FORVM, No. 313/314
Januar
1980
Jochen Steffen:

Keine Angst vor Strauß!

Interview

Joachim Steffen, jahrzehntelang Vorsitzender der schleswig-holsteinischen SPD und linkes Paradepferd im Parteivorstand, hat seiner Partei kurz vor ihrem letzten Parteitag den Rücken gekehrt. In der Austrittserklärung in Form eines Briefes an seinen Nachfolger Günther Jansen (erschienen in der Tageszeitung vom 29. November 1979) führt Steffen als Anlaß und letzten Anstoß das „Zwischenlagerungskonzept“ der Bundesregierung an, d.h. ihre Entschlossenheit, Atomkraftwerke weiterzubauen, ohne daß eine Atommüllentsorgung gesichert ist.

Jochen Steffen wird die Grünen wählen, für sie Kabarett machen, aber nicht wieder in den politischen Ring steigen. Er wohnt jetzt mit Frau und zwei schwarzen Hunden in einem Bauernhaus an der Landstraße im niederösterreichischen Alpenvorland und ist voll des Lobes über die Arbeitsplatzsicherungspolitik der SPÖ. Mit ihm sprachen Michael Siegert von der FORVM-Redaktion und Max Mehr von der Tageszeitung, West-Berlin.

Jochen Steffen mit Hund Kuddel
in seinem rustikalen Refugium in Gresten bei Scheibbs

Räudiges HJ-Schaf

Wie lang warst du bei der SPD?

STEFFEN: Seit Februar 46.

Warum bist du eingetreten?

STEFFEN: Weil ich Sozialist bin.

Seit wann?

STEFFEN: Etwa seit meinem 15. Lebensjahr.

Und warum? Da war ja noch der Hitler.

STEFFEN: Ja sicher, ich bin Jahrgang ’22. Zunächst: 1933 war ich 10 Jahre. Meine Mutter stammt vom Lande, hat ne einklassige Dorfschule besucht, mein Vater war damals ein städtischer Angestellter, Stadtobersekretär. Ich war also der erste der Großfamilie, der eine Oberschule von innen gesehen hat, das Wunderkind der Sippe.

Damals begann die Oberstufe mit 10 Jahren, die Umschulung war eines meiner Schlüsselerlebnisse. Meine Mutter weinte, weil sie mir nicht mehr helfen konnte, weil sie die Grammatik nicht verstand, weil sie nicht wußte, was ein Substantiv ist zum Beispiel, woher sollte sie das wissen. Und durch die Berufe der Väter der Klassenkameraden war man absoluter Außenseiter. Im wesentlichen waren das die Söhne von Marineoffizieren. Du mußtest ganz einfach versuchen, dich als Zehnjähriger. selbst zu behaupten.

Klassenkampf in der Klasse?

STEFFEN: Nein, den braucht’ ich nicht zu fürchten, weil ich ein guter Boxer war. Ich mußte sehr früh versuchen, das zu finden, was man mit einem so schönen deutschen Wort Identität nennt. Und damals kostete die Oberschule im Monat 20 Mark, das war viel Geld, und diese 20 Mark fehlten an der Miete, und deshalb wohnte man, was meine Mutter immer als sehr schmerzlich empfand, nicht in der typischen Gegend des kleinen Angestellten, später die Gegend des kleinen Beamten, sondern in einer ausgesprochenen Proletengegend. Da gehörtest du aber auch nicht dazu. Wir waren im ganzen Viertel drei Jungs, die in die Oberschule gingen, die anderen gingen mit 14 mit dem Bauch aufs kalte Eisen, auf die Werft. Oder die Mittelschüler wurden vielleicht Feinmechaniker oder so.

Na ja, und dann hatte ich also sehr früh in Vaters Schreibtisch, ganz hinten, das Kommunistische Manifest gefunden. Er hatte sich einmal als junger Angestellter mit politischer Theorie befaßt. Und das Kommunistische Manifest war also furchtbar einleuchtend und wurde meine Bibel. Dieser Massenbetrieb, Wanderung, Kriegspielen und das Lager, das störte mich überhaupt nicht, was mich störte, war das Militärische und das Kujonieren der Abweichler.

Dann wurde ich aus der Hitlerjugend rausgeschmissen. Dann wurde von der ganzen Schule gefeiert, und du mußtest antreten und wurdest dann vorgestellt as räudiges Schaf. Das war ’37, da war ich 14 Jahre, und das ist von 14jährigen auch nicht ganz einfach zu verkraften.

Das war deine „Jugendweihe“.

STEFFEN: Ja, und bei uns in dem Viertel lerntest du natürlich die Leute kennen, und da kriegte ich einen Schriftsetzer, der Bücher aus der Büchergilde Gutenberg hatte. Bei dem kriegte ich die ganze verbotene Literatur, und der mochte mich sehr gerne, denn sein Sohn war ein überzeugter Hitlerjugendführer.

