FORVM, No. 478/479
November
1993

Jazz auf der Flucht vor sich selbst

Improvisierte Musik zwischen „street credibility“, Historismus und Esoterik

„Petersilien-Free-Jazz“, sagte meine Freundin.

„Wie bitte?“ Die Stilrichtung war mir neu.

„Petersilien-Free-Jazz“, erläuterte sie, „Free Jazz als Dekoration, wie die Petersilie auf den Kartoffeln, und darunter herrscht doch nur die Diktatur des unerbittlich stampfenden Groove“.

„Petersilien-Free-Jazz“ — Das saloppe Etikett war auf eine kürzlich erschienene CD mit dem Titel „Expo’s Jazz & Joy“ gemünzt, auf der sich die Free-Jazz-Veteranen Peter Brötzmann und Peter Kowald und die improvisierende Vokalistin Sainkho Namtchylak mit einer deutschen HipHop-Crew namens „Exponential Enjoyment“ zusammengetan haben, die mit unüberhörbarem Ruhrpott-Akzent ihre englischsprachige Message verkündet. „Petersilien-Free-Jazz“ — was sich derzeit im Spannungsfeld von Jazz, improvised music, Rock-Underground und Hip Hop ereignet, gibt aber nicht allein Anlaß zu originellen Wortschöpfungen, sondern auch zu kritischer Reflexion. „Jazz & Joy“, der Name des erwähnten Free-Jazz-meets-HipHop-Projekts, bringt es auf den Punkt: Jazz an sich wird offenbar mittlerweile gemeinhin als ein freudloses, intellektuelles Artefakt betrachtet, dem erst in Form von Hip-Hop-Grooves die nötigen Joy-Quanten hinzugefügt werden müssen. Jazz ohne Joy ist jedenfalls eindeutig out. Wer Jazz ohne Joy propagiert — ohne stimulierende Dancefloor-, Hip-Hop-, Hardcore- oder Ethno-Additive, ist, so wird ihm mit einem Lieblingsbegriff der gegenwärtigen Musikpresse bedeutet, ein unverbesserlicher „Purist“, und daß dies kein Kompliment ist, wird ihm ebenso klar vermittelt — ist doch „Purismus“ gemäß dieser Sprachregelung gleichbedeutend mit Kleinkariertheit, Akademismus, Intellektualität, Lustfeindlichkeit und moralinsaurem Reinheitsgebaren.

Also dann doch lieber Jazz mit Joy.

Das unerwartete Fusion-Revival mit neuen Erfolgen für Jazzrock-Dinosaurier wie die Brecker Brothers oder „Steps Ahead“, die Dancefloor-Jazz-Welle, bei der die kids sogar zu Pharoah Sanders tanzen, der Flirt junger amerikanischer Musiker wie Gary Thomas, Steve Coleman oder Greg Osby mit dem Vokabular des Hip Hop, die Liebeserklärung John Zorns an Hardcore-Zelebritäten wie „Napalm Death“ oder „Carcass“ — all das spricht eine deutliche Sprache.

