FORVM, No. 452-454
Juli
1991

Israelischer Faschismus oder polnische Erbschaft?

Zionismus = Rassismus?

Am 10. November 1975 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution an, die Zionismus mit Rassismus gleichsetzt. Das Ziel der Urheber dieser Resolution war es, den Staat Israel und die Bewegung, die ihn hervorgebracht hat, zu verleumden. Sowohl in der Resolution, als auch in der ihr vorausgegangenen Debatte klangen deutliche antisemitische Töne an. Die Mehrheit der Befürworter dieser UNO-Resolution waren arabische, moslemische und kommunistische Mitgliedsstaaten. Hinzu kamen noch Länder der Dritten Welt, die unter arabischem Einfluß standen. Diese Resolution war nur eine von vielen in der Geschichte der politischen Kriegsführung der arabischen Staaten gegen Israel. Man beschuldigt den Staat, der hunderttausenden Opfern des Rassismus eine neue Heimat bot und bietet, rassistisch zu sein.

Als Beweis für den angeblichen Rassismus wurde das israelische Rückkehrgesetz von 1950 genannt, gemäß dem jeder Jude das Recht hat, nach Israel einzuwandern und bei seiner Ankunft die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Doch jeder Staat definiert seine eigene Einwanderungspolitik. Beispielsweise nimmt Deutschland bevorzugt deutsche Aussiedler auf, ohne deswegen als rassistisch verurteilt zu werden.

In der Sowjetunion wird nach Jahrzehnten staatlicher antizionistischer Propaganda heute offene Pogromhetze betrieben. Israel nimmt hunderttausende sowjetische Juden, die ihre Heimat fluchtartig verlassen, auf, was von linken „Antifaschisten“ mit der völkischen Umsiedlungsaktion des Dritten Reiches verglichen wird. Wenn Israel in einer Blitzaktion zehntausende äthiopische Juden, schwarzhäutige Falaschas rettet, dann ist das Rassismus, denn für manche Linke sind nur tote Juden gute Juden. In Israel wurde die hebräische Sprache wieder zum Leben erweckt und eine neue hebräische Literatur und Dichtung geschaffen. All dies wird als Teil einer zionistischen Verschwörung wahrgenommen.

Die Juden haben überall eine Minderheit gebildet, wurden oft unterdrückt oder vertrieben. Der Zionismus hatte zum Ziel, eine nationale Heimstätte zu schaffen, wo jeder Jude das Recht hat einzureisen und als freier Bürger zu leben. Die über 150.000 Araber, die 1948 nach dem ersten von Arabern begonnenen Krieg in Israel geblieben sind, erhielten genauso die israelische Staatsbürgerschaft, wie auch zehntausende andere Araber, denen die Rückkehr später erlaubt wurde. Jeder nichtjüdische Bewohner oder Einwanderer in Israel kann eine Naturalisierung beantragen, sie wird ihm nach ähnlichen Prinzipien, wie in anderen Ländern, zugebilligt. In Jordanien hingegen sind die Juden per Gesetz vom Recht auf Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, ohne daß sich irgendjemand deswegen aufregt. Der Vorwurf des Rassismus gegen Israel und dem Zionismus wurde und wird aus propagandistischen Gründen erhoben.

Auch im FORVM wird der pluralistisch-demokratische Staat Israel als „faschistisch“ und „rassistisch“ abqualifiziert. Das Motiv ist, daß es keinen noch so absurden Vorwurf gegen Juden gibt, der nicht von vielen Österreichern geglaubt wurde und wird. Bis heute hat der Tiroler Erzbischof Schwierigkeiten, weil viele Katholiken an die Ritualmordlegende glauben wollen. Dieser Vorwurf des „israelischen Faschismus“ soll vielleicht auch davon ablenken, daß der bis heute von der PLO verehrte Führer der Palästinenser, Haj Amin al-Husseini, seines Zeichens Mufti von Jerusalem, aktiv mit den Nazi zusammengearbeitet hatte. In Österreich sollte dieser Vorwurf davon ablenken, daß man sich, gerade unter Bundeskanzler Kreisky, mit den Erben der NS-Bewegung arrangierte.

Die Strömungen des Zionismus

Die arabische und linksextreme Propaganda stellt die zionistische Bewegung als einen monolithischen Block dar. Zionist ist für sie Zionist, da wird kein Unterschied gemacht. In Wirklichkeit gab und gibt es in der zionistischen Bewegung viele Strömungen, religiöse und nichtreligiöse, linke und rechte. Die Diskussionen in der zionistischen Bewegung wurden nach Aufkommen des Faschismus in Europa während der dreißiger Jahre heftig geführt. Damals kam es auch dazu, daß Anhänger der linken Parteien die rechten Revisionisten als „Faschisten“ abqualifizierten, zumal es im revisionistischen Flügel der zionistischen Bewegung Leute gab, die von den Anfangserfolgen der faschistischen Regime beeindruckt waren. Vieles aber ist heute nur verständlich, wenn man die Lage der Juden im Polen der Zwischenkriegszeit kennt, denn die revisionistische Bewegung hatte in Polen ihre Wurzeln und größten Erfolge.

Polen in der Zwischenkriegszeit

Die Situation des polnischen Judentums in der Zwischenkriegszeit war paradox. Weil einerseits die überwiegende Mehrheit der polnischen Juden nicht voll in der polnischen Kultur assimiliert war und das Regime eine weite jüdische kulturelle und politische Bandbreite gestattete, wurde Polen zu einem Zentrum autonomen jüdisch kulturellen und politischen Lebens in Europa. Anderseits war das Zwischenkriegspolen von einem virulenten und durchdringenden Antisemitismus charakterisiert. Pogrome und antijüdische Terrorkampagnen begleiteten die Geburt des neuen polnischen Nationalstaates. Während der zwanziger Jahre wurde der Terror zurückgedrängt und man bemühte sich, Polen zu „polonisieren“ und die bereits erschütterte jüdische ökonomische Struktur zu schwächen. Diese „Polonisierung“ bewirkte, daß viele polnische Juden, insbesondere die Jugend, das Gefühl hatten, keine Zukunft mehr in Polen zu haben.

