FORVM, No. 98
Februar
1962

Kampf ums vierte Rom

Italiens Kommunisten konkurrieren mit Moskau, Peking und Belgrad

Als alter Routinier des politischen wie physischen Überlebens hat sich Palmiro Togliatti seit dem XXII. KPdSU-Kongreß aufs neue erwiesen. Nach dem Plenum des KPI-Zentralkomitees (10. und 11. November 1961) schien seine Position erstmals seit 1944 zu wanken. Mit seiner Rede in Pesaro (17. Dezember 1961) hat er sich durch ein geschicktes Ausweichmanöver wiederum Spielraum nach allen Seiten verschafft und überdies seine Partei ins innerpolitische Geschehen der nächsten Wochen und Monate manövriert. Wer in Italien gehofft hatte, ohne die von der Entstalinisierungs-Debatte in Anspruch genommenen Kommunisten Innenpolitik treiben zu können, wurde enttäuscht. Noch mehr Grund zur Enttäuschung hatten freilich jene, die auf einen raschen Erfolg der revisionistischen „Jungtürken“ in der KPI gesetzt hatten.

In Pesaro trat Togliatti mit dem — nur für Uneingeweihte überraschenden — Vorschlag auf, es sollte in Italien eine große Einheitspartei der Arbeiter geschaffen werden. Mit diesem Manöver, das er auf dem nächsten Plenum des ZK (20. bis 23. Dezember 1961) weiterentwickelte, entzog sich Togliatti dem Entstalinisierungsprozeß, welcher ihm persönlich gefährlich zu werden drohte. Zugleich gewann er dadurch Einfluß auf die innenpolitischen Kombinationen um die „Öffnung nach Links“, wobei es offensichtlich sein Ziel ist, eine solche Koalition von den Christlichdemokraten bis zu den Nenni-Sozialisten zu verhindern.

Im Novemberplenum des ZK hatten 21 von den 33 Rednern Togliattis Bericht über den XXII. KPdSU-Kongreß in seinen wesentlichen, die Entstalinisierung betreffenden Teilen als ungenügend abgelehnt. Die Meinungsverschiedenheiten waren derart, daß man die Ausarbeitung eines abschließenden Dokuments dem Sekretariat überlassen mußte. Togliatti selbst — und mit ihm der konservativ-stalinistische Flügel der Partei — versuchte noch in der Sitzung des Politbüros am 18. November 1961 die Veröffentlichung eines Dokuments zu verhindern, das in den Sektionen als Grundlage für die „Diskussionen“ dienen sollte. Man war der Meinung, daß Togliattis Rechenschaftsbericht hiefür vollauf genüge. Daß jenes Dokument mit dem Versprechen „einer offenen Debatte aller sich aus der Entstalinisierung ergebenden Fragen“ dennoch veröffentlicht wurde und daß man am 1. Dezember 1961 in der KPI-Zentrale sogar eine Pressekonferenz abhielt, war für Togliatti — der zur gleichen Zeit auch von der KPF gerügt und von der „Prawda“ zur Disziplin ermahnt wurde — eine deutliche Niederlage.

Auf dem Dezember-Plenum des ZK revanchierte er sich. Der im November von den Togliatti-Gegnern verlangte außerordentliche Parteikongreß wurde glattweg abgelehnt. Das im ersten Dokument erhobene Verlangen nach dem „Polyzentrismus“ in der kommunistischen Bewegung und nach einer „weitestgehenden Autonomie“ der nationalen Parteien wurde durch die farblose Forderung nach „Überwindung der These vom einzigen Zentrum und von der Führungspartei“ ersetzt. Der Autonomie kommt nach dieser Resolution nur die Funktion „einer vermehrten Artikulierung der Arbeit in den einzelnen Parteien“ zu, deren Aufgabe es bleibt, „die Einheit der internationalen kommunistischen Bewegung wirksamer und fester zu gestalten“. Von der im November verheißenen marxistischen Analyse der Ursachen des Personenkults ist nur der Vorwurf an die „Jungtürken“ übriggeblieben, sie hätten nicht „in der erforderlichen Weise auf fehlerhafte Positionen und auf die Deformierung ideologischer Standpunkte“ reagiert. Solch revisionistische Haltung sei der „Reflex von Einflüssen außerhalb der Arbeiterbewegung“.