Daß sich Jazzmusiker mit den aktuellen Formen populärer Musik auseinandersetzen, ist an sich weder neu noch besonders überraschend — ganz gleich, ob diese Auseinandersetzung nun vorwiegend aus ästhetischen oder aus ökonomischen Motiven geschieht. Überraschend aber ist die defensive Pose, mit der sich viele Musiker, die man ob ihres musikalischen Hintergrunds und ihrer Spielhaltung doch umstandslos als Jazzer zu bezeichnen können glaubte, gegenwärtig von eben diesen musikalischen Wurzeln distanzieren und in vorauseilendem Gehorsam den Zeitgeist-Diktatoren beipflichten, die auf die Nennung des Begriffs „Jazz“ so allergisch reagieren wie einst Joseph Goebbels auf die sechs Buchstaben „Kultur“. Drei Beispiele von vielen: Er höre vorwiegend Hip Hop, verkündete unlängst der Schweizer Saxophonist und Klarinettist Hans Koch in einem Interview. Jazz sei langweilig geworden, Hip Hop aber inspiriere ihn. Beispiel 2: Nein, dies sei mitnichten eine Jazzplatte, insistierte der Saxophonist Tim Berne, ein Schüler des „World Saxophone Quartet“-Mitbegründers Julius Hemphill, anläßlich der CD „I can’t put my finger on it“ seines Improvisationstrios „Miniature“ (mit Hank Roberts und Joey Baron) — und auch die Plattenfirma bemühte sich nach Kräften, die Veröffentlichung, in angestrengtem Kontrast zu ihrem klingenden Inhalt, akustisch und optisch so zu gestalten, daß bloß keine Jazzassoziationen wach werden: Aufgenommen wurde die Platte von einem Toningenieur, der sonst Pop-Ikonen wie „Sonic Youth“, Whitney Houston oder „Kraftwerk“ betreut, und das CD-Cover wurde nicht etwa mit den üblichen faden Musikerportraits dekoriert, sondern mit einer grellen Collage, die mit ihrer Zusammenstellung von Bildern roher Innereien, abgehackter Schweinefüße, angenagter Knochen, mit Kunstblut begossener Extremitäten und wirrer Textfetzen, die Reizthemen wie Sex, Gewalt, Rassismus, Faschismus anreißen, einen Nimbus von Radikalität und Aktualität konstruiert, den man der Musik allein offenbar nicht zutraut. Beispiel 3: In einem Radio-Interview im Norddeutschen Rundfunk beteuerte unlängst Dirk Raulf, Mitglied des Kölner Quartetts „Tome XX“, seine Gruppe, zu der renommierte Größen der Kölner Jazzszene wie Dieter Manderscheid, Thomas Heberer und Fritz Wittek zählen, spiele alles Mögliche, doch jedenfalls keinen Jazz. Viel näher stünde die Musik in ihrer Konzentration auf knappe Strukturen und ausgefeiltes Sound-Design der Ästhetik der aktuellen Pop-Musik. Als der ungläubige Interviewer einwandte, alle vier Musiker der Gruppe hätten doch einen soliden Jazz-Background, und Klangvorstellung und spontaner Gestus des Jazz seien auch in der Musik von „Tome XX“ nicht zu überhören, räumte Raulf ein: Das möge schon so sein, doch wenn man der angepeilten Zielgruppe, dem jungen Publikum, erzählen würde, daß man Jazz spielte, würde es gleich wegbleiben, da es Jazz mit pfeiferauchenden Studienräten und endlosen Langeweiler-Soli assoziiere.

Aha. Man spielt also Jazz, darf’s eben nur nicht so nennen — zum verbalen Code aktueller improvisierter Musik gehört das Jazz-Tabu. Man könnte es Etikettenschwindel nennen, oder Selbstverleugnung: Jazzmusiker auf der Flucht vor dem Jazz, einem Begriff, dessen Konnotationen nicht zeit-geist-konform sind, nicht den gewünschten radical chic vermitteln, Jazz auf der Flucht vor sich selbst. On the edge — dieses vielgebrauchte Motto, das für Radikalität und ästhetisches Risikoverhalten steht, wird zum kategorischen Imperativ, der den Musiker, der nicht als Jazz-Opa belächelt werden will, zu neuen, ungewohnten Allianzen zwingt — sei’s nun mit Hip Hop oder, wie im Falle John Zorns, mit Hardcore. Was als Offenheit für aktuelle Tendenzen und Befreiungsschlag gegen das eigene, museal erstarrte Image begrüßt werden kann, hat allerdings oft eine künstlerische Kehrseite, wie der englische Gitarrist Derek Bailey in der jüngst erschienenen Neuausgabe seines Buch-Klassikers „Improvisation — its nature and practice in music“ diagnostizierte:

Es gibt jetzt zweifellos eine ganze Anzahl improvisierender Virtuosen, die an den Rändern des einen oder anderen etablierten Musikmarkts operieren, und besonders US-amerikanische Improvisatoren haben zur Attacke auf die Randgebiete der Rockmusik geblasen; aber in fast allen Fällen, in denen eine Art mühsamer Allianz mit der größeren Musikwelt erreicht worden ist, beläuft sich die Funktion des Improvisators auf wenig mehr als periphere Dekoration, die, wenn überhaupt, ob ihres Neuheitswerts akzeptiert wird.

Was man eben auch auf die Formel „Petersilien-Free-Jazz“ bringen kann.

Nun wäre es ebenso einfach wie ungerecht, die Fluchtreaktionen von Jazzmusikern vor dem Jazz allein ökonomisch zu interpretieren — auch wenn ökonomische Faktoren in einem finanziell so unwegsamen Terrain wie dem improvisierter Musik kaum außer acht gelassen werden dürfen. Die öffentliche Selbstverleugnung von Jazzmusikern hat, so denke ich, zwei tieferliegende Motive, die man auf die Schlagworte „Sehnsucht nach street credibiliry“ und „Flucht vor der Vergangenheit“ bringen kann.