Die Judennot in Polen

Die zwei Grundpfeiler der jüdischen Autonomie, die Schule und die Kehila (Kultusgemeinde), konnten sich nicht frei entfalten. Der polnische Staat weigerte sich (mit wenigen Ausnahmen), die jüdischen Schulen zu unterstützen. Die Abschlußzeugnisse der hebräisch- und jiddischsprachigen Schulen wurden vom Unterrichtsministerium nicht anerkannt. Die Kultusgemeinden waren zwar demokratisch organisiert und alle jüdischen Parteien konnten an deren Wahlen teilnehmen, jedoch intervenierte die Regierung ständig für ihre Kandidaten, die meist Mitglieder der orthodoxen Agudat Israel waren. Die Regierung trat für die Auswanderung nach Palästina ein und unterstützte alle diesbezüglichen Bemühungen der Zionisten, in internen Angelegenheiten aber die orthodoxe Agudat Israel.

An den Mittelschulen und Hochschulen setzte der Staat die Tradition des numerus clausus fort und versuchte den öffentlichen Gebrauch der jiddischen und hebräischen Sprachen einzubremsen. Laut offizieller Statistik ging die jüdische Einwohnerzahl in den Städten zurück. Unter allen Konfessionen hatten die Juden die niedrigste Geburtenrate. Juden wurden vom Staat in der Regel nicht angestellt. In der Monarchie konnten noch Juden als Lehrer in Galizien beschäftigt werden, in Polen ließ man nur ganz wenige Juden als Lehrer an den staatlichen Schulen. Bei der Bahn und den staatlichen Monopolen sowie den staatlich kontrollierten Banken gab es überhaupt keine jüdischen Beschäftigten. In einer Zeit des Etatismus, der ständigen staatlichen Interventionen in die Wirtschaft, hatte eine solche Politik einen entscheidenden Einfluß auf die Zurückdrängung der Juden. Das wieder führte zu einer wachsenden Radikalisierung des jüdischen Lebens, die Polarisierung links‒rechts wurde schärfer. Davon „profitierten“ die linken Zionisten und Kommunisten und die Revisionisten.

Mitte der dreißiger Jahre brach wieder der gewalttätige Antisemitismus in Polen aus, der von der Depression angefacht und von Nazi-Deutschland inspiriert wurde. Das traditionalistische polnische Regime, das durch und durch chauvinistisch war, hatte für die meisten jüdischen Bürger katastrophale Folgen. Trotzdem, in der verzweifelten Lage des europäischen Judentums versuchten alle Flügel der zionistischen Bewegung, mit diesem Regime zu einem modus vivendi zu kommen.

Freilich besteht ein großer Unterschied, ob man dies ohne Illusionen tut, oder so, wie die Revisionisten es taten, dieses rückschrittliche und schwache Regime als Vorbild nimmt und vollkommen unrealistisch als stark einschätzt.

Der Revisionismus

Diese maximalistisch-zionistische Bewegung der Revisionisten wurde von Wladimir Jabotinsky 1925 in Paris gegründet. Ihr Organ war das russischsprachige Wochenblatt »Razsvet« (Berlin 1921-1933, Paris 1933-1934). Die Ideologie gründete auf Theodor Herzls Konzept des Zionismus als in erster Linie politischer Bewegung. Am Anfang waren die Ziele: Wiedererichtung einer Jüdischen Legion als Teil des britischen Militärs in Palästina, Entwicklung eines „Jewish Colonial Trust“ als Hauptinstrument der ökonomischen Aktivität und eine „politische Offensive“, um die britische Regierung zu veranlassen, ihre Politik an die ursprüngliche Absicht und den Geist der Balfour-Deklaration anzupassen. Die Revisionisten kritisierten die Politik der schrittweisen Besiedelung des Landes und wollten „die größte Zahl von Juden während der kürzesten Zeit“ nach Palästina bringen.

Nach anfänglicher Begeisterung für die Balfour-Deklaration wuchs Anfang der zwanziger Jahre die Unzufriedenheit mit der offiziellen zionistischen Politik. Weizmann wurde persönlich für die Rückschläge verantwortlich gemacht. Man beschimpfte ihn und zieh ihn der allzu großen Nähe zu den Briten. Diese Stimmung herrschte vor allem in Polen, wo die Lage der Juden äußerst kritisch war. Diese Opposition verfügte über einen hochbegabten Führer, sie wurde von Wladimir (Zeev) Jabotinsky beherrscht, der schon in jungen Jahren als ausgezeichneter Essayist und glänzender Redner weithin bewundert wurde. 1880 in der bunten kosmopolitischen Hafenstadt Odessa geboren und aufgewachsen, hatte er in seiner Jugend kaum Interesse für das Judentum gefunden und schloß sich, im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, auch nicht der revolutionären Bewegung an. Seine große Liebe galt der russischen Literatur. Er schrieb Lyrik in russischer Sprache und wurde u.a. von Gorki und Kuprin anerkannt. Die Pogrome der Jahre 1904 und 1905 bedeuteten für ihn ein rauhes Erwachen. Jabotinsky nahm aktiv an der Organisierung des jüdischen Selbstschutzes teil, übersetzte Bialiks Gedicht über das Massaker von Kischinew ins Russische und fuhr im Alter von zweiundzwanzig Jahren als Delegierter zum sechsten Zionistenkongreß, wo er — wie er später schrieb — von Herzl ungeheuer beeindruckt war. Innerhalb weniger Jahre wurde er zum Funktionär der zionistischen Bewegung. Jabotinsky hatte plötzlich nicht nur erkannt, daß die Juden in den Werken seiner geliebten russischen Schriftsteller in höchst ungünstigem Licht dargestellt waren; er fühlte auch, daß die Lage eines Juden, der den Ehrgeiz hatte, ein russischer Schriftsteller zu werden, in höchstem Maße problematisch war. Es ist etwas Unnatürliches und Würdeloses daran, schrieb er, wenn Juden eine führende Rolle bei den Zentenarfeier für einen Schriftsteller wie Gogol spielen, in dessen Erzählungen es von antisemitischen Bemerkungen nur so wimmelt.

