FORVM, No. 114
Juni
1963

Ist Karl Kraus vorlesbar?

Helmut Qualtinger und „Die letzten Tage der Menschheit“

Dieser Helmut Qualtinger ist eine der vitalsten und originellsten Begabungen, die in der Zeit nach 1945 dem österreichischen Kulturboden entwachsen sind. Auch in den allmählich legendär gewordenen Jahren vor 1938, in der Hochblüte der damals so genannten „Kleinkunst“ (welche ja ursprünglich die seine war), hatten wir nichts dergleichen, ich weiß es aus eigener, wacher Erinnerung. Und ich halte mir einiges darauf zugute, daß ich sein Talent und seine Originalität verhältnismäßig früh erkannt und ihn mit Superlativen bedacht habe, als sie ihm noch nicht so selbstverständlich waren wie heute. Ich bin ein Qualtinger-Fan und gedenke es zu bleiben. Deshalb finde ich ja auch, daß er’s nicht notwendig hat, mit jenen betulichen Glacéhandschuhen angefaßt zu werden, wie man sie hierzulande für die emeritierten Theater- und Literaturbeamten, denen man auf ihre alten Tage nichts mehr Unangenehmes sagen will, in Bereitschaft hält. Dazu ist Helmut Qualtinger zu jung und dazu kann er zu viel. Aber mit der Vorlesung aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ hat er sich übernommen. Das kann er nicht.

Dabei kann er’s wahrscheinlich besser als irgendein andrer. Wahrscheinlich ist er sogar besser geeignet, Karl Kraus vorzulesen, als das Burgtheater geeignet ist, Karl Kraus zu spielen. Allerdings halte ich die „Letzten Tage der Menschheit“ überhaupt für unspielbar (und weiß mich damit in Übereinstimmung mit einer Reihe namhafter Experten, zum Beispiel mit Karl Kraus). Hingegen war ich der Meinung oder doch der Hoffnung, daß die „Letzten Tage der Menschheit“ vorlesbar seien, durch einen einzelnen vom Podium herunter vorlesbar. Seit ich Helmut Qualtinger im ausverkauften Theater an der Wien vor einem enthusiasmierten Publikum aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ vorlesen hörte, habe ich diese Hoffnung begraben. Denn wenn’s der Qualtinger nicht kann, dann kann’s keiner.

Aber warum kann’s der Qualtinger nicht?

Man wird gut tun, sich eine Erkenntnis zu vergegenwärtigen, die von der stürmischen Karl-Kraus-Renaissance des letzten Jahrzehnts an einen falschen Ort und (wie so vieles andre) in einen windschiefen Zusammenhang geweht wurde: daß nämlich Karl Kraus eine ganz und gar einmalige Erscheinung war. Damit will ein kategorisches Urteil abgegeben sein, kein qualitatives. Auch wenn die Qualität Karl Kraus geringer wäre, als sie es ist: die Kategorie Karl Kraus bliebe mit dem ganzen unerbittlichen Anspruch ihrer Einmaligkeit bestehen. Niemand außer Karl Kraus konnte diesem Anspruch gerecht werden. Es war ein von ihm geschaffener und nur von ihm erfüllter, nur von ihm erfüllbarer Anspruch. Die einmalige Einheit von Werk und Person, auf die er sich stützte (und die von Heinrich Fischer rechtens immer wieder hervorgehoben wird), obwaltete auch innerhalb des Werkes selbst, umschloß die Wortschöpfung so gut wie ihre Wiedergabe, war zugleich eine Einheit von Werk und Vortrag.

Damit kein Irrtum entsteht: die Art, wie Karl Kraus von Karl Kraus gelesen wurde, soll hier nicht etwa in Vergleich gesetzt werden zu der Art, wie Karl Kraus von Helmut Qualtinger gelesen wird. Ein solcher Vergleich, selbst wenn er statthaft oder sinnvoll wäre, fiele oft genug — und jedenfalls öfter, als der verbliebene Rest einer orthodoxen Kraus-Anhängerschaft es würde wahrhaben wollen — zugunsten Helmut Qualtingers aus, der ganz einfach der voluminösere Schauspieler ist, der gewitztere Dialektebeherrscher, der gewiegtere Kabarettist. Denn natürlich hat auch Karl Kraus mit kabarettistischen Pointen gearbeitet, und nicht einmal immer mit den kostspieligsten. Aber noch die billigsten wurden als Kehrseite einer Kostspieligkeit erkennbar, waren eingewoben in die Totalität seines Werks und nur aus dessen Einheit und Einheitlichkeit zu verstehen. So daß der Vergleich gerade dort, wo er am klarsten zu Qualtingers Gunsten ausfiele, das Mißverständnis und das Mißverhältnis zugleich am krassesten offenbart: weil es unstatthaft und sinnlos ist, seine Anlässe zu vereinzeln, weil die von Karl Kraus gesetzten Pointen erst durch ihre Kehrseiten zu voller Gültigkeit gelangen, die von Karl Kraus angestrebten Wirkungen erst in der einheitlichen Balance zu vollem Gewicht. Gerade bei Karl Kraus kann Sprache ohne Ent-Sprechung nicht stattfinden.

Und gerade das ist es, wo sie bei Helmut Qualtinger zu kurz kommt, zu kurz kommen muß. Daß Helmut Qualtinger seinerseits jener Einheit und Einheitlichkeit enträt, verschlüge noch nichts (und dafür mag er sich’s im Produktiven wie im Reproduktiven an seiner Vielseitigkeit genügen lassen). Es liegt vielmehr an dem, daß er aus seiner heutigen Haut nicht heraus kann, daß er mit dem ganzen Mißtrauen seiner Generation dem Pathos abhold ist, jeglichem Pathos, auch dem echten. Er weiß vielleicht gar nicht oder glaubt nicht daran, daß es so etwas wie „echtes Pathos“ gibt oder so etwas wie „heiligen Zorn“ (der nicht mit Bösartigkeit verwechselt werde). Und weiß er’s vielleicht, so hält er’s nicht für seine Sache, sich darauf einzulassen.

Karl Kraus aber ist ohne sein Pathos und ohne seinen heiligen Zorn nicht zu denken, geschweige denn zu vermitteln. Pathos und heiliger Zorn lassen sich aus seinem Werk nicht ausklammern. Am allerwenigsten aus den „Letzten Tagen der Menschheit“.

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