Street Credibility

„Street Credibility“ — eine Musik, die den Leuten auf der Straße eine direkte Botschaft vermittelt, die nicht der vielfachen Vermittlungs-Mechanismen bedarf, die der Begriff „Kunst“ mit seinem ungeliebten assoziativen Ballast von Elitarismus und Bildungsbürgertum impliziert, eine Musik, die aktuelle politische Fragen direkt und schnörkellos artikuliert, eine Musik, die als Gegenmedium zu den etablierten Kommunikationskanälen funktioniert — all das leistet die schwarze Hip-Hop-Ghetto-Kultur, und genau dies erklärt ihre Faszination auf jene Jazzmusiker, die befreite Musik nicht nur als innermusikalische Entwicklung, sondern als Politikum interpretieren. Kann es da verwundern, daß einer wie Peter Brötzmann, der heftig gegen die Verkunstung der improvisierten Musik, gegen die Einbindung des Free Jazz in „diese ganzen Kunst-Überlegungen, diese ganze intellektuelle Scheiße“ polemisiert, Hip Hop und Hardcore als Medium entdeckt, um aus der Esoterik der improvised music-Zirkel auszubrechen? In Brötzmanns Worten: „Es ist wichtig, da unten zu bleiben, für die da unten zu spielen.“

„Für die da unten spielen“ — das ist offenbar auch die Motivation eines Musikers wie Gary Thomas, der seine raffinierten Rhythmus-Konstruktionen auf der CD „The Kold Kage“ mit Rap-Statements überlagerte, in denen vor (weißen) „Kulture Bandits“ gewarnt wird und den (schwarzen) Brüdern einmal mehr erklärt wird: „We’ve been robbed of our true black history“. Oder seines Saxophonisten-Kollegen Greg Osby, der sich auf seiner neuesten CD „3-D-Lifestyles“ gleich mit einer ganzen Phalanx von Rappern umgibt, deren „totally unadulterated, raw, street-level, cold-blooded hip-hop“ (um Osbys Charakteristik zu zitieren) dazu führte, daß die Platte den warnenden (und doch wohl eher verkaufsfördernden) „Parental Advisory — Explicit Lyrics“-Aufkleber trägt. „Street Jazz“ nennt Osby dann auch seine Mixtur, für die als Koproduzenten Mitglieder der erfolgreichen Hip-Hop-Acts „Public Enemy“ und „A Tribe Called Quest“ verantwortlich zeichnen. Daß die knallharte Message weniger die vermeintlichen Brüder in der Bronx oder in Watts als weiße amerikanische College-Gänger und europäische Mittelklasse-Jugendliche erreicht, an diesem Widerspruch hat bereits vor zwanzig Jahren ein politisch engagierter Musiker wie Archie Shepp laboriert. „Jazz and hip-hop — underground music from the same source“, läßt Osby seine rappenden soul brothers verkünden — wohl wahr, aber seit Jazz eine „underground music“ war, ist doch viel Wasser aus dieser Quelle geflossen. Mag sein, daß Jazz und Hip Hip Musiken sind, die sozialgeschichtlich zusammengehören — daß sie deswegen schmerzlos zusammenwachsen werden, ist doch einigermaßen unwahrscheinlich. So bleibt „street jazz“ einstweilen eher ein frommer Wunsch als eine soziale Realität. Auch Bill Clinton spielt ja Saxophon und läßt sich mit einer Baseballmütze mit dem Malcolm-X-Symbol ablichten ...

Und ohne das Bestreben von Musikern wie Thomas und Osby, die eingefahrenen Nebengleise der Jazz-Kommunikationswege zu verlassen, diskreditieren zu wollen: daß es im Zeitalter einer kommerziell aufbereiteten Malcolm-X-Renaissance mit der wahrhaften street credibility von Jazzmusikern nicht immer allzuweit her ist, ist unübersehbar. Das hat selbst ein Musiker vom Format David Murrays unlängst in einem Interview unumwunden (und vielleicht unfreiwillig) zugegeben. Murray schilderte dabei die Entstehung seines neuen Albums „MX“ und die Zusammenarbeit mit dem Produzenten Bob Thiele.

