz einer Untergrundorganisation namens „Gladio“ und stellte fest, daß ähnlich Strukturen sowohl in den NATO-Partnerländern als auch in neutralen Staaten wie etwa Österreich mit Kenntnis der Regierungen existieren würden.

Das offizielle Italien

1990 gab der damalige italienische Staatspräsident Francesco Cossiga zu, seinerzeit als Staatssekretär im italienischen Verteidigungsministerium für den Aufbau einer italienischen Stay-behind-Truppe, nach dem römischen Kurzschwert Gladio benannt, zuständig gewesen zu sein. Stay-behind-Truppen sollten sich im Falle einer Invasion durch die Warschauer Pakt-Staaten überrollen lassen und dann eine Partisanenorganisation aufbauen, die von den NATO-Staaten logistisch versorgt werden sollte. Andreotti bestätigte im Zuge einer Parlamentsanfrage im August 1990, daß Gladio seit 1952 existiert hätte, aber nur ein „Altherrenverein“ von 622 Mitgliedern gewesen und 1972 aufgelöst worden wäre. Danach herrschte vorerst Schweigen.

Erst das Auftauchen der sogenannten „Bekennerbriefe“ Aldo Moros, Vorsitzender der italienischen Christdemokraten, geschrieben nach seiner Entführung am 16.3.1978 im „Volksgefängnis“ der „Brigate Rosse“, der italienischen linksextremen Terrororganisation, gab das Zeichen zur endgültigen Enthüllung von Gladio. In diesen Briefen stand, daß die DCI 1,5 Millionen Schilling monatlich von der CIA bekam, um die italienische mit der amerikanischen Innenpolitik übereinzustimmen. Und: Im Rahmen der NATO operiere eine geheime Guerillaorganisation.

Unter dem Eindruck der Mitte Oktober 1990 aufgefundenen Moro-Briefe aber mußte sich Andreotti korrigieren. Das tat er auch mit dem Dossier an die Kommission zur Aufklärung der Bombenattentate und des Terrorismus. Unter Punkt 5 des Dossiers, „Anweisungen für den nichtorthodoxen Krieg“, ließ er unter anderem folgendes streichen: In diesem Zusammenhang stehen „die Direktiven von SHAPE, speziell diejenigen über den nicht-orthodoxen Krieg vom Januar 1969, und die im Rahmen der Alliierten Kontrollkommission (ACC) getroffenen Vereinbarungen ...“. Aber es war zu spät, die Involvierung der NATO wurde bekannt. Daraufhin bezog Andreotti die NATO, die NATO-Staaten und die Neutralen gleichermaßen in seine Verlautbarungen ein, um durch die Erweiterung der Verantwortlichkeit noch einmal davonzukommen und die Schuld für die terroristischen Attentate in Italien anderen aufzubürden.

Das inoffizielle Italien fängt an zu schwätzen

Von 1974 bis 1989 war General Paolo Inzerilli Kommandant dieser „Altherren“ (in Wirklichkeit Zonenkommandanten), als Leiter der Abteilung 5R des SISMI zuständig für Gladio, seither Chef des SISMI (Servizio per le Informazioni e la Sicurezza Militare). Dieser erzählte 1990 von eben stattgefundenen Lehrgängen in Guerilla- und Sabotageeinsätze für Freiwillige, darunter auch Frauen und ausländische Agenten, in einem Lager namens Capo Marragui beim Seebad Alghero auf Sardinien. Befehlshaber dieser Basis war 1990 der Fregattenkapitän Salvatore Cosseddu. Ein ehemaliger Armeeoberst und Hitlerfan, Amos Spiazzi, der mit dem Attentat in Bologna in Zusammenhang gebracht wird, sagte im deutschen Fernsehen, er sei Mitglied von Gladio.