Das ist die Rückkehr von einem Ausflug in die menschliche Sprache zum Nebelreich des Parteichinesisch. Zugleich ergibt sich aus dem Dokument, daß Togliattis Rede in Pesaro bloß zynische Taktik war. Der Plan einer großen Arbeiter-Einheitspartei wird „zu einer heute noch sehr fernen Frage“, die „Öffnung nach Links“ zu einem „Manöver zur Spaltung der Arbeiterklasse“, und jedes Zusammengehen der KPI mit anderen Parteien — getarnt als „Einheit aller demokratischen Kräfte“ — wird von einem „Band gegenseitigen Vertrauens in die UdSSR“ und somit von einer Unterstützung der sowjetischen Außenpolitik abhängig gemacht.

Das ist das Ende der Hoffnungen, die manchenorts entstanden waren, als Togliatti aus Moskau zurückkehrte und jene Reden hielt, in welchen er die mangelnde Rücksichtnahme des Kreml auf die „sehr sensible öffentliche Meinung in den kapitalistischen Ländern“ beklagte.

Hingegen wird die Diskussion am Rande der KPI fortgesetzt: in der italienischen „Linken“, in den Gewerkschaften und in den Betrieben. Die Nenni-Sozialisten — die 1956 mit der innerparteilichen Auseinandersetzung über die Aufkündigung der „Volksfront“ und den autonomen Kurs so sehr beschäftigt waren, daß sie aus Chruschtschews Geheimrede und aus dem Ungarn-Aufstand unmittelbar kein Kapital schlagen konnten — haben diesmal auf allen Ebenen die Initiative der Diskussion an sich gerissen. Nennis PSI ist sehr selbstbewußt geworden. Er hat in den letzten Jahren als einziger von allen Seiten Zuzug erhalten. Seit 1957 sind (um nur Prominente zu erwähnen) der ehemalige KPI-Abgeordnete Antonio Giolitti und die ehemaligen Sozialdemokraten Matteo Matteotti, Ezio Vigorelli und Mario Zagari dem PSI beigetreten. Nenni hat nicht nur die Intelligenz vom linken, sondern auch vom rechten Wegrand aufgelesen.

Wenn sich der Gewinn an Prestige auch nicht überall gleichmäßig in einen Stimmenzuwachs ummünzen ließ, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß der PSI bei allen Lokalwahlen seit 1960 dort Stimmen gewonnen hat, wo der „autonomistische“ Nenni-Flügel am Ruder ist. Der PSI hat aufgehört, Hilfstruppe der KPI zu sein. Er ist zu einem echten Antagonisten und Rivalen geworden, und seine Gefährlichkeit für die KPI ist umso größer, als sich die Lektüre des sozialistischen „Avanti“ für Kommunisten nicht als ketzerisch verbieten und der Umgang mit der sozialistisch-kommunistischen „Confederazione Generale Italiana dei Lavoratori“ (CGIL) nicht als suspekt abschaffen läßt.

Die ersten Schwierigkeiten für Togliatti ergaben sich schon im vergangenen Herbst, als die Sozialisten in den Betrieben gegen die sowjetischen Superbomben demonstrierten und die KPI-Mitglieder, die bis dahin an jeder Anti-Atom-Demonstration teilgenommen hatten, gezwungen waren, die sowjetischen Atomexplosionen zu verteidigen. Damals erhielt die KPI einen Vorgeschmack dessen, was sie zu gewärtigen hat, wenn der PSI die Debatte über die Entstalinisierung weiterführt.

Als Ketzer in Moskau

Bedeutende sozialistische Einflüsse wurden schon in der Haltung der italienischen CGIL-Delegation beim Moskauer Kongreß des Weltgewerkschaftsbundes (6. bis 14. Dezember) offenkundig. Die 45 CGIL-Vertreter, zumeist Kommunisten, waren in Rom auf ein Programm verpflichtet worden, das umfassende Korrekturen des offiziellen, vom Franzosen Louis Saillant vorgetragenen Berichtes vorsah und wesentliche politische Neuerungen forderte. Die Italiener konnten damit zwar nicht durchdringen, doch stellten schon ihre Reden einen nicht ungefährlichen Import ketzerischer Ideen dar. Da ansonst auf diesem Kongreß nur ideologische Ladenhüter angeboten wurden, mußte dies auf so manche Ostblock-Delegierte anziehend wirken.