Maximalisten gegen Minimalisten

Der Plan einer jüdischen Legion, die eine entscheidende Rolle in Jabotinskys Denken spielen sollte, entstand gegen Ende 1914, als er während seiner Tätigkeit als Kriegskorrespondent in Ägypten erfuhr, daß die türkischen Behörden hunderte junge Juden deportiert hatten. Er half bei der Aufstellung des aus jüdischen Soldaten bestehenden Mule Corps, das später bei Gallipoli zum Einsatz kam. Tatsächlich wurde im August 1917 in London die Bildung eines jüdischen Regiments („The Judaeans“) offiziell bekanntgegeben. Die Legion traf im März 1918 ın Palästina ein und spielte in der letzten Kriegsphase eine gewisse, wenn auch militärisch nicht sehr bedeutende Rolle. Seine Behauptung, die Balfour-Deklaration wäre zur Hälfte der Legion zu verdanken, war einfach unwahr. Jabotinsky schrieb über „Militarismus“: „Wir sollten uns von einem lateinischen Wort nicht abschrecken lassen.“ Es gebe zwei Arten von Militarismus: die eine sei agressiv und ziele auf territoriale Eroberungen ab, die andere sei die natürliche Verteidigung eines Volkes, das keine Heimat habe und von Ausrottung bedroht sei. Die Legion, in der Jabotinsky als Leutnant diente, wurde zu seinem Kummer nach Kriegsende demobilisiert.

Als zionistischer Funktionär kam er in Konflikt mit den „Minimalisten“ wegen „unserer eigenen Schüchternheit im Umgang“ mit der britischen Verwaltung. Jabotinskys Stellung in der zionistischen Bewegung wurde durch seine Gespräche mit Slawinsky, einem Minister in Petljuras ukrainischer Exilregierung, kompromittiert. Jabotinsky schlug vor, im Rahmen des Petljura-Regimes eine jüdische Gendarmerie aufzustellen, die die ukrainischen Juden vor Pogromen schützen sollte. Slawinsky war ein ukrainischer liberaler Intellektueller von ziemlich gutem Ruf, doch waren unter Petljuras Herrschaft Tausende Juden ermordet worden. Die Tatsache, daß Jabotinsky bereit war, wenn auch nur indirekt, mit jenem Mann zu verhandeln, der für diese Massaker verantwortlich war, rief in der jüdischen Welt einen Sturm der Entrüstung hervor. Der „Pakt“ war nicht nur in taktischer Hinsicht völlig verfehlt, sondern auch ohne jegliche praktische Bedeutung, da der Einmarsch in der Sowjetukraine, der von Polen her hätte erfolgen sollen, nicht stattfand und die ukrainische Exilregierung bald darauf zusammenbrach. Dieser Zwischenfall schadete Jabotinsky politisch, sein politisches Urteilsvermögen hatte versagt und er hatte sich auf eine politische Aktivität um ihrer selbst willen eingelassen — ein Vorgang, der sich in späteren Jahren wiederholen sollte. Seine Analyse der Schwächen der offiziellen zionistischen Politik war eindrucksvoll, wenn auch gewöhnlich etwas übertrieben. Aber er hatte keine Alternative anzubieten.

Jabotinskys Ausscheiden aus dem zionistischen Aktionskomitee wurde ohne Bedauern zur Kenntnis genommen. Seine Kollegen waren irritiert von seiner Neigung, politische Fragen zu dramatisieren, und wegen seiner häufigen Reden und Erklärungen, in denen er ihre Politik kritisierte. Die einzige wirkliche Alternative wäre eine Abkehr von Großbritannien und eine Hinwendung zu einer anderen Macht gewesen. Aber Jabotinsky, der später, in den dreißiger Jahren, mit dem Gedanken eines Bündnisses mit Warschau spielte, hätte es besser wissen müssen. Polen war keine reale Alternative zu Großbritannien. Den Gedanken, eine politische Partei zu gründen, faßte Jabotinsky gegen Ende 1923, auf einer Reise nach Lettland und Litauen. Riga wurde zum Geburtsort der revisionistischen Jugendbewegung Betar. Jabotinsky forderte nicht nur Palästina westlich des Jordans für die Juden, sondern „die allmähliche Umwandlung Palästinas (einschließlich Transjordaniens, das am Anfang Teil des britischen Mandats Palästina war) in ein souveränes Gemeinwesen unter den Auspizien einer etablierten jüdischen Mehrheit“. Zur Erreichung dieses Ziels schlug Jabotinsky eine jährliche Einwanderung von vierzigtausend Menschen über einen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren vor.

Vom Sozialismus zur Klassengemeinschaft

Jabotinsky hatte sich als Stundent für Volkswirtschaft interessiert und unter dem Einfluß seiner italienischen sozialistischen Lehrer 1906 geschrieben, Klassengegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern könnten nicht überwunden werden, daher sei die Nationalisierung der Produktionsmittel die einzige Lösung. Noch zwanzig Jahre später schrieb er in einer Erläuterung des revisionistischen Programms, der Klassenkampf in Palästina sei eine unvermeidliche, ja sogar gesunde Erscheinung. Schrittweise distanzierte sich Jabotinsky von seinen frühen Ansichten über Sozialismus und Verstaatlichung: Der Klassenkampf sei vielleicht in anderen Ländern gerechtfertigt, aber der Aufbau Palästinas befinde sich erst im Anfangsstadium und größere Klassenkämpfe würden irreparablen Schaden anrichten. Jabotinsky machte keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunısmus und schrieb, eine Verstaatlichung der Produktionsmittel würde zu einer Gesellschaftsordnung führen, in der es noch weniger Freiheit und Gleichheit geben würde als unter der gegenwärtigen Mandatsregierung. Obwohl Jabotinsky sich der Gefahren eines offen antisozialistischen Trends bewußt war und „Hitzköpfe“ in Privatgesprächen zurechtwies, distanzierte er sich nicht öffentlich von ihnen. Dies hatte zur Folge, daß der Revisionismus in zunehmendem Maße antisozialistische Züge annahm. Durch ihre Beteiligung am politischen Kampf wurden die Revisionisten als Gegner der organisierten Arbeiterschaft angesehen.