Ein Neofaschist gestand, von Gladio Ende 1971 Sprengstoff erhalten zu haben. Mit diesem ermordete er drei Polizisten – das sogenannte „Attentat von Peteano“, welches den Untersuchungsrichter Felice Casson auf die Spur von Gladio brachte. Bei einer Überprüfung der 139 Waffendepots der Gladio im November 1990 wurden zwölf nur mehr leer vorgefunden, so auch das Lager von Aurisina, aus dem der Sprengstoff für das Attentat von Peteano stammte. Laut Felice Casson ging aus den ihm vorliegenden Dokumenten hervor, daß die italienische Gladio-Organisation nicht nur ein informelles NATO-Gebilde, sondern indirekte und bezahlte Befehlsempfängerin der US-Geheimdienstes CIA war. Es wäre sogar beweisbar, daß Gladio die Aufgabe hatte, aktiv auf die Innenpolitik einzuwirken, und daß Genehmigungen für politische Morde ausgestellt wurden.

Symbol der Gladio:
Kurzschwert, Fallschirm, Anker, Handgranate

Ex-CIA-Agent Dick Brenneke erzählte im italienischen Fernsehen, daß P-2-Chef Licio Gelli durch ihn viel Geld von der CIA erhalten hätte, „um die italienischen Kommunisten von der Macht fernzuhalten“. Dazu war auch eine stärkere Unterwanderung der Massenmedien nötig. Und da kommt dann zufällig oder passender Weise das P-2-Mitglied Silvio Berlusconi ins Bild, in den siebziger Jahren vom Bauunternehmer zum Medienzaren befördert. Aldo Moro, der Mann des „Compromesso storico“ zwischen der DCI und der PCI, mußte anscheinend wegen dieses historischen Kompromisses sterben, Andreotti aber stolperte über Gladio und damit über Moros Ermordung. In einem Angriff nach vorne stellte Andreotti Gladio und damit befreundete europäischen Regierungen und die NATO bloß und fiel selbst, wurde fallengelassen. Die Rechnung, durch den Verweis auf die NATO die ganze Angelegenheit zum Staatsgeheimnis zu erklären, alle in die virtuelle Geiselhaft der Mitwisserschaft zu nehmen und sich selbst zu schützen, ging nicht auf.

Allgemeine Verwirrung oder gezielte Desinformation?

Der belgische Regierungschef Wilfried Martens sagte, daß Gladio Anfang der fünfziger Jahre in Italien gegründet worden sei, um im Falle einer sowjetischen Invasion einen Guerillakrieg zu führen. Seine Regierung hätte über die eigene Truppe nicht Bescheid gewußt. Die etwaigen Reste seien aufgelöst worden. Das stand im Widerspruch zu den Enthüllungen Androttis.

Der ehemalige belgische Geheimagent André Moyen hingegen erzählte in einem belgischen Radiointerview, daß bis vor kurzem noch mindestens sechs geheime Waffendepots für die belgische Stay-behind-Truppe „Glaive“ existiert hätten. Die deutsche Abteilung hieße „Schwert“.

Der NATO nahestehende Diplomaten in Brüssel wiederum ließen nach anfänglichen Dementis von Jean Marcotte, dem stellvertretenden Sprecher von SHAPE, verlautbaren, daß die durch Italien bekanntgewordene Organisation auf die ersten Nachkriegsjahre zurückgehen würde. In Zusammenarbeit der verschiedenen europäischen Dienste mit dem amerikanischen Geheimdienst wurden geheime Kampftruppen ausgebildet. In den westlichen Besatzungszonen von Deutschland hatte dies die Organisation Gehlen, die Vorläuferorganisation des deutschen Bundesnachrichtendienstes, zu organisieren. Übungszentren für ehemalige Kriegsgefangene, Dolmetscher und zufällig angeworbene junge Männer in der amerikanischen Besatzungszone befanden sich im Odenwald und im Bayrischen Wald.

In Brüssel wurde darüber hinaus jeder weitere Zusammenhang mit der NATO heftig dementiert: Zu keinem Zeitpunkt hätte die NATO eine Kommando- oder Kontrollbefugnis über die Stay-behind-Truppen gehabt. Die Gruppen wären den jeweiligen nationalen Autoritäten unterstanden, alle Regierungen seien genauestens informiert. gewesen.