Da hat er dich also ideologisch an Sohnes Statt angenommen.

STEFFEN: Ganz so war’s nicht, aber ein bißchen.

Vier Stunden blöd schaun

Das war ein Sozialdemokrat?

STEFFEN: Gewerkschafter. Er war politisch nicht organisiert gewesen. Dann hab ich in den Ferien immer gearbeitet, auf dem Bau, bei der Post, und da hattest du dann auch so deinen Bekanntenkreis. Das machte ich auch des Geldes wegen, denn wenn ich modisch angezogen sein wollte, das war bei den Alten zu knapp. Ich vergeß das nie, als ich mit dem ersten Geld ein Jackett gekauft hab, das kostete 90 Mark, da geriet der Alte aus dem Häuschen.

Das war natürlich auch das Bestreben, es den andern ganz einfach zu zeigen, das kann ich auch. Das waren entweder Kommunisten, mit denen du klar reden konntest, oder es waren linke Sozis, wir alle waren ja hilflos. Dann sagten die, da konntest du so dahingehen in ihre Kneipen, da sagten die, der Junge ist in Ordnung. Da konntste schnaken, konntste sagen, waste denkst. Na, und da war ich Sozialist.

Bist du eingezogen worden?

STEFFEN: Ich war vier Jahre Soldat. Als Abiturient hab ich dann beschlossen, nicht Offizier zu werden, das wollt ich nicht. Ich wollt unter Hitler kein Offizier sein, was verhältnismäßig einfach war — du brauchtest dir nur die entsprechende Anzahl Disziplinarstrafen zu besorgen, die kriegtest du ziemlich einfach. Ich habe so insgesamt 90 Tage Bau beim Militär gehabt und wurde dann als Obergefreiter entlassen, was mich sehr ärgerte, ich wollte nämlich Hauptgefreiter werden.

Die Prüfung dazu hatte ich auch schon abgelegt, sie bestand darin, daß du vier Stunden aus dem Fenster gucken konntest, ohne dir was dabei zu denken. Du mußtest dich auf einem ganz bestimmten Level seelischer und physischer Unempfindlichkeit schaukeln, sonst kannst das nicht ertragen, vier Jahre lang, und du mußt auch regelrecht den Idioten spielen. Wenn die dir sagen, was sind die Hauptteile des Gewehrs, mußt du sagen, du weißt es nicht. Dann sagt er, kommen Sie nach vorne, fassen Sie an! Das ist der Lauf, und so. So mußt du das machen.

Überlaufen wollte ich nicht, weil ich der Sowjetunion nicht traute. Ein sehr wichtiges Buch für mich war vor dem Krieg „Der verratene Sozialismus“ von Albrecht. Und trotzdem habe ich mir nach ’45 überlegt: Soll ich Kommunist werden ?

In der Werft, ein Drittel etwa sind heute noch KP-Leute, das sind Alt-Edelkommunisten, meistens keine DKP-Leute, die sagten zu mir, ob ich nicht in die KP eintreten wollte, zu ihnen gehören. Da hab ich gesagt: Das würde ich mir auch überlegen, aber da gibt es ein paar Sachen, die Stalinsche Säuberung und die Art und Weise von Industrialisierung und Kollektivierung und nicht zuletzt die, wie ich meinte, rein imperialistische Besatzungspolitik in Deutschland. Ein Betriebsratsmitglied, sein Sohn war umgekommen, versuchte zu rechtfertigen, zu erklären, warum es so sein muß: Du kannst dich drauf verlassen, die Genossen oben, in der Sowjetunion, die wissen auch, was nicht richtig ist. Die kennen die Prinzipien. Da sag ich: Ja weißt du, ich glaub, die kennen sie gar nicht mehr, die haben sie schon völlig vergessen. Und da hat er mich so am Kragen gepackt und hatte Tränen in den Augen, hat mich geschüttelt und dann hat er geschrien: Die dürfen nicht vergessen haben, woran ich mein ganzes Leben lang geglaubt habe!

Wegen Kind zur Politik

Du bist dann sehr früh Vorsitzender der Jusos gewesen.

STEFFEN: Das ist wahr.

Was heißt Karriere in dem Zusammenhang?

STEFFEN: Ja, ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, wahrscheinlich kannst du dir die SPD in der damaligen Zeit nicht mehr so vorstellen. Das war noch ein ganz anderer Laden: Funktionär zu sein, das bedeutete damals: Meine Frau hat gearbeitet, ich hab studiert. Das bedeutete praktisch, daß du Geld und Zeit — und Geld war verdammt knapp —, daß du das in den Laden stecken mußtest. Das war eine gewaltige Sache, daß der Kassierer, der hieß Theodor Werner, der 1890 Mitglied geworden war, daß der also sagte: Du fährst soviel mit der Straßenbahn. Bring mir mal diese Zettel, das Geld kriegst du wieder.