Betar

Die Jugendbewegung der Revisionisten, die Betar, war durch und durch militaristisch organisiert. Jabotinsky wollte durch Berufung auf Mythen — Blut und Eisen und das Königtum Israel (Malkut Israel) — einer verzweifelten Generation Hoffnung geben. Einer der wichtigsten Begriffe der Betar-Ideologie war „Hadar“. Dieses Erziehungsideal läßt sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen. Es umfaßt äußere Schönheit, Respekt, Selbstachtung, Höflichkeit und Treue ebenso wie Sauberkeit, Takt und beherrschtes Sprechen, kurz, es war das Ideal des Gentleman. Disziplin und die ganze Ideologie des „Siegens oder Sterbens“ verliehen der Betar eine gewisse Ähnlichkeit mit den faschistischen Jugendbewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre. Gerechterweise muß jedoch gesagt werden, daß Jabotinskys Vorbild die tschechische Organisation Sokol, eine demokratische Massenbewegung der nationalen Befreiung war.

Die politische Kultur Polens und die Revisionisten

In Polen entstand und entwickelte sich die revisionistische Bewegung zwischen den beiden Weltkriegen. Hier wurden die Kämpfe um eine Hegemonie in der zionistischen Bewegung geführt. Seitdem im Mai 1926 Marschall Pilsudski in Polen die Macht ergriffen hatte, identifizierten sich die Revisionisten mit Polen und seiner Geschichte. Am 2. September 1939, einen Tag nach der Naziinvasion, sandte W. Z. Jabotinsky, der Führer der Revisionisten, folgendes Telegramm an den polnischen Staatspräsidenten Ignacy Moscicki: „In name of a Movement which years ago was among the first to realise Poland’s mission as one of the world’s greatest powers and conceived the Providential Connection between the renaissance of Jewish Palestine state and triumph of Poland, I humbly call God’s blessing upon your country ...“ Ein paar Tage zuvor hatte Jabotinsky noch nicht geglaubt, daß ein großer Krieg ausbrechen könnte. Auch Menachem Begin, der treue Schüler Jabotinskys, war 1939, so wie andere Betar-Führer, der Meinung, die polnische Armee könne standhalten. In der Zwischenkriegszeit wurden die Juden in Polen benachteiligt und ausgegrenzt. Der politische Antisemitismus blühte. Polen, die große Hoffnung der Revisionisten, wurde zur historischen Bühne der größten Katastrophe des jüdischen Volkes. Freilich nicht alle polnischen Traditionen waren rückschrittlich, ethnozentrisch und nationalistisch. Im März 1848 wurde eine polnische Legion in Italien aufgestellt, die in ihrem politischen Manifest die Gleichberechigung und Gleichbehandlung der Juden forderte.

Die Revisionisten bewunderten Polen und identifizierten sich mit dem polnischen Geist. Sie scheuten nicht davor zurück, das polnische Modell zu kopieren. In der Zwischenkriegszeit gab es nicht nur eine verstärkte Assimilation einer Minderheit der Juden, sondern auch das Bestreben, durch Übernahme des polnischen Modells einen jüdischen Nationalstaat in Palästina aufzubauen. Die polnische romantische Atmosphäre beeinflußte die zionistische Bewegung, insbesondere deren revisionistischen Flügel. Dieser bewunderte den polnischen Militarismus und Heldenkult, dessen Geist der zionistischen Arbeiterbewegung fremd war, sie hatte nichts übrig für den Kult des „Zolniez“, des Soldaten, sie wollte auch nicht die Vergangenheit romantisch verklären.

Der polnische Nationalismus als Vorbild

Während die überwiegende Mehrheit der zionistischen Bewegung sich von der nationalen polnischen Ideologie — wegen deren Realitätsflucht und antisemitischem Charakter — distanzierte, gab es im revisionistischen Lager eine entgegengesetzte Richtung, sie sah im polnischen Nationalismus ein Vorbild und wollte es in jeder Weise nachahmen. Das ist natürlich ein Paradox. Der Revisionismus wollte die jüdische Kultur ausschließlich auf das uralte jüdische Kulturerbe aufbauen. Der Revisionismus betonte — genau wie der polnische Nationalismus — die Einmaligkeit der jüdischen Kultur. Hatte der polnische Nationalismus seine ganze Ideenwelt im sechzehnten Jahrhundert gefunden, so stützte sich der Revisionismus auf die Zeit des zweiten Tempels, d.h. die Zeit zwischen dem Hasmonäeraufstand und dem Krieg Bar Kochbas. Die Revisionisten lernten von der polnischen Nationalbewegung, daß man als Vorbild Helden braucht. Das militante Hebräertum der Revisionisten entwickelte sich nach polnischem Vorbild eines nationalen Heroismus und einer nationalen Eschatologie, die sich zwischen einem Pol der Verzweiflung und einem Pol der messianischen Erwartung bewegt; zwischen einer realistischen Politik und größenwahnsinnigen Träumen, die Jahrhunderte der Erniedrigung kompensieren sollen. Zwischen den historischen Erinnerungen an den Heroismus und das Märtyrertum und dem Gefühl der Machtlosigkeit entstand ein Sentimentalismus und ein Gefühl der nahenden Katastrophe. Die polnische Historiographie, Literatur und Erziehung verwurzelten den Kult des polnischen Militärs und den Kult des Führers und Helden. Dieser Kult, der in keinem Zusammenhang mit den wahren Verhältnissen stand, wurde zu einer Liturgie der pathetischen Rhetorik. Die revisionistische Intelligenz, die zum größten Teil aus polnischen Gymnasien und Universitäten kam, war von dieser Geisteshaltung besonders beeinflußt.