Agostino Novella, Präsident des Weltgewerkschaftsbundes und Abgeordneter der KPI, hatte aus eigener Initiative und gegen den Willen der sowjetischen Gastgeber eine jugoslawische Beobachterdelegation zum Kongreß mitgenommen und verlangte als Sprecher der CGIL „eine vermehrte Autonomie der Gewerkschaften, auch der kommunistischen, von den Parteien“. Er lehnte es als schädlich ab, daß „die Gewerkschaften Parolen und Ziele anderer Organisationen übernehmen müssen“ und daß man sie verpflichte, „diplomatische Positionen zu verfechten, die, wie die Erfahrung zeigt, notwendigerweise Wandlungen unterworfen sind“. Das war eine eindeutige Absage an die wiederholten Versuche Moskaus, die CGIL für außenpolitische Ziele der Sowjetunion einzuspannen. Und es war wohl auch die Nutzanwendung aus den Erfahrungen mit den sowjetischen Atomexplosionen. Als „unnütz, ja geradezu schädlich“ verdammte Novella die „Anschuldigungen moralischer Art, die gegen die Führer anderer Gewerkschaftsorganisationen“ erhoben werden. Man dürfe nicht vergessen, daß „in der internationalen Gewerkschaftsbewegung Millionen von Arbeitern organisiert sind, die an diese Führung glauben. In den kapitalistischen Ländern kann die Gewerkschaftseinheit nur auf der Basis völliger Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den Parteien verwirklicht werden.“

Der Sozialist Fernando Santi, Co-Generalsekretär der CGIL, wandte sich noch deutlicher an die Adresse der Hausherren. Die Zusammenarbeit mit den nichtkommunistischen Gewerkschaften sei nur möglich, „wenn man die Autonomie der Gewerkschaften respektiere und wenn gewährleistet sei, daß ein eventuelles Zusammengehen nicht die Zustimmung zu einem bestimmten politischen System oder zu einer bestimmten Ideologie bedeute“.

Der sozialistische Sekretär der Mailänder Arbeiterkammer, Bruno Di Pol, rügte vor dem gesamten Kongreß seine CGIL-Kollegen, weil sie sich „damit beschieden hätten, eine wahrhaft bedeutende Debatte in Gang zu bringen, um dann an deren Ende resigniert zu konstatieren, daß der wichtigste Teil der Abänderungsanträge im Schlußdokument nicht untergebracht werden konnte“. Di Pol stimmte demonstrativ gegen die Schlußresolution und gegen eine „antikolonialistische“ Entschließung— mit der Begründung, daß es sich hiebei um „sterile Polemik“ handle.

Nur der polnische Gewerkschaftsführer Ignaci Loga-Sowinski, ein Kampfgefährte Gomulkas während des „polnischen Oktobers“, plädierte mit den Italienern für eine „verstärkte Autonomie der Gewerkschaften auch in den sozialistischen Ländern“ und verlangte, daß man „jene Delegationen respektiere, die andersartige Meinungen äußerten“. Er konnte freilich nicht alle Wünsche der Italiener verfechten, denn diese forderten die Streichung einer dem sowjetischen Siebenjahrplan gewidmeten Passage und des Hinweises auf die „gigantischen Fortschritte des sozialistischen Lagers“ sowie des Satzes „Die Sowjetunion steht an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts“. Die Moskauer Zeitungen und die Agentur TASS publizierten nur sorgfältig gesäuberte Berichte über die Reden der Italiener. Und die von Novella eingeladenen Jugoslawen wurden von den Hausherren so schlecht behandelt, daß Vukmanovic-Tempo und seine Begleiter vorzeitig abreisten.

Die CGIL-Delegation wollte durch ihren Vorschlag der gewerkschaftlichen Autonomie auch im kommunistischen Bereich eine Art Polarisierung erreichen und solcherart den Dualismus als elementarste Form demokratischen Lebens durchsetzen. Die Erfüllung einer solchen Forderung würde eine neue Entwicklung einleiten, in deren Verlauf die autonomen Gewerkschaften sich allmählich als antagonistische Körperschaften im Einparteienstaat etablieren könnten. Damit wäre dann automatisch die Frage nach einer demokratischen „Machtablöse“ aufgeworfen. Jedoch ist der Grat, auf dem Chruschtschew seinen Balance-Akt der Entstalinisierung vollführt, überaus schmal; ein Fehltritt und er stürzt zurück in die Greuel der Stalin-Ära oder ins Chaos wilder Fraktionskämpfe, an deren Ende ein neuer Stalinismus stehen könnte. Der Ausweg in die echte „Demokratisierung“ des Systems ist daher versperrt. Er würde zum Ende dieses Systems führen.

