FORVM, No. 305/306
Mai
1979

In 10 Jahren Sieg

Geheimtreffen polnischer und tschechischer Dissidenten

Die Internationalisierung der osteuropäischen Dissidentenbewegung hatte ihren spektakulärsten Höhepunkt in den Treffen zwischen Vertretern der Charta 77 und des polnischen Arbeiterverteidigungskomitees (KOR), die im Sommer 1978 begannen. Beim zweiten Treffen interviewten die KOR-Mitglieder Jan Litynski und Antoni Macierewicz die Charta-Leute über deren Ansichten und publizierten den Text am 11. September in Warschau im Informationsbulletin Nr. 23 des KOR. Wir bringen eine ungekürzte Übersetzung (Biographien siehe Kasten S. 47). Beim dritten dieser Treffen wurde am 1. Oktober 1978 der Charta-Sprecher Jaroslav Sabata verhaftet.

Gesprächsteilnehmer an der tschechoslowakisch-polnischen Grenze: Charta-77-Vertreter Vaclav Havel
Charta-77-Sprecher Ladislav Hejdanek
KOR-Interviewer Antoni Macierewicz

Plastic People sind unpolitisch

KOR: Charta 77 ist keine Organisation, keine politische Gruppe. Es ist ein Komitee für Menschenrechte. Wie kam die Charta zustande?

HEJDANEK: Es begann mit dem Prozeß gegen die Musikgruppe „Plastic People“ im Frühling 1976. Einige Intellektuelle und ehemalige kommunistische Aktivisten, die nach 1968 aus der Partei ausgeschlossen worden waren, verständigten sich. Cerny, Kriegel, Mlynar, Patocka und Seifert schrieben einen gemeinsamen Protestbrief gegen die Prozesse. Das war die erste öffentliche Aktion seit der „Normalisierung“. Natürlich gab es schon vorher Proteste aus dem Westen, zum Beispiel von Böll, Grass, Dürrenmatt. Im Lande selbst jedoch rührte sich nichts.

HAVEL: Das war der erste Prozeß, wo es nicht um politische Aktivitäten ging, es wurden Leute ohne politische Vergangenheit angeklagt. In einem System wie dem unseren bedeutet es eine Krise, wenn das Regime gezwungen ist, sich mit nicht-politischen Oppositionellen auseinanderzusetzen. So auch in diesem Fall. Hier war es nicht eine Frage ideologischer Differenzen, das spielte früher eine Rolle. Da saßen junge Leute auf der Anklagebank, die wegen ihrer Art zu leben und wegen ihrer künstlerischen Arbeit verurteilt werden sollten. Diese Tatsache brachte ehemalige politische Aktivisten, Christen und Intellektuelle zusammen, führte sie zur gemeinsamen Protestaktion. Der Protest war erfolgreich. Im ersten Prozeß wurden die Leute zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, aber nach dem Protest wurden 23 von ihnen freigelassen und den übrigen wurde jeweils ein Jahr ihrer Haft nachgelassen.

KOR: Es wurde also eine Verständigung zwischen schon bestehenden Gruppen und dem oppositionellen Milieu hergestellt. Stecken da tiefergehende gesellschaftliche Prozesse dahinter?

HEJDANEK: Sicherlich. 1976 gab es eine entscheidende Veränderung in der sozialen und geistigen Atmosphäre. Irgendwas war in der Gesellschaft aufgebrochen. Die „Plastic People“ wirkten als Katalysator dieses Wandels.

HAVEL: Nach den Jahren ’68/’69 wurde die gesamte Gesellschaft von Apathie erfaßt. Die Leute wollten nichts mit irgendeiner Opposition zu tun haben. Sie wollten nicht einmal maschingeschriebene Romane lesen. Sie hatten Angst. Der Anfang der 70er Jahre war eine Zeit tiefster Depression. Aber dann wurden die Leute es plötzlich müde, müde zu sein und erwachten zu neuem Leben. In dieser Zeit entstand das jetzige Klima. Verschiedene isolierte Gruppen spürten das Bedürfnis nach gegenseitigem Kontakt, nach Einheit. Ein gemeinsames Bedürfnis, die Wahrheit auszusprechen, führte die Menschen zusammen. Dieser moralische Drang etablierte eine Ebene, auf der sich ideologisch dermaßen unterschiedliche Leute wie der Eurokommunist Mlynar, die Sängerin Kubisova und der Phänomenologe Patocka begegnen konnten.