Der „prophetische Dichter“

Uri Zwi Grinberg, der ursprünglich in den Zeitungen der zionistischen Arbeiterbewegung geschrieben hatte, wechselte Ende der zwanziger Jahre zu der revisionistischen Presse und wurde zum „prophetischen Dichter“ der Revisionisten. Uri Zwi Grinberg begann seine Laufbahn mit Gedichten und Essays (erst auf Jiddisch, dann auf Hebräisch), in denen er die Pioniere verherrlichte; gelegentlich pries er auch Trotzki und Lenin. Die politische Kultur der zionistischen Arbeiterbewegung war vom Realismus geprägt, für einen „prophetischen Dichter“, der sich noch dazu als solchen deklarierte, hatte sie keinen Platz. Die revisionistischen Halbintellektuellen wurden von Uri Zwi Grinberg nicht überrascht. Sie kannten ja die „prophetischen Dichter“ Polens, A. Mickiewicz, J. Slowacki, Z. Krasinski, in deren Werken die polnische Nation als eine Nation ohne eigenes Territorium, als gekreuzigte Nation, die von mystischer Sehnsucht nach dem eigenen Boden verzehrt wird, eine Nation mit dem Bewußtsein, „messianisches Volk“ zu sein, das Sehnsucht nach seiner ruhmreichen Vergangenheit hat, gezeigt wird. Das sind auch die Motive der Dichtung von Uri Zwi Grinberg. Erst während der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurde Grinberg in der revisionistischen Bewegung wirklich anerkannt und da vor allem in den radikal-nationalistischen Gruppen. Zwischen den nationalen Träumen und Erwartungen und ihrer Verwirklichung in Palästina gab es einen Abgrund. Uri Zwi Grinberg sah in den drei erwähnten polnischen Dichtern, insbesondere in Mickiewicz, seine Vorbilder.

Der Führer-Staatsmann schafft die Nation

Wichtiger als der „prophetische Dichter“ war der Führer-Staatsmann, der die Nation schafft. Der Revisionismus fand sein Vorbild nicht unter den national-revolutionären Führern, ihr Vorbild wurde ein national-konservativer Führer, den sie sich als jemanden vorgestellt haben, der eine integrativ organisierte Nation aufbauen wollte, nach Generationen, die ohne politische Souveränität und ohne bestimmtes Territorium in innerer Unordnung gelebt hatten. Dieses Vorbild fanden die Revisionisten im polnischen Marschall Jozef Pilsudski, der schon zu Lebzeiten mit einem Heldenkult geehrt und von den Schülern Jabotinskys inhaltlich und im Stil nachgeahmt wurde. Pilsudski konnte als Vorbild einiges bieten, er war terroristischer Untergrundkämpfer, der später General der „Legionen“ wurde, nachher aber Präsident der Republik; er war ein sozialistischer Revolutionär, der sich zum chauvinistisch-konservativen Staatsmann entwickelt hatte. Ein Mensch der nicht nur für Polen „einen Platz unter der Sonne“ schaffen und das Land zum Teil des „Westens“ machen wollte, sondern in seiner Persönlichkeit auch wahre „Heimatliebe“ und ein „Leben für die Bedürfnisse der Nation“ verkörperte, so schilderte Jabotinsky den polnischen Staatsmann in einer Trauerfeier neben der großen Kathedrale in Krakau vor einer Ehrenwache der Betar und des Brith Hachajal, einem jüdischen Veteranenverein, der von Ben Gurion so charakterisiert wurde: „eine Menge Ignoranten, die meisten von ihnen ohne jede Verbindung zum Zionismus, nicht wenige von ihnen gehören der Unterwelt an, Diebe und Zuhälter.“

In einem Nachruf meinte Jabotinsky, Pilsudski wäre anderen Diktatoren vorzuziehen, denn dieser hätte bescheiden und ohne bombastische Erklärungen gewirkt. Pilsudski war eine Vaterfigur, ein Staatsmann, der einer Nation ohne Staat einen unabhängigen Staat schuf und diesem Staat, nach Generationen der inneren Spaltung, Stabilität verlieh. Als man Jabotinsky befragte, weshalb sich sein Verhältnis zu einer Selbständigkeit Polens, von einer Abgrenzung vor dem Ersten Weltkrieg bis zu dieser tiefen Bewunderung und das Gefühl einer historischen Gemeinsamkeit geändert hatte, gab er eine eindeutige Antwort: Polen sei — und als er dies 1937 sagte, hatte er damit Recht — eine Insel der politischen Freiheit für die Juden und ein Verbündeter des Zionismus. Er schilderte Pilsudski u.a. so:

In dieser schweren Stunde kam Pilsudski mit einer Gruppe seiner Schüler, er kam schweigend, ohne Rhetorik; es kam ein Mensch, der die Juden sicher nicht liebt, aber auch die Polen nicht, aber er liebt und dient der Ehrlichkeit. Und er rettete sein Land, er brachte die Ehrlichkeit zur Herrschaft und machte Ordnung. Wäre ich ein polnischer Jude, würde ich sagen: Die Anhänger Pilsudskis, seine treuen Schüler, sind für Euch die letzte Chance, ehrliche Verbündete zu finden. Ich fahre in der ganzen Welt herum und nirgendwo sehe ich passendere Verbündete, als in dieser Gruppe der Schüler Pilsudskis. Kein Zweifel, daß diese gegen das Geschrei der antisemitischen Demagogen eine faire Lösung der Judenfrage in Polen wünscht.

Jabotinsky schrieb im Jänner/Februar 1940 sein letztes Buch in London „The Jewish War-Front“, das im Juli 1940 herauskam. In diesem Buch schildert er die Judennot in Polen nicht als eine von einem organisierten und geplantem Antisemitismus kommende, sondern als Ergebnis einer objektiven ökonomischen Entwicklung, und deswegen sei die Lage so tragisch. Als er von der Möglichkeit sprach, daß „die Diaspora die Juden liquidieren“ könnte, meinte er natürlich nicht eine physische Vernichtung, einen Genozid, sondern den konstanten ökonomischen Druck, der die Juden Schritt für Schritt im Polen der Obristen ihrer Existenz beraubte, diese Entwicklung sei nicht gewollt — argumentierte Jabotinsky — sondern eine automatische.