Als Togliatti den Begriff des „Polyzentrismus“ leichthin in die Debatte geworfen hatte, wollte er zunächst nur den Sachverhalt fixieren, daß nach der Etablierung dreier kommunistischer Zentren — Moskau, Belgrad, Peking — die KPdSU ihren dogmatischen Anspruch auf die Rolle der Führungspartei eingebüßt habe. Doch der neue Begriff begann in Rom — und wohl auch anderswo — sich alsbald höchst autonom zu entwickeln. Der dritte Mann der KPI, Giorgio Amendola — 1960 von Togliatti wegen seiner Freundschaft mit den „Ungarn-Revisionisten“ gemaßregelt und von der Leitung der Organisationsabteilung entfernt —, erklärte auf dem Novemberplenum des ZK:

Der XXII. Kongreß der KPdSU bedeutet das Ende jener scheinbaren Einmütigkeit, die mit einer tatsächlichen ideologischen und politischen Einheit nie etwas gemein hatte. Diese Entwicklung ist als positiv zu begrüßen. Die Debatte muß auch in unserer Partei weitergeführt und entwickelt werden — wenn es erforderlich sein sollte bis zur Bildung von Mehrheiten und Minderheiten, die, je nach den zu behandelnden Problemen, von Mal zu Mal auch wechseln können ... Die Erbauung des Kommunismus erfordert wohl technisch-ökonomische Voraussetzungen, aber nicht minder wichtig sind die Grundlagen der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Moral.

Amendola erhielt Schützenhilfe von einem KP-Flügel, der bisher stets Togliattis Zickzackkurs mitgemacht hatte. Der Bürgermeister von Bologna, Giuseppe Dozza, vielleicht das populärste Stadtoberhaupt Italiens, erklärte nach der ZK-Sitzung vom November: „Ich bin völlig einer Meinung mit Amendola. In einer großen Partei ist es unerläßlich, daß sich die jeweils verschiedenen Positionen frei entwickeln und daß sich Gruppen bilden, welche diese Positionen verfechten.“

Die Kommunisten der Emilia und der Toscana — der „roten Regionen“ Italiens — gehen jedoch von anderen Voraussetzungen aus als Amendola. Sie sind Praktiker. Für sie ist die Auseinandersetzung um die Entstalinisierung eine Auseinandersetzung zwischen der Parteibürokratie und der administrierenden, regierenden Elite. „Wir sind in der Emilia eine Regierungspartei“, erklärte ein führender Kommunist Bolognas, „wir haben auch nicht auf den XX. KPdSU-Kongreß gewartet, um jenen Minoritäts-Komplex abzubauen, der unweigerlich zu stalinistischen Positionen führt“.

Diese kommunistischen Administratoren haben sich — ähnlich wie die Gewerkschaftsvertreter — im Umgang mit dem, was die Bürokraten als bürgerliche Demokratie bezeichnen, „in ihrer historischen Funktion als neue führende Klasse längst vertraut gemacht mit den Errungenschaften der persönlichen Freiheit, der Gewaltenteilung, der Gedankenfreiheit und des allgemeinen Wahlrechts, jenen Gemeingütern der zivilisierten Menschheit“ (Giolitti, „Riforme e Rivoluzione“). Und sie sind gut damit gefahren. Sie haben keine Angst vor innerparteilicher Demokratie durch Fraktionsbildung, sie fürchten auch keine Konkurrenz der anderen Parteien. Die Erfahrung hat sie gelehrt, daß die ideologische Verknöcherung, der Mißbrauch ihrer Partei für sowjetische Zwecke, das Ja-Sagen zu allem, was Moskau vorbetet, ihre Stellung als Administratoren und als Wahlwerber nur erschwert.

Um die Seele des Parteivolkes

Die Entstalinisierungs-Debatte hat Togliatti in einem äußerst heiklen Entwicklungsstadium der Innenpolitik überrascht. Die „Öffnung nach Links“, die Koalition der Democrazia Cristiana mit den Saragat-Sozialisten, den Republikanern und dem PSI Nennis, ist erstmals in den Bereich der politischen Realität gerückt. Um sich in diesen Prozeß einzuschalten, müßte der KPI-Führer über eine manövrierfähige und nicht durch interne Auseinandersetzungen geschwächte Partei verfügen.