KOR: Ist die Initiative zur Bildung der Charta von einer bestimmten Gruppe oder einem bestimmten Milieu ausgegangen?

Nach Polen geschaut

HAVEL: Es war eine gemeinsame Initiative von verschiedenen Personen.

KOR: Die Idee zur Bildung der Chartanahm etwa zur gleichen Zeit Gestalt an, als in Polen die Arbeiter streikten und das Arbeiter-Verteidigungskomitee gebildet wurde. Welchen Einfluß hatten die Ereignisse in Polen auf die Situation in der Tschechoslowakei?

UHL: Um das zu beantworten, muß man ins 68er-Jahr zurückgehen. Unsere Studentenbewegung war sowohl von den Warschauer März-Ereignissen wie vom Pariser Mai stark beeinflußt. Am Anfang — bis zur Intervention — war die Studentenbewegung in der Tschechoslowakei schwach und unorganisiert. Erst später wurde sie zur Massenbewegung.

KOR: Und die Studentendemonstration beim Strahov-Studentenheim im Oktober 1967 ...?

UHL: Natürlich gab es Manifestationen studentischer Unzufriedenheit. Aber sie waren spontan, unorganisiert. Erst nach dem März 1969 begann sich die Studentenbewegung zu organisieren. Der Einfluß der polnischen Erfahrungen war besonders an der philosophischen Fakultät erkennbar. Viel später, im November 1968, war der große Studentenstreik in Prag nach dem Modell des Märzstreiks der polnischen Studenten geführt worden. Mir scheint auch, daß die [polnischen] Ereignisse des Dezember 1970 die Tschechen und Slowaken sehr stark beeinflußt haben. Es ist für mich schwer, darüber etwas Konkretes zu sagen, da ich damals im Gefängnis war. Was die Arbeiterstreiks im Juni 1976 oder die Bildung des Arbeiter-Verteidigungskomitees (KOR) betrifft, so hatten wir praktisch keine Informationen über den Verlauf der polnischen Ereignisse. Wir wußten, daß das KOR gegründet worden war, aber das war auch schon alles. Als die Charta gegründet wurde, bedauerte ich, daß sie sich nicht mit so konkreten Angelegenheiten befaßte wie das KOR.

Charta-77-Linke Hana und Petr Uhl

HEJDANEK: Ich glaube, wir hatten damals den Eindruck, daß in Polen viel mehr erreicht werden könnte als bei uns. Das Entstehen des KOR hatte zweifellos große Bedeutung. Wegen der unterschiedlichen Tradition konnte das KOR kein Modell für unsere Aktivitäten werden. Die Tatsache, daß sich das KOR zunächst begrenzte Aufgaben stellte, spielte auch eine Rolle. Nachdem es in das „Soziale Selbstverteidigungs-Komitee“ umgewandelt worden war und ein breiteres Aktionsfeld bekam, publizierten wir eine Auswahl von zehn KOR-Stellungnahmen.

HAVEL: Für mich hatten die Juni-Ereignisse [1976 in Polen] und die Gründung des KOR eine große Bedeutung. Das KOR wurde für mich ein Aktionsprogramm. Ich glaube, daß die Bildung des KOR für all jene, die die Charta initiierten, eine große Rolle spielte. Ich weiß aber nicht, ob alle so empfinden.

KOR: Es wird oft gesagt, daß die Opposition in der Tschechoslowakei einheitlicher ist als in Polen. Ist die Charta ideologisch einheitlich oder lassen sich verschiedene Strömungen unterscheiden?

4 oder 5 Strömungen der Charta

HAVEL: Zunächst muß einmal betont werden, daß von den tausend Unterzeichnern sechshundert nicht politisch aktiv sind. Sie wollen Zeugnis ablegen, um in der Wahrheit zu leben.

UHL: Denn nur die Wahrheit ist revolutionär.

HAVEL: Wir können trotzdem von drei politischen Hauptströmungen sprechen. Als erstes Eurokommunisten. Das sind ehemalige Mitglieder der KPC, die den Ideen der spanischen und italienischen KP nahestehen. Zu dieser Strömung gehören Jiri Hajek, Jiri Dienstbier, Jaroslav Sabata und Frantisek Kriegel. Diese Leute stimmen zwar ideologisch überein, sie bilden aber auch keine homogene Gruppe. Man darf sie nicht mit ehemaligen Kommunisten verwechseln, die sich jetzt, je nach momentanem Standpunkt, in verschiedenen ideologischen Strömungen befinden.