In diesem Buch schildert Jabotinsky Pilsudski als einen rationalistischen, überlegten Staatsmann, der einige Grundübel des polnischen Charakters verbessern wollte, hauptsächlich kämpfte er gegen „die halbasiatischen Eigenschaften“ der „slawischen Seele“, die auch die „polnische Seele“ anstecken könnte. „Sein Polen hätte ordnungsliebend, sauber, pünktlich, vielseitig aktiv, fair, kurz: westlich sein sollen.“

Die Erben Pilsudskis, die Obristen, waren laut Jabotinsky nicht von Natur aus antisemitisch. Jabotinsky definiert die polnischen Antisemiten als „Huliganische Elemente“, die nur wenige sind in einer Gesellschaft, in der kein wahrer Haß gegen die Juden ist. Er schildert den religiös-kulturellen und den ökonomischen „objektiven“ Antisemitismus. Seine Politik stellt er als eine rationale Lösung dar, die auf dem gemeinsamen Interesse der polnischen Juden und dem Regime der polnischen Obristen gründet. Dieses Regime konnte den „objektiven“ Aufbau der Gesellschaft nicht ändern — auch wenn es diktatorische Vollmachten gehabt und wenn es dies auch versucht hätte. Hier rehabilitiert Jabotinsky Polen und argumentiert, daß der polnische Antisemitismus „natürlich“ und Ergebnis der deterministischen „objektiven Wirklichkeit“ sei und nicht Folge einer Hetze, einer tiefen religiösen Tradition und Propaganda.

Pilsudski war auch Vorbild als ein ehemals terroristischer Führer, der Kommandant einer regulären Armee der Legionen wurde. Diese Eigenschaft Pilsduskis wurde besonders von den radikalen Elementen der Betar und des Irgun (eine aus der revisionistischen Bewegung hervorgegangene Terrorgruppe) betont. Laut ihrer Version gab es keinen Widerspruch zwischen den terroristischen Aktivitäten und der Führung eines „Gdud Ivri“ (eines hebräischen Regiments). Hatte noch Jabotinsky Pilsudski als einen Staatsmann ohne Doktrin gelobt, so schöpften die radikalen Revisionisten ihre Slogans und allgemeine Regeln von den Sprüchen des polnischen Marschalls, die man ihrer Meinung nach gleichermaßen in Polen wie in Palästina verwirklichen konnte. Hier einige dieser Sprüche, die von den Revisionisten publiziert wurden und heute auch von der PLO akzeptiert werden könnten:

Das Blut, das heute vergossen wurde, das Leben, das heute ausgelöscht wurde, werden ihre segensreiche Früchte nur in der Zukunft geben. Doch sollten wir aufmerksam werden auf die Tatsache: Es gab kein politisches Ideal, kein System in der Welt, das man nicht von Anfang an negativ beurteilt hätte; und immer sehen wir gerade diese Richtungen, die am Anfang nicht zuviel Sympathie genossen hatten, als Sieger. Das war auch das Schicksal des bewaffneten Aufstandes. Heute wird es als Utopie eingeschätzt; dann kommt der bewaffnete Krieg und es geht vorbei, und nur dann erinnern sich diejenigen daran als Fakt — die noch heute diesen Slogan ablehnen.

Keine gesunde Gemeinschaft kann die Herrschaft der Verbrecher, die von einer Regierung unterstützt, oder die Herrschaft einer Regierung, die von Verbrechern unterstützt wird, erdulden, ohne Bereitschaft zu einem energischen Widerstand.

Desto früher wir uns Rechenschaft abgeben, daß aus der gegenwärtigen Lage es keinen anderen Ausweg gibt, als die bewaffnete Auseinandersetzung — umso besser für uns. Fast jeder Bewegung eines Volksaufstandes gingen Demonstrationen, kleine Zusammenstöße und Konflikte voraus, die gleichzeitig Resultat und auch Grund für die Schaffung einer besonderen Atmosphäre und Geisteshaltung sind; der einen Kreis der Bevölkerung, das von mal zu mal größer wird, für den Krieg vorbereitet.

Hat Jabotinsky die Shoa vorausgesehen?

Im Selbstbildnis der Revisionisten steht der „Evakuationsplan“ — der Plan, einen großen Teil der polnischen Juden nach Erez Israel zu evakuieren — im Mittelpunkt ihrer Geschichte. Danach war W. Z. Jabotinsky fast der einzige, der die Shoa, die die Juden von der Herrschaft der Nazis erwarten konnten, vorhersah. Und er allein kam heraus mit einem umfassenden und realistischen Plan zu einer geordneten und organisierten Evakuierung der jüdischen Massen nach Erez Israel. Während die Revisionisten Jabotinsky als einen realistischen und prophetischen Politiker schildern, der die Katastrophe vorausgesehen hat, werden seine politischen Gegner als Menschen geschildert, die es nicht verstanden haben, das Kommende zu erahnen, und die aus kleinlichen ideologischen Gründen sich gegen die Masseneinwanderung von Juden nach Erez Israel gewandt und eine selektive Einwanderung einer Elite bevorzugt hatten. Diese Gedankengänge charakterisieren die revisionistische Ideologie seit der Shoa. Immer wieder stellen sie sich als die wahren Zionisten dar.

Kein Zweifel, daß die revisionistischen Führer sich als die Vertreter der polnischen Juden sahen und in ihren Reden immer wieder auf eine kommende Katastrophe hinwiesen. Jedoch muß man unterscheiden zwischen einer Sensibilität für eine Krisensituation und einer operativen Lösung, zwischen einem „logischen Plan“ und einem Plan, der „praktisch und durchführbar“ ist.

Freilich sind nicht Jabotinsky und die Revisionisten verantwortlich für die Schwäche und das Unvermögen der Juden, die sich während der Shoa mit solch tragischen Folgen manifestiert haben.

Der Evakuationsplan hatte mit inneren Entwicklungen der revisionistischen Bewegung und mit ihrer Reaktion auf schicksalsschwere historische Ereignisse während der dreißiger Jahre zu tun. Viel mehr als die Machtergreifung der Nazis Anfang 1933, verstanden die Revisionisten den Tod Marschal Jozef Pilsudskis Anfang 1935 und die Machtergreifung seiner Erben als einen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Juden, insbesondere in Polen. Jabotinsky kam sehr bald zur Folgerung, daß die neue Macht nicht mehr fähig sein würde — wie es Pilsudski war —, den Antisemitismus einzubremsen. Die Judennot, die seiner Meinung nach von der demographischen Vermehrung der Juden kam, konnte nur durch eine organisierte Massenauswanderung erleichtert werden. Jabotinsky sah nicht im Antisemitismus den Grund für die schwere Lage der Juden im „polnischen Getto“ und machte einen Unterschied zwischen dem deutschen Antisemitismus „der Menschen“ und dem polnischen Antisemitismus „der Sachen“. Man kann nicht sagen, daß Jabotinsky Polen deswegen so falsch einschätzte, weil er es nicht sehr gekannt hätte. Die in Polen geborenen und aufgewachsenen Revisionisten verhielten sich ähnlich.