Die Bezeichnung „NATO-Geheimorganisation“ wäre pure Desinformation der nationalen Regierungen. Zwar wären Anfang der fünfziger Jahre die Widerstandsgruppen in Benelux, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Norwegen und Österreich unter alliierter, taktischer Kontrolle (CCP) gestanden und später in eine fixe Struktur (ACC) eingebunden worden, aber mit der NATO hätte nur eine enge Zusammenarbeit bestanden.

Andererseits begann diese enge Nur-Zusammenarbeit mit SHAPE bereits in den fünfziger Jahren. Dort wurde ein eigener Militärstab (ACC/SOPS) gebildet, der die Gruppen in Übungen einband und mit Einsatzszenarien versorgte, denn im Kriegsfall sollten SHAPE und die Zentrale der Stay-behind-Truppen zusammenwirken. Die Zentrale würde, so Brüssel, jetzt nur mehr als Hülse irgendwo in Belgien bestehen. Die Aufgabe der Gruppen sei es gewesen, sich überrollen zu lassen und danach Sabotageaktionen durchzuführen und Informationen zu sammeln. Dazu gab es ein Netz von Waffendepots, in denen sich Handfeuerwaffen, Granatwerfer, Sprengstoff, Zündvorrichtungen und Sendegeräte befanden.

Laut Brüssel sollen alle westeuropäischen Regierungen die volle Verantwortung für die paramilitärischen Aktivitäten dieser Organisationen tragen. Nationale Regierungsstellen wiederum betonen, daß nach Beschlußfassung und Einrichtung die Regierungen diese Netze ausschließlich den Militärbehörden überlassen haben.

Die französische Gruppe soll 1958 mit de Gaulles Machtantritt, nach anderen Meldungen aber auch erst unter Mitterand aufgelöst worden sein, die italienische angeblich 1973, die griechische 1988.

Etwaige terroristische Aktivitäten sollen laut NATO eine belgische und italienische Nuance gewesen sein, sichtlich eine Retourkutsche der NATO an die Adresse der ihrer Meinung nach zu geschwätzigen Regierungen beider Länder.

In Deutschland unbekannt?

In Deutschland wurde zuerst gemauert: Regierungssprecher Hans Klein stritt lange Zeit die Existenz einer solchen Truppe ab, bis dann Kanzleramtsminister Lutz Stavenhagen, zuständig für die Geheimdienste, einiges preisgab. Das laut Klein nichtvorhandene Stay-behind-Kommando, eine ehemals 200 Mann starke Abteilung des BND, soll im Frühjahr 1991 aufgelöst worden sein, obwohl bis in jüngster Zeit Milliardenbeträge dafür verplant worden sind.

In einem Dossier, verfaßt vom Leiter der für die Geheimdienste zuständige Abteilung VI im Bundeskanzleramt, Hermann Jung, wird die Aufgabe der Stay-behind-Organisation (ganz selten auch Stand-by genannt) als Unterstützung der NATO durch die Nachrichtendienste der Bündnispartner im Verteidigungsfall definiert. Die Stay-behind-Abteilungen befänden sich in der Verantwortung der nationalen Geheimdienste, würden aber von SHAPE koordiniert. Der BND ließ veröffentlichen, daß die geheimen Stay-behind-Netze bei einer sowjetischen Besetzung der westeuropäischen Länder den Widerstand im Untergrund zu organisieren gehabt hätten und auf der Basis bilateraler Absprachen mit der CIA eingerichtet worden wären. Damit wäre die eingangs zitierte Behauptung Andreottis über einen paramilitärischen NATO-Geheimdienst zusammengebrochen.

Der Sprecher des bundesdeutschen Verteidigungsministeriums, Willy Wimmer, sagte: „Wir wissen selbst nichts.“ Der sozialdemokratische Ex-Verteidigungsminister von 1972 bis 1978, Georg Leber, wollte ebenso wenig davon gehört haben wie Horst Ehmke, unter Brandt oberster Kontrolleur der Geheimdienste. Ehmke meinte dazu voller Unschuld: „Aber wir waren ja noch immer ein besetztes Land.“

Innenpolitische Putschtruppe?