Jaroslav Sabata mit Frau
(Jugendbild)

Als zweite Strömung würde ich die revolutionären Marxisten nennen, die die Idee der Arbeiterdemokratie vertreten, wie zum Beispiel Petr Uhl. Da handelt sich’s vor allem um Junge, die nicht in unmittelbarer Verbindung mit dem Prager Frühling stehen.

Die dritte Strömung besteht aus den unabhängigen Sozialisten wie Jiri Müller, Rudolf Battek, Jaroslav Meznik. Sie vertreten sozialdemokratische Ideen und plädieren für ein parlamentarisches System.

Es gibt auch noch andere Gruppen, die man aber nicht in politischen Termini definieren kann. Ich meine damit zunächst all jene, die sich aus christlichen Vorstellungen heraus in der Charta engagiert haben. Zum Beispiel Protestanten wie Ladislav Hejdanek, oder Katholiken wie Jiri Nemec und Vaclav Benda. Dann gibt es auch politisch unabhängige Intellektuelle, wie zum Beispiel Jiri Grusa, Pavel Kohout und Ludvik Vaculik. Ich selbst würde mich auch zu dieser letzten Gruppe rechnen.

Eine große Rolle spielt auch die unpolitische Jugendbewegung, die „underground“ genannt wird. Die Grenzen der Gruppen und Strömungen sind fließend. Diese Aufzählung der verschiedenen Strömungen ist sicher nicht vollständig, zum Beispiel kann man den Marxisten Frantisek Kriegel nur schwer in einer der genannten Kategorien unterbringen. Eines ist aber sicher: Es gibt unter uns keine Reaktionäre!

KOR: Und wen würdet ihr als reaktionär bezeichnen?

HEJDANEK: Ich würde all jene als reaktionär bezeichnen, die eine Lenkung der Gesellschaft von oben vertreten, die gegen die Idee der Selbstverwaltung sind und alle, denen eine kleine Elite von Reichen wichtiger ist als die übrige Gesellschaft.

KOR: Soweit uns bekannt ist, wird die Charta hauptsächlich von Tschechen gebildet. Wie erklärt ihr die relativ geringe Teilnahme von Siowaken an der Charta?

Slowaken sind anders

JIRI: Das ist eine schwierige Frage. Die Charta hatte ihren Ausgangspunkt in Prag. In der Slowakei wurde sie kaum propagiert. Einigen Einfluß hat wahrscheinlich auch das traditionelle Mißtrauen der Slowaken gegen die Tschechen. Auch ein gewisser slowakischer Konservativismus wird da mitspielen. In der Slowakei gab es auch kaum Untergrundaktivität, die ja der natürliche Ausgangspunkt für die Charta war.

LANDOVSKY: Ich glaube, die Tatsache, daß es in der Slowakei nur wenige ehemalige KP-Mitglieder gab, spielte auch eine gewisse Rolle.

Pavel Landovsky,
beliebter tschechischer Schauspieler, jetzt am Wiener Burgtheater

HAVEL: Die slowakische Gesellschaft ist weniger strukturiert, weil der Kampf um nationale Identität länger und härter war als bei den Tschechen. Deshalb bleibt die nationale Frage bis heute das Hauptproblem der Slowaken, der Kampf für demokratische Rechte kommt erst an zweiter Stelle.

KOR: Die Charta 77 spricht vor allem von den Menschen- und Bürgerrechten, die eingehalten werden sollen. Beschränkt ihr euch bei euren Aktivitäten auf diese Ziele?

HAVEL: Mir gefällt die Unterscheidung, die Hans Brock trifft. Er meint, es gibt zwei Arten gesellschaftlicher Organisationen. Da ist zunächst der Typus, der pragmatische Ziele verfolgt. Die Charta fällt in die zweite Kategorie. Sie hat keine Sofortziele, sie will nicht eine herrschende Clique durch eine andere ersetzen, aber sie strebt soziale Veränderung an. Die Charta ist deshalb keine klassische Opposition.

KOR: Kann man das aber ohne politische Veränderung erreichen?

