Heft 4-5/2004
Juni
2004

Im Westen nichts Neues? – Der Osten ruft!

„Osteuropa“ als Erfindung und Trade Mark

Osteuropa, so stellt Larry Wolff in der „Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens“ lapidar fest, sei eine „Erfindung“ der WesteuropäerInnen. Der Historiker schreibt: „Paradoxerweise bedient man sich bei der Erfindung Osteuropas der materiellen Wirklichkeit – Länder und Flüsse, Dörfer und Städte, Menschen aus Fleisch und Blut – und formt diese zu einem zusammengehörigen, sinnhaften Ganzen, das in seiner Ganzheit jedoch fiktiv und illusionär ist: kurz, zu einer Idee.“ (S. 21)

Zumindest für ein ambitioniertes, mehrjähriges Projekt der Erstellung eines Nachschlagewerks, das sich gänzlich Osteuropa widmet, dürfte die Faktizität der Idee doch ausgereicht haben. Der Wieser-Verlag ist gemeinsam mit dem Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt Herausgeber der Enzyklopädie, die in 20 Bänden und drei Abteilungen erscheinen soll: Bände mit lexikalischen Stichworteinträgen, sowie Quellen- und Themenabteilung.

Der erste Band der siebenteiligen Themenreihe ist „Europa und die Grenzen im Kopf“ gewidmet. Osteuropa wird unter seiner Funktion als „geistige Landkarte“, als kulturelles Konzept analysiert: Europakonzeptionen und Balkanismen, die Positionierung Russlands zwischen Europa und Asien, (post)sowjetische Heimatbegriffe sowie Grenzkonstruktionen in Kunst und Ästhetik sind einige der in dem 500-Seiten-Wälzer behandelten Aspekte.

Um noch einmal zu Larry Wolff zurückzukehren: Was für den Konstruktivisten nicht mehr als eine Fiktion ist, daran hegt der/die DurchschnittswesteuropäerIn keinen Zweifel. Ob nun die Vorstellung von Osteuropa seit dem 18. Jahrhundert von Voltaire und anderen niedergeschrieben wurde oder ob WesteuropäerInnen seit jeher von der „Halbwildheit“ der Menschen des Ostens fasziniert waren – eines steht fest: Die „Erfindung Osteuropa“ erfreut sich heute steigender Beliebtheit.

Vielfältiger Ostblock

Nachdem die Beitrittsländer in den letzten 15 Jahren im stillen Eckchen die Spielregeln der Westintegration eingehalten haben, kann sich der Westen der „Ränder Europas“ endlich annehmen: Die östlichen Nachbarländer Österreichs haben sich auf wundersame Weise zu respektablen EU-Partnern gewandelt. Sopron, Bratislava, Znojmo: Wo man einst nur schmackhafte Salamis und Markenjeans zu dezenten Preisen erstand und sich ein perfektes neues Gebiss anpassen ließ, gibt es plötzlich auch Kultur und Kunst, Literatur und Geistesleben zu erleben. Es gilt die letzten „Grenzen im Kopf“ endgültig zu beseitigen. Und den verfeinerten Osten zu genießen.

Schließlich gilt es einiges zu entdecken, was während des Kommunismus unter den „Mantel des Schweigens“ geraten war. Der Blick auf den „Ostblock“ hat sich differenziert, man ist nun bereit, nationale Unterschiede anzuerkennen. Und jedes einzelne dieser Länder scheint vor unbekannten Kulturen, verschwiegenen Minderheiten, vergessenen Bräuchen und unentdeckten Landstrichen nur so zu strotzen.

„Go East“

Osteuropa, so Wolff, beruhe „auf dem Entwurf einer modernen Skala von Entwicklung und Unterentwicklung; dass Osteuropa weder gänzlich zivilisiert noch völlig barbarisch war, war schlicht Ausdruck seiner ,Rückständigkeit‘. Insofern, als Osteuropa ,europäisch‘ war, wurde es als sich in Richtung Zivilisation bewegend angesehen, obwohl die Erreichung dieses Ziels immer auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft verschoben wurde.“ (S. 25)

Für acht osteuropäische Staaten scheint dieser Zeitpunkt nun gekommen zu sein. Wenn sich diese Länder heute als attraktive Mitglieder der europäischen Familie neu erfinden, dann geschieht dies wie eh und je im Zeichen der erfolgreich abgeschlossenen Zivilisierung. Denn auf Dauer lassen sich mit der trockenen Rede von Investitionen, Standortvorteil und Binnenmarkt weder Magazinseiten noch Vortragssäle füllen. Besser also, man streut klangvolle Begriffe wie die „Teilnahme an einem gigantischen Friedensprojekt“, das „gemeinsame kulturelle Erbe“ und die „europäische Wertegemeinschaft“ in die Diskussion.

Längst bleibt es nicht bei salbungsvollen Reden: Der Boom von „Ostsprachen“ und Osteuropa-Studien, das Abfeiern osteuropäischer Literaturen auf Kultur-Großereignissen wie der Frankfurter Buchmesse, Kakanien-Nostalgie, Russendisko & Balkannacht zeigen, dass „Osteuropa“ heute noch mehr ist: eine Marke, mit der man Aufmerksamkeit erzielt.

Somit scheint die Erfindung aus dem 18. Jahrhundert endgültig in der post-sozialistischen Wirklichkeit angekommen zu sein.

Karl Kaser, Dagmar Gramshammer-Hohl, Robert Pichler (Hg.): Europa und die Grenzen im Kopf, Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Band 11, Klagenfurt/Celovec 2003, 500 Seiten.

Außer dem obigen Band ist bis dato Band 10 der Enzyklopädie, das „Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens“, erschienen.

Weitere Informationen über das Gesamtprojekt sind unter der Website www.wieser-verlag.com zu finden.

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