Anderen Quellen zufolge waren Gladio, Glaive etc. von Anfang an innenpolitische Instrumente gegen starke kommunistische Parteien wie zum Beispiel in Frankreich, Belgien und Italien. So gibt es ein Schriftstück des JCS (Joint Chiefs of Staff), des Oberkommandos des US-Generalstabes, unter dem Namen „Demagnetize“ aus dem Jahre 1952, das solches für Italien und Frankreich belegt. Das römische Kurzschwert Gladio war auch ein Symbol des faschistischen Staates Italien unter Benito Mussolini, und auch in der späteren faschistischen Republik von Sálo von Hitlers Gnaden.

Angeblich sollen Dokumente des State Departments (US-Außenministerium) belegen, daß die faschistische Geheimpolizei von Sálo (OVRA) ein klandestines Netz für den Fall einer Invasion gegründet hat, möglicherweise die ursprünglichen Gladiatoren. Diese scheinen nach 1945 durch Innenminister Mario Scelba in eine spezielle Polizei für den antikommunistischen Kampf übernommen worden zu sein. Eine ähnliche Truppe wurde laut diesen Dokumenten zeitgleich auch in Frankreich aufgebaut, finanziert aus Sonderfonds und kontrolliert durch den nationalen Sicherheitsdienst. Das gibt zur Verwunderung wenig Anlaß, da in beiden Ländern während des Zweiten Weltkrieges starke kommunistische Partisanenorganisationen entstanden, die von den westlichen Alliierten als zukünftige Feinde betrachtet wurden. Damit war das Tor zur Rückkehr nationalsozialistischer Kollaborateure als demokratische Patrioten offen.

Der CIA meldet sich zu Wort

Der ehemalige CIA-Beamte Ray S. Cline, ehemals OSS-Offizier und WACL-Mitglied, meinte dagegen in einem Interview, daß die Einrichtung von Stay-behind-Organisationen im Kontext des beginnenden Kalten Krieges sinnvoll gewesen wäre. Die NATO wurde erst 1949 gegründet und war noch recht schwach. Gleichzeitig waren eben erst die Berlinblockade und der griechische Bürgerkrieg zu Ende gegangen und der Ausgang des Koreakrieges im Zeichen der siegreichen Nordkoreaner mehr als ungewiß. In Griechenland war Großbritannien schon seit 1944 in einen Bürgerkrieg auf seiten der Monarchisten gegen die kommunistische Partisanenorganisation EAM verwickelt. Die nationalsozialistische Wehrmacht konnte ihren Rückzug in aller Ruhe organisieren.

„Die Möglichkeit, daß die Sowjets Westeuropa überrennen würden, war da. Ich dachte niemals, daß sie es tun würden, aber die Möglichkeit war da“, sagte Cline. Das Vorbild für einen antikommunistischen Widerstand sei der französische Maquis gewesen, de alliierte Fallschirmtrupps, die sogenannten Jedburgh-Teams (einer der Fallschirmspringer war der damalige OSS- und spätere CIA-Chef William Colby), zu je drei Mann mit Zwei-Weg-Radios während der Invasion in der Normandie im Jahre 1944 verstärkten, um Anschläge auf Eisenbahnen und Nachschubkonvois zu unternehmen. Ähnlich agierte die britische SOE (Special Operation Executive), so zum Beispiel in Jugoslawien, wo auch Fitzroy McIean, das Vorbild für James Bond, eingesetzt war. Beide, OSS und SOE, wurden vor der Landung in der Normandie unter General Eisenhower als Special Force Headquarters dem alliierten Oberkommando (SHAEF) unterstellt. Aus der Jedburgh-Abteilung soll schließlich der Kern der neuen Stay-behind-Netze gebildet worden sein. Die Organisation und die Lenkung der Stay-behind-Organisationen wurden durch das OPC (Office of Policy Coordination) des CIA unter Frank G.Wisner wahrgenommen.

