FORVM, No. 101
Mai
1962

Kein Richter über Österreich

Die Situation des andern sofort zu „erfassen“, immer auch die des andern, also die Ambivalenz jeder Situation zu erkennen — das bedeutete für den von Deutschland emanzipierten Österreicher, der nun sein Österreichertum mit so vielen nichtdeutschen Landsleuten zu teilen und aus der Wechselwirkung mit ihnen es überhaupt erst zu formen hatte, einen fundamentalen Lebensbehelf, ohne den er gar nicht hätte auskommen können. Und um sich in den andern „hineinzudenken“, bis zur Charakterlosigkeit gar — dazu gehört für ihn nicht viel, weil ja der andre sich längst in ihn hineingelebt hat, weil tschechische oder ungarische, italienische oder polnische Herkunftsteile längst in ihn eingegraben sind, längst zum χαρακτήρ geworden, der sich dann freilich als Charakter weder im Sinne einer unverwechselbaren Wesensart erweisen kann noch im Sinne einer unverrückbaren Haltung (sondern wenn irgend von einem character delibilis die Rede sein darf, dann hier).

Aber nicht nur der „Charakter“, auch die „Dialektik“ wird man im österreichischen Zusammenhang immer in der ihr gemäßen Doppelgültigkeit zu verstehen haben. „Es gibt auf dem ganzen Planeten keine Menschenkategorie, die das Sprechdenken, die sprachsinnliche Meisterschaft, das quälend Dialektische des Sinnierens derart beherrschte wie der Österreicher“, schreibt Robert Müller; und hat damit die Bahn freigelegt zu einer der fulminantesten Formeln, die jemals für jenen gewaltigen dialektischen Dichter gefunden wurden, der weiten Kreisen immer noch als Dialektdichter gilt: Johann Nestroy. „Nestroy ist ganz österreichisch in seiner Rolle des Ethikers als Dialektiker. Das Reinmenschliche und Tiefe wird stets zweiseitig sein. Nestroys Dialektik ist Wesen, Blutkreislauf, Appetit, Sauerstoffverbrauch, rein kultiviertes Österreichertum.“

Soweit Robert Müller; also nicht sehr weit, aber enorm tief. Und dazu — nicht sehr tief, aber enorm weit — Egon Friedell in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“:

Nestroys Witterung für alles Komplizierte, Widerspruchsvolle, Vieldeutige, sich Kreuzende und Aufhebende in der menschlichen Natur, seine Gabe, gerade die halben, gemischten, gebrochenen Seelenfarben auf seine Palette zu bringen, machten ihn zum Erben und Fortsetzer Lawrence Sternes und stellten seine Bühnenpsychologie neben die moderne Chromatik eines Wilde und Shaw. Und auch darin erinnert er an die beiden Iren, daß er ganz skrupellos gerade die ordinären Sorten der Bühnenliteratur: das Familienmelodrama, den Schwank und die Posse bevorzugte, aber zugleich im höchsten Maße veredelte, indem er ihnen seinen reifen, funkelnden, facettenreichen Geist einpflanzte. Er nahm eben nichts ernst, auch sein eigenes Handwerk nicht ... Über das alles hinaus hat Nestroy in seinen Lustspielen die ganze Luft seiner Stadt und Zeit eingefangen, einer Zeit, die in ihrer eigenartigen Poesie so nie wiederkehren wird: und damit hat er die höchste Aufgabe des Komödienschreibers erfüllt ... Ein Vierteljahrhundert nach dem Tode des Dichters aber schrieb der Literarhistoriker Emil Kuh, daß eine Zeile Halms Nestroy ‚ästhetisch unsichtbar mache‘. Durch solche ‚Fachurteile‘ irregeleitet, hat sich der Blick des Publikums jahrzehntelang nur an die rohen Formen gehalten, die Nestroy als täuschende Emballage benützte, um eine ganz verbotene Ware, nämlich Philosophie, aufs Theater zu bringen ...