Bob will immer einen Aufhänger für eine Platte. Ich war erst neulich mit ihm im Studio, und der Aufhänger war diesmal, die Musik Malcolm X zu widmen, sozusagen in Begleitung zu Spike Lees Film. Das ist ein typischer Aufhänger für Bob. Bob kam zu mir und erzählte eine Geschichte: ‚Ich ging den Broadway ’runter und sah ein riesiges M und einen Schmetterling und ich wußte sofort — Madame Butterfly! Das ist wirklich clever. Spikes Film wird einfach X heißen, warum nennen wir das Album nicht einfach MX? Das ist doch eine tolle Idee. Denk’ doch mal darüber nach, David.‘ Ich sagte: ‚Bob, haha, das ist lächerlich, aber wenn du darauf bestehst — du bist der Produzent.‘

„Das ist lächerlich“ — in der Tat. Aber das wahrhaft Lächerliche ist, daß Murray ungeachtet dieser Einsicht bei Bob Thieles pseudopolitischem Public-Relations-Spielchen mitspielte — Politisierung als Dekor, Bekenntnis zu Malcolm X als Modefarbe, street credibility als Verkaufstrick.

Flucht vor der Vergangenheit

In der gegenwärtigen Jazzszene ist die Vergangenheit stärker präsent denn je zuvor. In einer Ära gigantischer CD-Reissue-Programme wird die improvisierte Musik von heute von ihrer übermächtigen Historie regelrecht erdrückt. Noch die entlegensten Aufnahmen früherer Jazz-Epochen feiern ihre Wiederauferstehung und treten nicht nur kommerziell, sondern auch als ästhetische Meßlatte in Konkurrenz zu dem, was gegenwärtig entsteht. Devot verneigen sich die Jazzer von heute vor den Vorvätern und zollen Tribut — die Flut musikalischer Hommagen an Ellington oder Monk, an Mingus, Armstrong oder Jelly Roll Morton, eben an die afroamerikanischen „Klassiker“, bezeugt es. So wird die Jazz-Tradition zu einer Instanz von solchem Gewicht, wie es die Schöpfer dieser Tradition kaum im Sinn gehabt haben dürften. Aus Jazz, einem zugegeben problematischen Begriff, den schon Duke Ellington kritisierte, wurde ein noch fragwürdigerer: black classical music. In den bissigen, aber nicht unbegründeten Worten Derek Baileys:

In den letzten Jahren hat es eine Bewegung hin zu einer neuen Auffassung von Jazz als black classical music gegeben. [...] In mancher Hinsicht scheint dies eine angemessene Reaktion zu sein, da doch der Jazz immer mehr die Posen und die Haltungen weißer klassischer Musik annimmt, immer mehr zu einer verfestigten Musik wird, die selbstbewußt auf einem Gefüge von Werten insistiert, mit denen sie nicht nur sich selbst, sondern auch alles um sich herum beurteilen kann. Immer stärker legt der Jazz eine Obsession mit seiner eigenen Vergangenheit an den Tag und ein Bestreben, seine Praxis und seine Vergangenheit in Konservatorien und Museen zu institutionalisieren. Es gibt den Wunsch, der Welt eine respektable ‚offizielle‘ Fassade zu präsentieren, die von einer Phalanx von Akademikern und Propagandisten gestützt wird, eine Autorität als Gegengewicht zur institutionellen und akademischen Autorität weißer klassischer Musik. Dies sind merkwürdige Ambitionen in einer Musik, die einst die leere Albernheit all dieser Dinge bloßlegte.

Nur ein arrogantes Statement aus dem Munde eines weißen Musikers, eines zudem, den man zu den von Bert Noglik so treffend apostrophierten „Jazz-Dissidenten“ zählen muß? So grundlegend anders klingt es nicht, was etwa Archie Shepp unlängst in einem Interview zum gleichen Thema sagte:

Die Tradition der Black Music ist mit Coltrane zu Ende gegangen. Heute ist ‚Black‘ und ‚Jazz‘ doch nur noch ein Markenzeichen, wie Kleenex und Pall Mall, und hat nichts mehr mit der afro-amerikanischen Instrumentaltradition zwischen 1917 und 1967 zu tun. Was heute läuft, ist aus meiner Sicht lediglich retrospektiv, neoklassisch und bourgeois. Haufenweise Leute, die spielen wie Joe Henderson oder Miles Davis.