HEJDANEK: Zunächst und vor allem haben unsere Aktionen moralischen Charakter. Unser Ausgangspunkt ist humanistisch. Unsere Ziele sind daher zuallererst humanitär und erst in zweiter Linie politisch. Veränderungen sollten mit moralischen Veränderungen beginnen, die politischen können dann folgen. Wir haben zahlreiche Beispiele, wo politische Veränderungen durchgeführt wurden, die auf eine unvorbereitete Gesellschaft trafen und deshalb unwirksam blieben. Wir wollen dies in der Zukunft vermeiden.

KOR: Rechnet ihr mit einer politischen Veränderung in naher Zukunft?

HEJDANEK: Ja, unsere Perspektive ist auf ein Jahrzehnt abgestellt.

Rußland soll hergeben

KOR: Wäre das eine Rückkehr des Prager Frühlings?

HAVEL: Das genügt heute nicht. Selbst die Eurokommunisten sehen, daß die Reformen des Prager Frühlings ungenügend waren und daß man hätte weiter gehen sollen. Das ist z.B. die Position von Jaroslav Sabata.

KOR: Nehmen wir an, eine Veränderung würde stattfinden. Würde die Charta eine der Gruppen in der KPC favorisieren?

HEJDANEK: Nein, wir würden das fortsetzen, was wir heute machen.

KOR: Bleiben wir bei der Zukunft. Glaubt ihr, werden die von der Sowjetunion unterjochten Nationen ihre Unabhängigkeit wiedererlangen?

HEJDANEK: Ich bin überzeugt, daß die Zukunft nicht den Nationen gehört. Es sollte eine europäische Föderation errichtet werden, die aus Estland, Lettland, Litauen, Weißrußland, der Ukraine und auch Polen und der Tschechoslowakei besteht.

KOR: Befürchten nicht diejenigen unter euch, die religiös sind, daß im Falle einer Änderung der politischen Situation die Eurokommunisten Feinde der Religion werden könnten?

HEJDANEK: Mlynar würde am liebsten alle Erfolge der Charta als Sieg des Eurokommunismus präsentieren. Aber das ist ein politischer Irrtum: Die Eurokommunisten sind immer in der Defensive, wenn es Änderungen des Status quo gibt. Es besteht die Gefahr, daß die Leute verlangen werden, daß sich die Kommunisten aus der politischen Arena zurückziehen. Aber das wäre auf der anderen Seite auch nicht gut.

Wir Nichtkommunisten möchten mit den Kommunisten kooperieren. Wir müssen unterscheiden können zwischen den verschiedenen Kommunisten und mit denen zusammenarbeiten, die sich wirklich für die Demokratie einsetzen. Nur die Kommunisten, die es aufgegeben haben, uns ihre Hegemonie aufzuzwingen, können unsere Partner sein. Unter demokratischen Bedingungen können die Kommunisten eine bestimmte Zeit an der Macht sein, aber danach müssen sie eine Partei unter anderen Parteien werden. Andernfalls werden sie von der politischen Bühne verschwinden.

Jetzt bin ich frei ...

KOR: Was hat euch dazu veranlaßt, Aktionen zu setzen, die euch andauernd in Schwierigkeiten bringen? Ihr hättet doch die Möglichkeit gehabt, ruhig in euren Berufen weiterzuarbeiten.

LANDOVSKY: Man will ehrlich sein, vor allem in der Arbeit. Als mein Beruf mir das unmöglich machte, hatte ich das Gefühl, daß ich etwas Unwirkliches mache.

KUBISOVA: Ich sang Protestsongs, und die Leute hatten Vertrauen zu mir. Obwohl ich keine politische Erziehung genossen habe, konnte ich weiß und schwarz unterscheiden. Ich wollte keine Loyalitätserklärung unterschreiben. In den 70er-Jahren bereiste ich Westeuropa und da begriff ich, welche geistigen Deformationen meine Freunde in der Tschechoslowakei mitmachten. Ich wollte einfach frei sein. Ich hätte weiter Tourneen machen können, ich hatte zahlreiche Angebote, aber ich entschied mich, eine echte Vertreterin der Tschechen zu sein. Deshalb mache ich das, was ich jetzt tue.

HAVEL: So wirst du Dissident. Du willst frei sein, du selbst sein, und so wirst du Dissident.

KOR: Sind Sie frei?

KUBISOVA: Ja, ich bin seit zehn Jahren frei ... Ich bin immer frei gewesen.

Marta Kubisova,
Prags beliebteste Chanteuse, darf nicht auftreten
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