Hingegen kann der PSI seine wiedergewonnene Autonomie gerade in der Diskussion über die Entstalinisierung demonstrieren und mit seinen Beiträgen zum Thema auch die Debatte in der KPI immer wieder beflügeln. Nenni hat auch erkannt, daß die jetzige Situation nicht nur ihm und seiner Partei, sondern der italienischen Demokratie eine einmalige Chance bietet. „Wer mit dem kommunistischen Parteivolk in den Betrieben redet, gewinnt den Eindruck, daß eine Regierung, die den Mut hätte, einige große und spektakuläre Reformen durchzusetzen und damit zu beweisen, daß die ökonomische Rechte tatsächlich geschlagen werden kann, nicht nur unter den Wählern, sondern auch unter den Mitgliedern der KPI Zweifel und Umdenken auslösen könnte“, stellte „L’Espresso“ (Rom) nach einer umfassenden Enquête unter den kommunistischen Arbeitern in den lombardischen Betrieben fest.

Daß die KPI trotz ihrer Sterilität, trotz Stalin und Ungarn und trotz dem konstanten Rückgang der Mitgliederzahlen ihren Wählerstock von Wahl zu Wahl vergrößert, bleibt freilich eines der großen psychologischen Rätsel der italienischen Innenpolitik. Ignazio Silone vertritt die Meinung, die Massen ließen sich bei den großen Parteien einschreiben, um diese als Mittler gegenüber der Staatsgewalt und gewissermaßen als Schutzmacht gegen diese sowie als Ersatz für die verlorene „Nachbarschaft“ früherer Zeiten zu gewinnen. [*] Aber das wäre nur dann wirklich zutreffend, wenn die KPI auch ihren Mitgliederstand vergrößern könnte. Doch ist das gerade Gegenteil wahr. Von 2,03 Millionen eingeschriebenen Mitgliedern im Jahr 1956 ist die Partei auf 1,78 Millionen Mitglieder im Jahr 1960 zurückgefallen; für 1961 wird der Mitglieder-Rückgang mit 3 Prozent angegeben. Im etwa gleichen Zeitraum hat die KPI ihre Wählerzahl von 6,1 Millionen (1953) auf 6,7 Millionen (1958) erhöht; auch bei allen Gemeinderatswahlen der Jahre 1960 und 1961 gab es Gewinne der Kommunisten.

Als Erklärung für diese Entwicklung mag eine von Giuseppe Saragat gestellte Diagnose dienen, die allerdings nur als Rechtfertigung für die „Öffnung nach Links“ gemeint war:

Die zwei Millionen Arbeitslosen, die Schande des Analphabetismus, die den Armen praktisch verschlossenen höheren Schulen, die Steuerhinterziehungen, die mit dem Wohnraum und den Nahrungsmitteln betriebenen Spekulationen, die allgemeine Korruption sind ebensoviele Anklagepunkte gegen eine politische Führungsschicht, die noch immer nicht imstande gewesen ist, aus Italien auch einen modernen Sozialstaat zu machen.

Die bereits erwähnte Enquête des „L’Espresso“ hat zwei weitere Gesichtspunkte hinzugefügt. Auf einen Einwand hinsichtlich der mangelnden Rechtsstaatlichkeit in der UdSSR erwiderten kommunistische Arbeiter in einer Mailänder Fabrik: „Die einzige Legalität, die wir hier kennengelernt haben, ist die Übervorteilung am Arbeitsplatz und, wenn wir streiken oder demonstrieren, der Gummiknüppel.“ Ähnlich ist die Lage bei den emilianischen Bauern: „Die wirtschaftlichen Probleme, die Aggressivität der Großgrundbesitzer und die Attentate der Neofaschisten“ garantieren dafür, daß die Halbpächter und Landarbeiter der KPI die Treue halten.

Der Stalinismus hat den 6,7 Millionen kommunistischen Wählern in Italien nie weh getan. Sie haben weder von der Entstalinisierung noch von einer Demokratisierung ihrer Partei etwas zu gewinnen. Und die italienische Demokratie hat noch viel zu wenig getan, um die Arbeiter und Bauern, die den falschen Stimmzettel abgeben, für sich zu gewinnen.

[*Ignazio Silone: Vom Schrecken des Wohlfahrtsstaatess, FORVM VIII/92 und 93.

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