Was man als Gladiator so braucht
Anleitung aus einem italienischen Waffenlager

Im Falle einer sowjetischen Invasion sollten den nationalen Widerstandsgruppen nach dem Vorbild des Maquis in Frankreich US-Fallschirmspringerkommandos im Rahmen der psychologischen Kriegsführung zu Hilfe kommen, um die Europäer davon zu überzeugen, daß die USA bereit wären, sie zu unterstützen und zu verteidigen. Ansonsten hätte die Gefahr bestanden, daß die Regierungen auf Grund der Atomstrategien der Supermächte wenig Widerstand geleistet hätten. Denn bis in die sechziger Jahre hätten sich die angloamerikanischen Truppen im Kriegsfall zurückgezogen, zumindest bis an den Rhein und Oberitalien. Erst ab den sechziger Jahren galt die Vorneverteidigung, d.h., auch angloamerikanische Truppen hätten sich im Einsatzgebiet taktischer Atomwaffen befunden. Die jetzt in Österreich bekanntgewordenen Waffenlager sind auf Grund der älteren Strategie angelegt worden, d.h. US-Fallschirmtrupps hätten versucht, österreichische Widerstandsgruppen im Rücken der sowjetischen Armeen zu verstärken. Wer diese Waffendepots betreut hat oder sich sonst noch aus ihnen bewaffnet werden sollte, bleibt aber bis jetzt österreichisches Staatsgeheimnis. Lucien Dislaire, ehemaliger luxemburgischer Fallschirmkommandant, sagte in einer Sendung der BBC, er wäre seinerzeit sowohl Bankmanager als auch Chef eines paramilitärischen Kommandos gewesen. In dieser Eigenschaft nahm er an einem belgischen Manöver teil, bei dem belgische Kommandos amerikanische Spezialeinheiten nach ihrem Fallschirmabsprung zu sammeln und mit ihnen gemeinsam Gendarmeriekasernen anzugreifen hatten. Laut Dislaire sollte das geheime Manöver als Übung zur Unterstützung einer Widerstandsbewegung dienen, nach dem erwähnten Vorbild von 1944.

Zusätzlich gestützt wird diese These über den Beginn der Stay-behind-Strukturen durch die Beibehaltung der nordafrikanischen Luftwaffenbasen in den damaligen französischen Kolonien durch die USA. Der Vereinte Generalstab der Angloamerikaner rechnete im Falle eines Angriffs der Sowjetunion auf Westeuropa mit einem Durchmarsch bis zur atlantischen Küste und hätte dann, wie schon im Zweiten Weltkrieg, von England und Nordafrika aus die langen Nachschublinien und industriellen Zentren bombardiert.

Ähnlich könnte es sich mit der Weiterentwicklung der Fallschirmkommandos für den Partisanenkampf gemeinsam mit patriotischen Untergrundkämpfern verhalten haben. Allerdings waren diese Fallschirmkommandos im Zweiten Weltkrieg nur dort erfolgreich, wo es eine breite Partisanenbewegung gab und Unterstützung aus dem Volk kam, wie in Frankreich, Italien und Ex-Jugoslawien. In Ungarn und in Österreich wurden fast alle abgesprungenen OSS-Agenten festgenommen und viele von ihnen ermordet.

Inwieweit die erfolgreiche Zündung einer sowjetischen Atombombe die alliierte Strategie verändert hat, bleibt ungeklärt. Die Übernahme Ungarns und der Tschechoslowakei durch kommunistische Staatsstreiche, damals auch Salamitaktik genannt, welche ohne die sowjetischen Besatzungstruppen in diesen Ländern nicht vorstellbar gewesen wären, wurde im europäischen Szenario durch das Ausscheren von Tito-Jugoslawien aus der kommunistischen Internationale gegengewichtet. Das titokommunistische Jugoslawien wurde dann vierzig Jahre lang mit internationalen Billigkrediten und Meistbegünstigungsklauseln im bilateralen Handel bei Laune oder bei der Stange gehalten, je nach Sichtweise. Allerdings biß Tito manchmal die ihn fütternde Hand, zum Beispiel durch die Mitbegründung der Gruppe der blockfreien Staaten.