Oder, in den Worten Joe Hendersons:

Die Leute von damals, die Bebop-Musiker, haben die heutigen Musiker beeinflußt. Aber die jungen Spieler von heute haben dem nichts hinzugefügt, was schon in den Sechzigern entwickelt wurde. Es scheint ihnen zu genügen, Clones einer früheren Ära zu sein. Und das ist bedauerlich. Die jungen Musiker scheinen damit zufrieden zu sein, daß ihre Platten in den Läden direkt neben den reissues stehen: die gleichen Stücke, die gleichen Töne, die gleichen Arrangements. Nur das Format hat sich geändert: digital statt analog.

Die Jazz-Tradition als übermächtige Instanz, ein neuer Akademismus der jungen Anzugträger, die das gesicherte Terrain der black classical music bewachen und den Free Jazz als historischen Irrtum ausgemustert haben: Ein Szenario, das zweifellos dazu beigetragen hat, manche Jazzmusiker zur Flucht nach vorn, zur Flucht vor dem Jazz, oder zu seiner Rettung durch Zertrümmerung seiner von den Neokonservativen errichteten Gefängnismauern, zu veranlassen. In der kurzen und bündigen Formulierung von Greg Osby:

Jazz hat nichts damit zu tun, einen Armani-Anzug zu tragen und die Musik von anderen wiederzukäuen, als habe man sie selbst erfunden.

Aber womit hat Jazz dann zu tun? Was ist vom Begriff Jazz geblieben, der an den Rändern längst so ausgefranst ist, daß ein Kern kaum noch erkennbar ist, ausgefranst hin zu sogenannter Weltmusik, zu Rock, Hip Hop, Funk, improvised music? Ebenso diffus wie sein musikalisches Wesen scheint gegenwärtig sein sozialer Status zu sein, ein Status, der sich in der Pluralität der Aufführungskontexte — vom Konzertsaal zum Dancefloor-Jazz-Event, vom Jazzclub zum Neue-Musik-Festival — ebenso widerspiegelt wie in den nichtendenwollenden Debatten über seine Bewertung seitens der Urheberrechtsgesellschaften. Noch immer scheinen viele auf den Jazz-Messias zu warten, die große Identifikationsfigur, die der neuen Unübersichtlichkeit nach dem Tod seines letzten großen Propheten Coltrane ein Ende bereitet, die den Trend der Dekade formuliert, den Hauptstrom definiert, der alles andere zu insignifikanten Nebenflüßchen degradiert, und in dieser Heilserwartung wird jeder beliebige talentierte Newcomer zum Hoffnungsträger stigmatisiert — gestern Wynton Marsalis, heute Joshua Redman.

So verständlich solche Reaktionen sind, so vergeblich sind sie doch. Denn sie verkennen, daß im Jazz (im weitesten Sinn) ein unausgesprochener Konsens unwiederherstellbar zerbrochen ist, der einst die Rede von einer Musik namens Jazz überhaupt legitimiert: Der Konsens einer „doppelt kodierten“ Musik, der die prekäre Balance zwischen Kunst und Entertainment gelang. „Doppelt kodierte Musik“? Was zunächst kryptisch klingen mag, wird deutlicher, wenn man den Architekten Charles Jencks, den Schöpfer des Begriffs der ästhetischen Doppelkodierung, zu Wort kommen läßt. Jencks schrieb in seinem Buch „Die Sprache der postmodernen Architektur“:

Ein postmodernes Gebäude spricht, um eine kurze Definition zu geben, zumindest zwei Bevölkerungsschichten gleichzeitig an: Architekten und eine engagierte Minderheit, die sich um spezifisch architektonische Probleme kümmern, sowie die breite Öffentlichkeit oder die Bewohner am Ort, die sich mit Fragen des Komforts, der traditionellen Bauweise und ihrer Art zu leben befassen. So wirkt die postmoderne Architektur zwitterhaft und, um eine visuelle Definition zu geben, wie die Front eines klassischen griechischen Tempels. Dieser ist eine geometrische Architektur mit elegant kannelierten Säulen unten und einer unruhigen Tafel mit kämpfenden Giganten darüber, einem in leuchtend roten und blauen Farben bemalten Giebel. Architekten können die darin enthaltenen Metaphern und die subtile Bedeutung der Säulentrommeln ablesen, während das Publikum die expliziten Metaphern und Aussagen des Bildhauers erfaßt. Natürlich erfaßt jeder etwas von beiden Bedeutungscodes, ebenso wie bei einem postmodernen Gebäude, aber sicher mit unterschiedlicher Intensität und Erkenntnisfähigkeit. Diese Diskontinuität der Geschmackskulturen ist es, die sowohl die theoretische Basis als auch die ‚Doppelkodierung‘ der Postmoderne erzeugt.

