FORVM, No. 121
Januar
1964

Kabarett der Enttäuschten

Notizen zum schwarzen Humor Helmut Qualtingers und Georg Kreislers

Ein Freund hat mir kürzlich aus Wien zwei Schallplatten mitgebracht. Eine mit neuen Chansons von Georg Kreisler, die andere mit Liedern auf Artmann-Texte von Helmut Qualtinger. Beide Platten sind Produkte des „schwarzen Humors“, der heute aus der Literatur nicht mehr wegzudenken ist. Man hat sich ja mit dem Grauen häuslich eingerichtet. Man lebt mit dem Makabren, indem man die ungewisse Zukunft wie etwas schon Existentes beschwört und anhand dieses Totems beruhigt in die Wirklichkeit zurückkehrt, die immer noch — sozusagen auf Abruf — einige Lebensmöglichkeiten zuläßt.

Was den schwarzen Humor Kreislers und Qualtingers so himmelweit unterscheidet von anderen Produkten dieser Gattung, ist die Tendenzlosigkeit, die schon in der Konzeption liegt. Humor dient hier nicht dazu, eine warnende Beschwörung vorzunehmen, er wird nicht abwertend ins Spiel gebracht, sondern glatt als Kunstform integriert. Ein Weltbild wird gezeigt, wie es in ähnlicher Weise zwei Generationen vorher Karl Valentin geschaffen hat, und man erinnert sich mit Wehmut der Zeiten, da man dergleichen täglich in Wien in natura hören konnte: in der Marietta-Bar, wo Georg Kreisler Abend für Abend höchstpersönlich am Flügel saß, und in der Liliengasse, wo Helmut Qualtinger als Protagonist einer exzellenten Kabarettproduktion Jahre hindurch allabendlich auf der Bühne stand. Hier war Wien plötzlich wieder auf künstlerischem Gebiet zur Weltstadt geworden, nicht nur weil die beiden Vertreter aus Wien stammten, sondern weil die spezifische Atmosphäre Wiens auch das Rohmaterial für die Texte lieferte.

Damit will ich nicht sagen, daß die Aufführungen der offiziellen Wiener Bühnen das Großstadtniveau vermissen ließen. Wien ist immer noch eine Musiker- und eine Schauspieler-Stadt, aber schon die Tatsache, daß man hier Festwochen etabliert hat, beweist doch, daß „die Welt“ nur manchmal in Wien zu Gast ist, daß es also beinahe aussichtslos erscheint, das in vier Wochen aufgetischte opulente Pensum aufs ganze Jahr ausdehnen zu wollen.

Es ist das Schicksal aller „Weltstädte im Exil“, daß sie der Festwochen bedürfen. Könnte man sich vorstellen, daß es Pariser oder Londoner Festwochen gäbe? Gewiß, es gibt das „Theater der Nationen“ in Paris, aber das ist ein Querschnitt, der über den Standard der gesamten Welttheater-Produktion informiert. Die Tragik richtiger Festwochen liegt darin, daß sie aussprechen, was man nicht aussprechen sollte: so wie es jetzt ist, müßte es eigentlich dauernd sein. Am Beispiel Wien zeigt sich ja auch, daß es nur auf Grund der neuen politischen Konstellation nicht möglich ist, diesen legitimen Standard länger als vier Wochen aufrechtzuerhalten.

Qualtinger indes ist ein Exempel dafür, daß Wien noch mehr zu leisten vermag, als bei seinen Festwochen ansichtig wird. Während nämlich zur Festwochen-Zeit die Welt auf Wien ausstrahlt, bringt Qualtinger es fertig, Wien seinerseits als immer noch permanent existierendes Potential darzustellen. In Deutschland erwarten viele vom Kommunismus enttäuschte Renegaten, daß die Bundesrepublik sie für ihren Irrtum tröste. Sie kommen einem manchmal vor wie enttäuschte Liebhaber, die im Gegenstand ihrer Liebe ein Idol gesehen haben und nun an einem dauernden Heimweh nach der verlorenen Illusion leiden. Man flieht sozusagen zu Verwandten, die einem eine sichere Existenz garantieren, aber man fühlt sich dort wie in liebloser und leerer Umgebung, ohne Kontakte, unangesprochen. Dadurch verlagert sich auch, in der Bundesrepublik, konsequent die Polemik. Sie verlangt von einem Staat, was er weder geben will noch kann.