Eine Ausnahme bildet der revisionistische Dichter Uri Zwi Grinberg, der Polen als ein Land sah mit einem mörderischen und metaphysischen Haß gegen die Juden, das ihre totale Vernichtung wünscht.

Die Identifikation mit dem polnischen Nationalismus, die Absicht, sich mit diesem zu verbünden, machte die Revisionisten blind für die offensichtliche Erscheinung des polnischen Antisemitismus. Das war auch logisch, man konnte nicht seine potentiellen Verbündeten des Antisemitismus beschuldigen.

Der Evakuationsplan und die Realität

Die polnische Orientierung Jabotinskys hatte drei Gründe:

  1. Die wachsende Stärke der revisionistischen Bewegung in Polen und das Bedürfnis, eine Antwort zu geben auf die Not und die Bestrebungen der polnischen Juden.
  2. Die Annahme, daß es eine Interessengemeinschaft gäbe (und eine ideologische Annäherung) zwischen den polnischen Machthabern und dem Zionismus.
  3. Die Annahme, daß man einerseits die Judennot, andererseits die polnische Regierung bewegen könnte, Druck auf die britische Regierung auszuüben, damit diese eine jüdische Masseneinwanderung nach Erez Israel gestatte.

1937 veröffentlichte Jabotinsky sein Buch „Der hebräische Staat — Lösung der Judenfrage“ in dem er ausdrücklich schrieb: „Eine planmäßige und geordnete Einwanderungspolitik muß sich auf die Altersklasse der 23- bis 37jährigen konzentrieren. Diese kann eine pionierhafte Aufgabe erfüllen, wenn man sie bereits in der Diaspora vernünftig vorbereitet.“ Die Revisionisten machten einen Unterschied zwischen „irgendwelchen Juden“ („Jehudim stam“) die 700-800 Zloty für die Einwanderung zahlen mußten, und den Mitgliedern der Betar, die auch von einer anderen Stelle bevorzugt organisiert wurde.

Die Briten schränkten 1939 im Weißbuch die jüdische Einwanderung gerade dann ein, als die Judennot am größten war. Die britischen Entscheidungsträger waren natürlich von der Judennot nicht berührt, ihnen schwebte das Interesse des britischen Imperiums vor. Jabotinsky aber glaubte, man könne die britische öffentliche Meinung mit einem Appell an das humanitäre Gefühl dazu bringen, einen Druck auf die eigenen Regierung auszuüben. Das war genauso wenig realistisch wie die Hoffnung, daß ausgerechnet Polen oder andere europäische Staaten auf Großbritannien einen Druck ausüben könnten, um die Tore Palästinas der jüdischen Einwanderung zu öffnen.

Der Evakuationsplan Jabotinskys war also undurchführbar, denn es genügte nicht, daß die polnische Regierung die Juden abschieben wollte. Die britische Regierung hätte einverstanden sein müssen, doch eine revisionistische Petition konnte diese genauso wenig bewegen wie die Bemühungen der zionistischen Bewegung. Als 1937 der Plan aufkam, Palästina zu teilen, sprach sich die revisionistische Bewegung heftig dagegen aus. Die Revisionisten taten alles, damit der Teilungsplan nicht akzeptiert werde.

In einem Brief an Winston Churchill meinte Jabotinsky, daß im für den jüdischen Staat vorgesehenem Teil bereits jetzt 140 Einwohner auf 1 km2 vorhanden sind und man nicht mehr Menschen ansiedeln könne. Eine Ansicht, die von der Geschichte überholt wurde. Jabotinsky plante nicht eine sofortige Evakuierung, wie es noch Max Nordau 1920 vorgeschlagen hatte, der meinte, man müsse aus dem Rußland des Bürgerkriegs eine Million Juden ohne vorherige Vorbereitung nach Palästina bringen. Damals wandte sich Jabotinsky gegen diesen Plan, und 1937 befürwortete er die Einwanderung von einer Million Juden binnen zehn Jahren, d.h. es ging nur um die Abschöpfung des demographischen Wachstums der Juden. Jabotinsky meinte, die Auswanderung bedinge auch ein finanzielles Arrangement, das den Juden den Export ihres Vermögens ermöglicht. Dafür gab es aber keine Zustimmung der Auswanderungsländer.

Dieser Zehnjahresplan Jabotinksys beweist, daß er die Shoa nicht vorhergesehen hat, nicht vorhersehen konnte. Sicher hatte es Jabotinsky gut gemeint, als er die Juden Polens im Sommer 1939 aufrief, ihr Leben zu retten. Doch war dies ein rhetorischer Aufruf.

Die revisionistische Mythologie versucht den Abgrund zwischen der realen Lage und ihren Evakuierungsplänen durch historische Rhetorik pathetisch zu vertuschen. Jabotinsky hat den Zweiten Weltkrieg nicht vorhergesehen, im Gegenteil, er war überzeugt, daß Nazideutschland es nicht wagen würde, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Jabotinsky hat in der nazistischen Ideologie und Praxis nicht die Absicht bemerkt, die Juden massenhaft und systematisch zu vernichten. Als Jabotinsky sein letztes Buch im Juli 1940 veröffentlichte, sah er nicht die Vernichtung der polnischen Juden voraus. Das Naziregime analysierte er folgendermaßen: „Es gibt eine allgemeine aber dumme Neigung, die Fähigkeit Deutschlands zum Erstellen von Plänen zu übertreiben; die Menschen nehmen die klare und offene Tatsache nicht zur Kenntnis, daß sehr häufig, in den entscheidenden Zeiten, vor und während eines Krieges, die Naziregierung Aktivitäten unternahm ohne festen Plan, sei er politisch oder strategisch, und sie hat ihre Pläne tagtäglich geändert, sie lebt von der Hand in den Mund.“

Freilich, auch Ben Gurion und andere zionistische Führer haben die Lage der Juden Polens vor dem Zweiten Weltkrieg falsch eingeschätzt. Doch die revisionistische Mythologie hat nichts mit der realen Geschichte zu tun. Ihr geht es vor allem darum, den weltanschaulichen und politischen Gegner mit dieser Verleumdung zu de-legitimieren.