Was Jencks als Fundamentalkriterium der architektonischen Postmoderne herausarbeitet, war im Jazz gerade in seinen älteren Erscheinungsformen gegeben: die Doppelkodierung von expliziter und impliziter Botschaft, die Realität einer Musik, die einerseits Musiker und eine Minderheit von Jazz-Kennern und andererseits jene Mehrheit befriedigte, die Musik in erster Linie als motorisches oder emotionales Stimulans verwendet. So funktionierte eine Big-Band-Partitur Ellingtons für die einen durch die rhythmische Komponente als Tanzmusik, während die Kenner des Dukes raffinierte Koloristik oder die Individualität seiner Solisten bewundern mochten. Nicht von ungefähr sprach Lennie Tristano, der Cool-Jazz-Avantgardist, der doch zeitlebens den 32-taktigen Rastern der Broadway-Melodien treu blieb, von der Song-Form als seinem „Bindeglied zum Publikum“: Während die Bindung an die gängigen Acht-Takt-Perioden und die vertrauten Harmonieschemata der standards sowie die Beibehaltung einer konventionellen Rhythmusgruppe seiner Musik noch ein Mindestmaß an Allgemeinverständlichkeit sicherten, konnten sich die Aficionados an Tristanos raffinierten motivischen, harmonischen und rhythmischen Verwirrspielen innerhalb dieses traditionellen Kontextes delektieren. Kurz: Für die einen war es (noch) Musik, für die anderen Meta-Musik. Eben dies machte den Zwittercharakter des Jazz aus, einen Zwittercharakter, der ihm sowohl eine gewisse Breitenwirkung als auch das Potential innermusikalischer Innovation sicherte: Seine „sportliche“ Komponente — Motorik und demonstrative Virtuosität — teilte sich noch dem Unbedarftesten mit, während simultan ein zweiter, dem musikalisch Eingeweihten zugänglicher Code motivischer, harmonischer, rhythmischer, zitatorisch-konnotativer Botschaften transportiert wurde. Noch in der Anfangsphase des Free Jazz funktionierte diese Doppelkodierung, wenn auch unter veränderten Vorzeichen: Die Kenner waren in der Lage, den Paradigmenwechsel Taylors, Colemans, Aylers immanent musikalisch, als quasi logische Entwicklungsschritte im musikalischen Material zu deuten; die anderen konnten die emanzipierte Musik zwar nicht den Unterhaltungsfunktionen zuführen, zu denen Jazz bis dahin mehr oder weniger leidlich taugte, aber wenigstens ihren Gestus im Kontext politischer Emanzipationsbewegungen soziologisch entschlüsseln: „Free Jazz — Black Power“, um es auf die eingängige Formel eines Buchs aus den frühen siebziger Jahren zu bringen.

Doch die Zeit solcher einfacher soziomusikalischer Gleichungen ist passé. Damit stellen sich dem Jazzmusiker zwei Alternativen: Bekenntnis zum Kunstcharakter seiner Musik, zum artifiziellen Code (und damit auch zu einem notgedrungen elitären Charakter) einer improvisierten Musik, die die Fesseln konventioneller harmonischer, rhythmischer, formaler Korsette abgestreift hat — in Ornette Colemans unverbesserlicher Formel: „Let’s play the music and not the background“, oder der Versuch, mittels eines kalkulierten musikalischen Rückschritts den zweiten, publikumswirksamen Code musikalischer Kommunikation neu herzustellen — um den Preis, daß die „Kenner“, die vielgeschmähten „Puristen“, Verrat am Kunst-Code monieren werden. Und das bedeutet zugleich, über die Rolle des Publikums zu reflektieren — und damit über die Macht, die man ihm als Musiker bei seinen künstlerischen Entscheidungen einräumen will. Es lohnt sich, in diesem Kontext eine weitere Passage aus Derek Baileys „Improvisation — its nature and practice in music“ zu zitieren, die ihrerseits mit einem Zitat beginnt.