Stay Behind

Die Organisationen wie Gladio (Italien), Stay behind oder Schwert (Deutschland) und „Glaive“ (Belgien, Frankreich) haben bis jetzt keine einheitliche Definition, Aufgabenstellungen etc. von öffentlicher Seite her zugeschrieben bekommen.

Soviel ist „sicher“: Sie sind auf Wunsch der NATO, der USA, der Europäer, der österreichischen Regierung 1948, 1950 oder 1954 eingerichtet worden und wegen der Komintern, wegen der drohenden sowjetischen Invasion, wegen den starken kommunistischen Parteien und Gewerkschaften, wegen der linken Partisanen oder vielleicht wegen der Weltrevolution Jahrzehnte hindurch aufrechterhalten worden. Sie dürften sowohl aus Vorläufergruppen in den späten vierziger Jahren entstanden sein als auch in ihren Zielsetzungen entlang der vierzig Jahre ihres Bestehens verändert worden sein. Mit der Einrichtung der NATO-Abteilung für die Betreuung der Untergrundorganisation, ACC, unter dem „kooperativen“ Kommando von SHAPE in Mons in Belgien wurden sie institutionalisiert, jedoch wegen der Beteiligung neutraler Staaten nicht offiziell. Jedes neu beitretende NATO-Mitglied mußte laut Andreas Papandreou, dem ehemaligen griechischen Ministerpräsidenten, ein Geheimabkommen zum NATO-Vertrag unterzeichnen, in dem die Einrichtung der Stay-behind-Gruppen festgeschrieben sind.

Großbritannien und die USA halten sich weiterhin ganz offiziell ihre „special forces“, die amerikanischen „Green Berets“ und die britische SAS (Special Air Service). Koordiniert bei dem Sonderstab „Special Forces Section“ der NATO in Casteau in Belgien, haben die dort kursierenden Papiere den Stempel „American Eyes Only“.

Allgemein kann man also zwei Aufgabenstellungen der Guerilla festhalten: Das Netz war als Stay-behind-Guerilla sowohl für den Fall einer sowjetischen Invasion als auch für die Eventualität einer Revolution vorgesehen. Entstanden ist das Netz in den westlich orientierten Ländern schon vor der NATO und hätte eigentlich durch diese Organisation spätestens Ende der fünfziger Jahre überflüssig werden müssen. Das Vorhandensein dieses Netzes nicht nur in den NATO-Staaten, sondern auch in den vier neutralen Staaten, weist also auf ein anderes oder neues Ziel hin. Im Laufe der vierzig Jahre seines Bestehens dürfte es sich entweder auf Befehl oder aus eigenem Antrieb als Abwehrfront gegen die allgemeine „Subversion“ in den demokratischen Ländern verstanden haben und demgemäß sein Aufgabenfeld erweitert haben, auf die Innenpolitik der demokratisch verfaßten Staaten.

Bedenklich erscheint ihr Fortbestehen erst recht, wenn man sich die geänderte NATO-Doktrin der sechziger Jahre ansieht: Damals propagierte die NATO die Vorneverteidigung, was die Aufrechterhaltung und Legitimierung dieser Geheimtruppen erst recht als dubios erscheinen läßt, d.h. mit zweifelhaften Zielen wie zum Beispiel innenpolitische Staatsstreiche verbunden.

In den Siebzigern entstanden seltsamerweise auch in der Linken Ideen über eine soziale Verteidigung aus dem Untergrund bei einem feindlichen Angriff, mit Anschlägen auf Nachschublinien und Kommunikationseinrichtungen der Besetzer. Offizielle Kreise taten diese als naive Idealisten ab. Vielleicht wurde damals gerade die französische Resistance neu rezipiert, wahrscheinlicher ist aber, daß im Zuge der Beschäftigung mit China und Maos Schriften, der „Dritten Welt“ und ihren Befreiungsbewegungen, deren Erfolge großen Einfluß auf die militärischen Vorstellungen der Linken ausübten.