Das alles hat Nestroy getan und das alles ist er gewesen. Auch wird er sich den Partnern aller Vergleiche gewachsen zeigen, die man zu seiner Ehre heranziehen mag, von Aristophanes bis Shaw (wobei die Ehre ganz auf seiten Shaws liegt). Und wer das Glück hatte, englische Schauspieler in Rüpelszenen Shakespeares zu sehen und ihr Cockney zu hören, dem ist endgültig aufgegangen, welcher von allen Vergleichen die meiste Substanz besitzt. Nur eines wird sich aus Nestroy, dem Dialektiker und Philosophen, dem Sittenschilderer und Zeitsatiriker und Gesellschaftskritiker, dem Bühnen- und Menschenkenner und -gestalter — nur eines wird sich aus diesem Allerweltsgenie nicht machen lassen: ein Schriftführer des österreichischen Selbstgerichts. Nicht etwa weil er aus patriotischen Gründen für eine solche Stelle ungeeignet oder sonstwie von ihr überfordert wäre; sondern weil sie ihm, im Gegenteil, nicht genügt, weil sie für ihn keine Stelle und ihre Funktion für ihn kein Gegenstand ist. Um das eigene Volk — oder welches immer — vors Tribunal zu fordern, muß man es für mündig erklären und nicht für einen „Ries’ in der Wieg’n“. Um eine Nationalschande anzuprangern, muß man eine Nationalehre akzeptiert oder mindestens postuliert haben. „Nationalehre“, findet jedoch Nestroy, „ist die Koketterie der Völker, vermöge welcher jedes Volk glaubt, das Hauptvolk zu sein, so wie der einzelne Mensch nur darum jeden seinen Nebenmenschen nennt, weil er sich für den Hauptmenschen hält.“ Vielleicht, wenn Nation und Ehre in Österreich eine größere Rolle zu spielen bekommen hätten (es hätte nicht unbedingt die Hauptrolle sein müssen, und die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre, nicht unbedingt nichtswürdig) — vielleicht wäre Nestroy dann in der Rolle des Gegenspielers aufgetreten. So aber ging er, wenngleich auf einer unendlich viel höher gewundenen Treppe, mit seinen Landsleuten konform. Weder kam er ihnen entgegen noch wandte er sich von ihnen ab. Er war der überdimensionale Schatten, den sie auf den Prospekt der Weltbühne warfen, und er hatte den ganzen Horizont für sich: ein Österreicher wie sie, aber so sehr über sie hinausgewachsen, daß er sich mit ihren arteigenen Schwächen nicht eigens abgeben konnte.

Natürlich sah er sie, und gelegentlich ließ er sogar merken, daß er sie sah. Gelegentlich, in einer kleinen Szene, in einer Episodenfigur, in einer aktuellen Coupletstrophe, schlägt der Blitz dergestalt ins Österreichische ein, daß selbst ein „eleganter Saal im Hause des Fabrikanten Steinrötl“, wo sich der erste Aufzug von „Weder Lorbeerkranz noch Bettelstab“ abspielt, augenblicklich zur dumpfen Stube wird und die ganze Gesellschaft zu Urahne, Großmutter, Mutter und Kind aller ewig österreichischen Defekte, mitsamt dem Dichter Leicht, der soeben sein neues Stück vorgelesen hat (und dem eigentlich unser Mitleid gelten sollte).

STEINRÖTL: Gehn wir jetzt lieber zum Essen, das is g’scheiter.

ÜBERALL: Ich glaub’s, daß das g’scheiter is als so ein Stuck —

STEINRÖTL: (zu Grundl) Herr von Grundl, zum Souper ... Was is denn das ... Der Mann is gar nicht zum Erwecken.

MEHRERE: (schreien tüchtig zu ihm) Herr von Grundl!

GRUNDL: (sich die Augen reibend und erwachend) Bravo — recht charmant! (Er applaudiert noch halb im Schlaf.)

LEICHT: (beiseite) Der tut mir eigentlich die allergrößte Sottise an.

ÜBERALL: (zu Leicht) Sagen Sie mir — g’fallt Ihnen Ihr Stuck?

LEICHT: Ja.

ÜBERALL: Mir nit! (Mischt sich wieder unter die Gesellschaft.)

GRUNDL: (zum Direktor) Der Herr Theaterdirektor werden doch das Stuck aufführen lassen? Wie g’fallt’s denn Ihnen?

DIREKTOR: Ja, sehen Sie — ich werde — wenn auch — Sie wissen — die Umstände — in Berücksichtigung dessen — und folglich —

LEICHT: (beiseite) Der fällt ein klares Urteil über meine Dichtung. (Zum Direktor) Im Ernst, Herr Direktor, Sie müssen mir das Stuck abkaufen.

DIREKTOR: (verlegen) Oh, ich bitte — Sie können ja — und wenn dann —

LEICHT: (laut) Spaß apart, ich brauch grad ein Geld, ich gib Ihnen’s billig.

DIREKTOR: (die Achseln zuckend) Die gegenwärtigen Verhältnisse —

LEICHT: Wissen S’ was, da hab ich noch ein Stuck. (Zieht noch ein Manuskript hervor) Jetzt nehmen Sies’ alle zwei, ich gib Ihnen ’s Paar um sieben Gulden, billiger kann ich’s nicht tun —

STEINRÖTL: Zum Souper, sonst wird der Champagner kalt.

ALLE: Zum Souper!

(Alle ab, bis auf Agnes, Blasius und Leicht)

LEICHT: Das ist niederträchtig!

BLASIUS: Was? Dein Stuck?

LEICHT: Nein, die Behandlung hier im Haus.

BLASIUS: Mein Gott, es is halt ein bürgerlicher Kreis, lauter aufrichtige Leut’. Die heißen dich einen Esel ins G’sicht, aber bloß aus Biedersinn und Gutherzigkeit.

LEICHT: Mein Stuck is nicht schlecht, es hat gute Gedanken und Spaß genug.

BLASIUS: Aber es hat witzige Gedanken.

LEICHT: Und is das etwan nicht recht?

BLASIUS: Freilich nicht. Ein G’spaß soll niemals witzig sein, sondern so gewiß sentimental gutmütig, daß man mit’n halbeten G’sicht lachen und mit der andern Hälfte weinen kann. Wir sind biedersinnige, gemütliche Menschen, wir wollen überall Rührung, was fürs Herz.