Ernst Fischer schrieb: ‚Es ist unerläßlich, zwischen Musik zu unterscheiden, deren einziges Ziel es ist, eine einheitliche und kalkulierte Wirkung zu erzeugen und die auf diese Weise eine kollektive Handlung einer bestimmten Art stimuliert, und einer Musik, deren Bedeutung darin liegt, Gefühle, Ideen, Empfindungen oder Erfahrungen auszudrücken, und die, weit davon entfernt, die Menschen zu einer homogenen Masse mit identischen Reaktionen zusammenzuschweißen, individuellen, subjektiven Assoziationen freies Spiel läßt.‘

Was alles erklärt; aber dies ist gegenwärtig eine ziemlich unmoderne Sicht der Dinge. Die gängige Weisheit erlaubt heute nur ein Publikum, das keine Grenzen kennt, allwissend ist und von allen hofiert werden muß. So zu spielen, daß es ein größeres Publikum ausschließt, oder, schlimmer noch, es sogar vorzuziehen, vor einem kleinen Publikum zu spielen, wird als Anzeichen dafür genommen, daß die Musik pretentiös, elitär, ‚unkommunikativ‘ mit sich selbst beschäftigt und wahrscheinlich noch viele andere schreckliche Dinge mehr ist. Was also kann ein Improvisator über das Publikum sagen? Die Propaganda der Unterhaltungsindustrie und die angestrengten, wenn auch vergeblichen, Bemühungen der Kunstszene, mit ihr zu wetteifern, wirken zusammen, um aus dem Publikum eine Instanz von mystischer Allmacht zu machen. Und die verlangt vor allem offensichtlich Lippenbekenntnisse.

Kalkulierte und inszenierte Massenwirkung oder Rückzug in die Nischen der Kenner und Liebhaber, street credibility oder Esoterik — eine exklusive Alternative, wie Bailey suggeriert? Hat sich die Schere zwischen den zwei Codes wirklich so weit geöffnet, daß ein gemeinsamer Nenner undenkbar ist?

Natürlich gibt es — bewußte oder unbewußte — Versuche eines neuen Brückenschlags, der Kreation oder Re-Kreation einer doppelt kodierten Sprache unter den sozialen und musikalischen Bedingungen der Gegenwart, der zeitgemäßen Versöhnung von sophistication und Unmittelbarkeit. Ornette Colemans elektro-funkifiziertes „Prime Time“-Konzept könnte ein solches Modell sein, Gary Thomas’ Kombination ausgeklügelter additiver Metrik, wohlkalkulierter In-and-Out-Harmonik mit gerappten Botschaften an die schwarze community ein zweites. Weniger aussichtsreich erscheint dagegen die Versöhnung mittels Retrospektive. Zurück zu den Fünfzigern? Die Adressaten des ersten Codes, die „Experten“, wissen, daß die musikalische Entwicklung längst weiter ging, und die „Laien“ finden das rhythmische und klangliche Vokabular des Neo-Bop verstaubt. Mehr als Nostalgie ist auf diese Weise nicht zu haben — wenn auch Nostalgie, wie die jüngste Jazzgeschichte beweist, eine Kraft von nicht zu unterschätzender Wirkung ist.

Aber ist sie überhaupt so wichtig, jene Wiederherstellung der vielbeschworenen Gemeinsamkeit von Kunst-Niveau und Breiten-Wirkung? Vielleicht ist die pluralistisch segmentierte Koexistenz diverser Improvisations-Kulturen, wie man sie heute diagnostizieren kann, gar kein so verhängnisvoller Zustand, der um jeden Preis durch einen neuen Megatrend, einen neuen Jazz-Messias, eine neue gemeinsame Sprache beendet werden müßte — vorausgesetzt, man schafft Strukturen, die es ermöglichen, daß auch die Individualisten in den unprofitablen Nischen überleben können, und nicht nur überleben, sondern unter solchen Voraussetzungen an ihrer Kunst arbeiten, wie man sie bildenden Künstlern oder Komponisten avançierter sogenannter E-Musik selbstverständlich zubilligt. Daß jeder, der die Worte „Jazz“ oder „improvisierte Musik“ in den Mund nimmt, mittlerweile etwas völlig Verschiedenes meint — damit wird man dann allerdings weiter leben müssen, und, ich denke, auch leben können.

Vortrag, gehalten an den Saalfeldner Musiktagen ’93 am 19./20. Mai Zur Situation der zeitgenössischen Musik am Beispiel des Jazz

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