Qualtinger ist gegen Mißstände in dem Land, aus dem er stammt und in dem er lebt, nicht weniger kritisch als die deutschen Zeitsatiriker. Dennoch hat keiner von ihnen auch nur annähernd erreicht, was er beispielsweise im „Herrn Karl“ dargestellt hat. Seine Kritik trifft einen ganz bestimmten Gegenstand und eine ganz bestimmte Situation, weil sie gezielt ist. Sie begeht nicht den Fehler, dauernd zu assoziieren. Es gibt wohl gute deutsche Satiriker, aber ihre Hürde ist das geteilte Deutschland. Man ist zwar gegen die heute in Deutschland regierende Schicht, aber man entwertet diese Kritik sofort, indem man den Staat in Parallele zum Hitler-Staat stellt. Und darum treffen Kritik, Polemik und Satire manchmal so wenig ins Schwarze, weil die „Betroffenen“ sich erst gar nicht betroffen fühlen. Die Argumente, mit denen sie attackiert werden, sind so wenig aus der Realität geholt, daß sie vage bleiben.

Ein Angriff von Qualtinger trifft ins Schwarze. Er hat ein unverwechselbares Ziel, und für Verwaschenheit ist in seiner Konzeption kein Platz. Auch den Ton nörgelnden Unbehagens, den die Krise des Anspruchs zeitigte, vermißt man mit großer Freude in seinem Werk. Der „Herr Karl“ ist die Kavalkade der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Er ist die Forsyte-Saga einer ungemütlichen Zeit, deren Ungemütlichkeit keinen Moment bestritten wird. Aber die Gefährdung ist aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur und dem Kreatürlichen der Existenz gedeutet und nicht von einer Milieutheorie hergeleitet. Keine wie immer geartete Heilslehre wird verkündet, kein Messianismus klingt im Unterton auf, und wenn Hoffnung sich breitmacht, dann nur in dem Motto, man möge schlechte Leute durch bessere ersetzen. Der österreichische Pessimismus, für den Nestroy die zeitlose Formel: „Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab’ mich noch selten getäuscht“ geprägt hat, dominiert; aber durch den Pessimismus ist das Gespenst auch schon gebannt. Das erklärt Qualtingers gigantischen Erfolg in der ganzen Welt. Das macht seine Kritik so unerbittlich und doch so gerecht.

Wenn man in den letzten Monaten mit ansehen konnte, mit welchem Fanatismus sich Leute von Rang und Ansehen für den „Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth eingesetzt haben, ein nachweisbar mäßiges Stück mit einer einzigen wirkungsvollen Szene, so begreift man, daß sich hier ein längst angestautes Ressentiment endlich Luft gemacht hat. Kein Mensch würde dieses Stück spielen, wenn es nicht die Szene des Papstes gäbe. Und diese Szene lebt von der Provokation. Die Provokation hat möglicherweise ein Gutes erreicht: sie hat die Feststellung erzwungen, daß die etwas dubiose Verquickung von Religion und Politik ein Atavismus ist, der mit fortschreitender Integration der westlichen Welt sehr viele Gefahren bringt. Daß die Warnung Hochhuths vor einem solchen Atavismus in der denkbar primitivsten Form ausgesprochen wird, macht vielleicht gerade ihre Schlagkraft aus.

Selbst der völlig amoralische Mensch transzendiert im Theater zum guten Menschen hin, wenn an sein Herz appelliert wird. Er wird gerührt von einer Situation, für die er im Leben keine Träne vergießen würde. Das Schicksal der kleinen Mimi miterleben zu dürfen, macht ihn im Moment des Betrachtens zu einem guten und edlen Menschen. Sieht er die Papstszene bei Hochhuth, wird er plötzlich von heiligem Zorn und heiliger Empörung ergriffen, weil ihm das Versagen einer an höchster Stelle stehenden Persönlichkeit vorgeführt wird. Es kümmert ihn wenig, ob die Argumente, mit denen dies geschieht, stimmen oder nicht. Er verfällt dem Sog der Demagogie und übersieht dabei, daß Gefahren heute längst nicht mehr aus der Kirche und ihren Institutionen kommen. Heute müßte festgestellt werden, daß der neue Managertyp, dem es um nichts anderes geht als um die reine Macht, eine viel größere Gefahr und Bedrohung darstellt als der atavistische Typ des Klerikers oder des religiös orientierten Politikers.

Nichts spricht mehr für Qualtinger und seine weltumfassende Erkenntnis, als daß er gerade gegen diesen Typ schon vor Jahren zu Feld gezogen ist. Qualtinger ist nie dem Messianismus einer Ideologie aufgesessen. Heute schon werden nüchterne Betrachtungen aufgestellt, ob das kapitalistische oder das kommunistische Wirtschaftssystem auf die Dauer das rentablere sei. Beide Systeme werden nicht mehr aus der ideologischen, sondern aus der praktischen Perspektive betrachtet.