Nicht nur alle israelischen Gründungsväter und -mütter, einschließlich Ben Gurions, sowie die Hälfte aller Mitglieder der ersten Knesseth 1949 stammten aus Polen, sondern auch fast alle heutigen israelischen Führer sind polnischer Herkunft. In Polen, woher die meisten ihrer Mitglieder stammten, war die aus der revisionistischen Bewegung hervorgegangene Irgun (Irgun Zwai Leumi, abgekürzt Ezel) wohlorganisiert. Die rechtsgerichtete polnische Regierung versorgte sie mit Waffen und Übungsmöglichkeiten, denn sie stimmte mit dem Hauptziel der Organisation überein — der Massenauswanderung der polnischen Juden nach Palästina. Der aus Polen stammende Ministerpräsident Jitzchak Schamir: „Es war ein politisches Abkommen. Sie halfen uns aus antisemitischen Motiven. Wir sagten zu ihnen: ‚Wenn ihr die Juden loswerden wollt, müßt ihr der zionistischen Bewegung helfen‘.“ Schamirs ungerechte und verallgemeinernde Bemerkung, daß die Polen den Antisemitismus mit der Muttermilch einsaugen, wird verständlich, wenn man weiß, daß sein Vater, dem es gelang, aus einem Deportationszug zu flüchten, von seinen polnischen Freunden ermordet wurde.

Der polnische Komplex wirkt noch heute

Menachem Begin kam am 16. August 1913 in Brest-Litowsk, der heutigen sowjetischen Grenzstadt (zu Polen), zur Welt. Von seinem vierzehnten Lebensjahr an besuchte er eine staatliche polnische Schule und erwarb dort nach den Worten seines Biographen Eitan Haber „die würdevolle polnisch-aristokratische Etikette“. Aber schon in jungen Jahren beschloß er, sich hauptsächlich mit seinen jüdischen Ursprüngen und nicht mit Polen zu identifizieren. Begin reagierte scharf auf die antisemitischen Ausbrüche von Teilen der polnischen Bevölkerung: „Als ich Student war, zwang man uns, bei Vorlesungen auf der linken Seite des Raums zu sitzen. Antisemitische Studenten haben uns oft verprügelt. Aber wir waren keine verängstigten Juden, die sich mißhandeln ließen. Wir waren gewohnt, uns zu rächen. Ich erinnere mich an regelrechte Schlachten mit diesen Studenten. Wir waren stolze Juden, stolz auf unsere Tradition. Aber wenn wir das Studium abgeschlossen hatten, kannten wir keine Zukunft. Man ließ uns nicht als Rechtsanwälte zu, wir fanden keine Betätigung“.

Thomas L. Friedman beschreibt in seinem Buch „Von Beirut nach Jerusalem“, wie unheilvoll die polnische Vergangenheit im Nahen Osten wirkt: „Weil der israelische Ministerpräsident Menachem Begin den Libanon für ein primär christliches, von Moslems bedrohtes Land hielt, verglich er die Lage der Maroniten und anderer christlicher Sekten mit der der Juden. Immer wieder stellte Begin die Frage, warum die Christenheit der Welt nicht vehement gegen das ‚Abschlachten‘ ihrer libanesischen Glaubensbrüder durch die Moslems protestierte. Einer von Begins engsten Mitarbeitern sagte einmal zu mir: »Man muß sich stets vor Augen halten, daß Begin in einem katholischen Land aufgewachsen ist, nämlich in Polen. Als kleiner Junge wurde er von den Katholiken verfolgt. Er war geradezu vernarrt in die Idee, die Katholiken im Libanon retten zu können. Er wollte ihr heiliger Georg sein und gleichzeitig den Katholiken Europas seine Verachtung zeigen. Es sollte seine späte Rache sein. Die Maroniten wußten genau, wie sie Begin behandeln mußten. Sie erinnerten ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit an die Geschichte des Königs Hiram von Tyrus (einer südlibanesischen Hafenstadt), der nach der Bibel die Zedern für Salomos Tempel zur Verfügung gestellt hatte. Begin hörte sie immer wieder gern. So benebelt von der eigenen Mythologie war Menachem Begins Bewußtsein (und das seiner meisten Landsleute), daß ihm jeder Blick dafür fehlte, was für ‚Christen‘ er da im Libanon eigentlich retten wollte. Das war kein kapuzentragender Mönchsorden in einem belagerten Kloster, sondern eher ein moralisch verkommener, reicher und korrupter Haufen Mafia-ähnlicher Patrone, die Goldketten, starkes Eau de Cologne und gepanzerte Mercedeslimousinen bevorzugten. Sie waren Christen vom Schlage des ‚Paten‘. Angespornt von einer Mischung aus Furcht und Geiz, waren diese christlichen Bandenführer zu allem bereit, um die ihnen im Vertrag von 1943 eingeräumte politische Vormachtstellung zu bewahren — und dies, obwohl die Moslems in der Zwischenzeit eindeutig die Bevölkerungsmehrheit stellten.«“

Diese Benebelung von der eigenen Mythologie ist für die revisionistische Geisteshaltung charakteristisch.

Die Nachfolgepartei der Revisionisten wurde nach der Entstehung des Staates Israel die Cherut-Partei. Sie ist heute Kern der israelischen Likud-Koalition und hat insbesondere seit 1977, seitdem die Hegemonie der zionistischen Arbeiterparteien vom bürgerlichen Likud gebrochen wurde, eine große Rolle gespielt. Mancher Likud-Politiker ist noch von der polnischen Erbschaft geprägt. Die nächste Politgeneration Israels wird vermutlich davon frei sein.

Quellen: Walter Laqueur, Der Weg zum Staat Israel, Geschichte des Zionismus, Europaverlag Wien; Jakov Schawit, Hamitologia schel hajemin (Die Mythologie der zionistischen Rechten), Sifriat Emda, Sidrat Akademia.

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