LEICHT: Ihr seids dumme Menschen in höchstem Grad.

BLASIUS: Du, red’ nicht so laut, wenn das einer hört von die gutmütigen Leut’, so tragt er dir’s nach in zehn Jahren. Du hast dir heut’ ohnedem durch dein frivoles Benehmen viele Feinde hier gemacht, du wirst sehn, wie dein Stuck aufg’führt wird, die gehn alle hinein und pfeifen dir’s aus, aber bloß aus Biedersinn und Gutherzigkeit ...

Wer hier sein Wien und seine Wiener nicht erkennt, an dem ist wohl auch die tschechische Urbildhaftigkeit des Schneiders Copak (aus den „Eisenbahnheiraten“) verloren, der sein Mündelkind Nanni mit dem jungen Portrait- und Zimmermaler Patzmann konfrontiert, sich mit freundlich ermunterndem Lächeln zuerst bei Patzmann erkundigt, ob er denn wirklich die Nanni heiraten will, dann bei der Nanni, ob ihr auch wirklich „g’fallte der Herr da“, und beider begeistertes Ja mit dem unverändert lächelnden und unverändert freundlichen Bescheid quittiert: „Gut, kriegste nicht den da Herrn.“ Auch wird die Erfahrung, daß der umstürzlerische Elan des Österreichers zum Ausbruch erst der höheren Billigung bedarf, sich schwerlich kürzer fassen lassen als in diesen drei Coupletzeilen (aus „Freiheit in Krähwinkel“):

Auf ein’ Wink, wie von oben,
Hat sich Östreich erhoben,
Dieser merkwürdige Schlag ...

Aber derlei Zeit- und Lokalbezogenheiten, die Nestroy sich gewissermaßen unterlaufen läßt, erdrücken dann meist mit ihrem spezifischen Gewicht den spezifischen Anlaß, wirken unproportioniert, nicht „grad so, wie wenn man einem Walfisch eine Bischkotten zu fressen gibt“, sondern einem Kanari eine Kalbsstelze. Selbst Karl Kraus scheint in seinem grundlegenden Essay „Nestroy und die Nachwelt“ etwas von dieser Unverhältnismäßigkeit gespürt zu haben; sonst hätte er, dem Nestroys aktuelle Valeurs und Validitäten über alles gingen, sie nicht alsbald wieder in die Zeitlosigkeit hingedeutet, sonst wäre aus Nestroys „Zeitgenossen“ nicht schon nach wenigen Zeilen seine „Menschheit“ geworden:

Was hat Nestroy gegen seine Zeitgenossen? Wahrlich, er übereilt sich. Er geht antizipierend seine kleine Umwelt mit einer Schärfe an, die einer späteren Sache würdig wäre. Er tritt bereits seine satirische Erbschaft an. Auf seinen liebenswürdigen Schauplätzen beginnt es da und dort zu tagen, und er wittert die Morgenluft der Verwesung ... Mit welcher Inbrunst wäre er sie angesprungen, wenn er sie nach fünfzig Jahren vorgefunden hätte! Wie hätte er die Gemütlichkeit, die solchen Zuwachs duldet, solchen Fremdenverkehr einbürgert, an solcher Mischung erst ihren betrügerischen Inhalt offenbart, wie hätte er die wehrlose Tücke dieses unschuldigen Schielgesichts zu Fratzen geformt ... Der Problemdunst allerorten, den die Zeit sich vormacht, um sich die Ewigkeit zu vertreiben, raucht über seinem Grab. Er hat seine Menschheit aus dem Paradeisgartel vertrieben, aber er weiß noch nicht, wie sie sich draußen benehmen wird.

Und das ist es ja auch, weshalb er der „kosmische Hanswurst“ heißen darf: weil es ihm um die Menschheit geht. „Er hat die Welt nur in Kleingewerbetreibende und Hausherrn eingeteilt, in Heraufgekommene und Heruntergekommene, in vazierende Hausknechte und Partikuliers ... Er hat aus dem Stand in die Welt gedacht.“

Daß es Stände waren, wie er sie aus Österreich kannte, ordnet ihn keinem österreichischen Selbstgericht bei, sondern macht ihn zum österreichischen Mitglied eines Weltgerichts (dem mit andrem Mandat auch Karl Kraus angehört), macht ihn zum durch und durch österreichischen Weltrichter. Bei Nestroy, und nur bei ihm, fungiert Österreich als Subjekt der Gerichtsbarkeit, nicht als ihr Objekt. „Dies Österreich ist eine kleine Welt / In der die große ihre Probe hält“, meinte Hebbel und mochte recht haben. Für Nestroy ist die Welt ein großes Österreich, und es ist nicht einmal sicher, ob sie gar so groß ist.

Die hier abgedruckten Exzerpte entstammen dem Essay „Österreichisches Selbstgericht in der Literatur / Versuche von Grillparzer bis Karl Kraus“, den Friedrich Torberg für das Sammelwerk „Spectrum Austriae“ (Herder-Verlag, Wien und Freiburg) geschrieben hat.

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