Allied Clandestine oder auch Coordination Comittee (ACC)

Laut Angaben aus Brüsseler Kreisen hieß die Zentrale der Stay-behind-Organisationen zuerst Clandestine Committee for Planning (CCP) mit Sitz in Frankreich. Seine Entstehung soll es den Vereinbarungen im Jahr 1951 (laut National Security Council am 3.1.1951) zwischen den alliierten Geheimdiensten und den einzelnen westeuropäischen Operationsländern verdanken. Bis 1959 (Beitritt der italienischen Gruppe) sollen alle Untergrundgruppen in diesem Netzwerk verbunden worden sein. 1964 wurde es in ACC (Allied Clandestine Committee) umbenannt, mit Sitz in Belgien. Ein eigens gebildeter Militärstab bei SHAPE soll mit dem ACC zusammengearbeitet und Übungen koordiniert haben.

Laut belgischen Meldungen hieß die Stay-behind-Führung aber Clandestine Coordination Comitee (CCC). Auf jeden Fall gilt das NATO-Gremium ACC als oberster Lenkungszirkel der Untergrundnetzwerke, von dem die Einsätze koordiniert worden sind. Ob die einzelnen nationalen Organisationen selbständig oder von hier aus geführt worden sind, ist unbekannt. Tagungsort ist Brüssel. Genaue Adresse unbekannt.

Soviel zu den widersprüchlichen Informationen, die die Regierungen ihren Bevölkerungen zukommen ließen. Der Gegner hingegen, der KGB, war durch die Agentin Heidrun Hofer, in der BND-Abteilung IV zuständig für Verteidigungsvorbereitungen und Maßnahmen für den Krisen- und Verteidigungsfall, schon seit 1976 hervorragend über die NATO-Partisanen informiert.

Bleiben außer dieser Merkwürdigkeit noch einige Fragen:

Warum wurden immer wieder Rechtsextreme und eben keine aufrechten Demokraten für diese Truppen angeworben?

Inwieweit waren und sind diese speziell ausgebildeten und geschützten Rechtsextremen von der NATO und den einzelnen Staaten finanziert und gefördert, auch unter der Kontrolle der Regierungen?

Haben diese Rechtsextremen auch in anderen Ländern als Italien und Belgien Anschläge verübt, gemordet und destabilisiert?

Konnten auch sie lange Zeit mit Freisprüchen wie in Italien rechnen?

Haben sie innenpolitisch selbständig, d.h. haben sie sich verselbständigt, oder auf Weisungen der Regierungen, der CIA oder der NATO gehandelt?

Welche Regierungs- oder Staatsform hätten diese Geheimarmeen bei einem Putsch gegen Linksregierungen gewählt? Eine Diktatut? Eine militärische Diktatur? Eine faschistische Diktatur? Und das im Namen der westlichen, freiheitlichen Demokratie?

Gab es so ein Netz auch in den USA? Und wenn, hat sich dieses, so wie es in Italien geschehen ist, in die amerikanische Innenpolitik eingemischt und in welchem Ausmaß? Wie weit wurden die italienische und die amerikanische Politik, so die Aussage des Ex-CIA-Agenten Brenneke, übereingestimmt?

Der ehemaligen Ehrenpräsident und Parlamentsabgeordnete des neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano) Gino Brindelli, pensionierter Admiral und NATO-Oberbefehlshaber Süd, meinte in einem Interview 1974 kurz nach einer aufgeflogenen Verschwörung in Italien, Diktaturen seien „wie Aspirin gegen Kopfweh“.

Quellen:
Die Welt, 12. & 14.11.1990;
Der Standard, 14.11.1990;
Münchner Abendzeitung, 16.11.1990;
International Herald Tribune, 17.11.1990;
Kieler Nachrichten, 19. & 22.11.1990;
Der Spiegel 47, 19.11. 1990;
die tageszeitung, 29.11.1990 & 5.6.1991;
Neue Zürcher Zeitung, 30.11.1990 & 22.10.1991;
Operation Gladio, BBC-Dokumentation im Fernsehsender VOX,August 1993;
Leo A. Müller: Gladio – das Erbe des Kalten Krieges.Der Nato-Geheimbund und sein deutscher Vorläufer. Mit einem Beitrag von Werner Raith. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1991.
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