Es ist eine rein private Frage, ob einer lieber Thomas von Aquin oder Marx liest. Mit Argumenten läßt sich die eine Anschauung ebensogut belegen wie die andere. Qualtingers Stärke ist, daß er nie nach rückwärts schießt. Er erfindet nicht alte Gespenster und tut so, als ob sie noch existierten, sondern er geht auf die neue, noch nicht greifbar gewordene Gefahr los. Die sogenannte absurde Parabel ist auch für ihn und seine dramaturgische Konzeption von höchster Wichtigkeit. Auch er exemplifiziert anhand einer scheinbar unwahrscheinlichen Begebenheit die Möglichkeit aller heutigen Konflikte. Er stellt dar, was alles möglich wäre, wenn die Entwicklung des Ungeistes so weiter ginge wie bisher. Aber indem er es aufzeigt, diagnostiziert er auch schon die Gegenwart und bannt das Unbehagen, das wir an ihr empfinden. Die Kunst des Zeigens, des Darstellens, erhält durch ihn neue Kraft gleichnishafter Überhöhung.

Qualtingers Stärke ist, daß er das Theater des reinen Unbehagens wieder zu einer Stätte des höchsten Genusses macht. In der Schweiz ist kürzlich ein Lamento ausgebrochen, weil Ionesco in seinem letzten (und, wie ich glaube, besten) Stück „Der König stirbt“ die Menschen in Hoffnungslosigkeit entläßt. Nun ist ein Stück, das — wie das alte „Jedermann“-Spiel — das Sterben des reichen Mannes zum Inhalt hat, nicht gerade geschaffen, Hoffnungen, sondern eher doch Besinnlichkeit zu erwecken. Im alten „Jedermann“ wird noch das Jenseits als Verheißung hingestellt. Bei Ionesco führt der Todesengel den sterbenden König in ein Niemandsland, über dem Schweigen herrscht.

Ich erwähne das Kuriosum dieser beinahe schon militanten Auflehnung gegen ein Stück, wie sie in einer bekannten Schweizer Wochenzeitschrift zum Ausdruck gekommen ist, weil es mir symptomatisch erscheint für einen Zustand. Man darf zwar sein Unbehagen an allen möglichen lebenden Personen und Institutionen äußern; aber im Augenblick, da die unabänderliche Tatsache des Sterbens mit eben jener Ratlosigkeit demonstriert wird, die den Menschen vor dem Metaphysischen befällt, ertönt plötzlich beinahe so etwas wie ein Schrei nach dem barmherzigen Zensor: „Wir wollen diese Stücke der Hoffnungslosigkeit nicht.“

So oder ähnlich stand es zu lesen. Es beweist, daß die politisch engagierten Schriftsteller — ganz gleich welcher Richtung — sich gegen ein Phänomen entscheidend verwahren: reale, unerbittliche Vorgänge des Lebens dürfen nicht poetisiert werden. Aber ist nicht gerade die Poesie das Medium, das reale Vorgänge erst wieder zum Gleichnis macht? Hat nicht Beckett in jedem seiner Stücke ganz neue mythische Bilder gefunden, um einen Gegenwartszustand aufzuzeigen?

Auch die Welt Qualtingers strotzt von Bildern. Die Tatsache des epischen Berichts, scheinbar logisch und zusammenhängend, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier gleichsam dauernd eine Schraube höher gedreht wird, durch die das Absurde gewisser Gegenwartsvorgänge erst deutlich demonstriert wird. Stellt man grausige Vorgänge der Politik in diktatorischen Staaten mit Hinrichtung und anschließender Rehabilitierung der Verurteilten nur beschreibend dar, kommt man über den Illustriertenbericht nicht hinaus. Nur wenn etwas vom Geist der großen Satire, mögen ihre Ursprünge nun bei Aristophanes, bei Offenbach oder bei Karl Kraus liegen, dazukommt, entsteht das Zeitbild. Gerade weil hier kaum Faßbares geschieht, weil das zwanzigste Jahrhundert durch den Rückfall in die Barbarei eine tiefe Enttäuschung aller Fortschrittsgläubigen zur Folge hatte, bleibt die reine Beschreibung wirkungslos.

Unserem Wahrnehmungsvermögen erscheinen viele Gegenwartsvorgänge unbegreiflich und absurd. Einer späteren Epoche wird es vorbehalten bleiben, sie in größerem Zusammenhang zu deuten und ihnen einen Sinn zu unterlegen. Es gibt den schwarzen Humor und das absurde Theater nicht von ungefähr. Es gibt sie in guter und in schlechter Ausführung. Bei Qualtinger haben wir das Glück, sie in der besten, in der schlagendsten Ausführung zu erhalten.

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