Was hast du studiert?

STEFFEN: Ich hab angefangen Germanistik, Französisch, dann hab ich Geschichte, Soziologie, politische Wissenschaften und Philosophie studiert, und dann war ich Assistent am Seminar für Wissenschaft und Geschichte der Politik. In Kiel sind jetzt, glaub ich, dreimal soviel Studenten wie zu meiner Zeit. Da waren an und für sich ein paar Professoren, mit denen ich ein sehr persönliches Verhältnis gehabt habe.

Warum bist du nicht dabei geblieben, sondern bist in die Politik gegangen?

STEFFEN: Fangen wir bei den materiellen Gründen an. Geheiratet habe ich am 11. Mai ’45 — drei Tage nach der Kapitulation. Dann hat meine Frau gearbeitet, ich hab studiert und Politik gemacht. Wenn wir ein Kind haben wollten (wir wohnten in einem Zimmer zur Untermiete), mußtest du also soviel Geld verdienen, daß die Frau als Erwerbsträger ausfällt.

Und so bist du Journalist geworden?

STEFFEN: Ja. Und da war ich bei einer sozialdemokratischen Zeitung, die hieß Kieler Volkszeitung. Und hab dort Leitartikel geschrieben, politische Reportagen gemacht und Glossen geschrieben.

Das war damals eine Zeit, die man sich heute überhaupt nicht vorstellen kann, wo um politische Positionen überhaupt nicht gekämpft wurde. Der Landesvorsitzende rief mich eines Tages an, eine prima Type, und sagte, weißt du, ich möchte ja nicht, daß ich auf dem nächsten Parteitag weniger als die Hälfte der abgegebenen Stimmen kriege, und ich mach das auch lange genug, und der Landesverband ist auch finanziell wieder konsolidiert; das ist ein geordnetes Haus, und ich hab also mit mehreren Genossen gesprochen, und die meinen eigentlich, du solltest das machen.

Hofübergabe?

STEFFEN: Ja, so! Da war ich schon Landtagsabgeordneter.

Wann war das?

STEFFEN: Glaub, ’66.

Frau chauffiert, Ehe hielt

Was macht so ein Parteivorsitzender? Was tut der den ganzen Tag? Was ist das für ein Leben?

STEFFEN: Wie Hund.

Was macht ein Hund?

STEFFEN: Arbeitet, ohne daß er sieht, was eigentlich dabei rauskommt, wie das bei politischer Arbeit überhaupt ist. Nach unserer schleswig-holsteinischen Landesverfassung ist der Führer der Opposition protokollarisch im Ministerrang. Da hat er also sein Büro, und dann hast du Anrecht auf Dienstwagen und einen Chauffeur. Das hab ich abgelten lassen, und meine Frau hat mich gefahren, damit wir uns nicht nur zum Frühstück sahen.

Und dann sind wir die erste Fraktion in der Bundesrepublik gewesen, die einen wissenschaftlichen Apparat aufgebaut hat. Und der war sehr gut, ausgezeichnet, ein hochleistungsfähiger Apparat, völlig enthierarchisiert, der nach ganz unbürokratischen Methoden arbeitete.

Morgens um acht ging’s los. Dann hattest du deine Post, deine Akten, deine Fraktionssitzungen, die jeweiligen Arbeitskreissitzungen, dann hattest du deine Reden und Diskussionen. Da das Straßennetz nicht sehr gut ist, kamst du eigentlich selten vor 2 Uhr ins Bett. Dann kamen natürlich die Parlamentssitzungen, die Debatten, du warst ja Wortführer. Ich habe keine Woche mit weniger als fünf Versammlungen gehabt; die ich deshalb für wichtig halte, weil die Menschen, die uns wählen, die müssen mir vertrauen. Weil die Zusammenhänge sehr kompliziert sind und du taktische Manöver fahren mußt, und du mußt deine Taktik, wie ich glaube, ständig vor ihnen darlegen. Damit sie dir sagen können, was ihnen paßt, was ihnen nicht paßt, was sie anders haben möchten. Du mußt ständig kontrolliert sein. Und du mußt von ihnen ständig hören, ob du die richtige Welle hast. Anders geht das nicht.

Aber es ist natürlich eine enorme psychische und physische Belastung. Und nebenbei mußt du natürlich versuchen, in der grundlegenden Literatur immer halbwegs auf dem laufenden zu sein. Das bezahlst du alles sehr hoch. Und dann bin ich also krank geworden ...

Eine der exemplarischen Sachen, die wir gemacht haben, war, daß wir als Landesverband ein Entspannungsprogramm vertraten, von dem die andern noch nicht zu reden wagten.

Also praktisch das Programm der späteren Ostverträge.

STEFFEN: Ja. Da lernte ich dann auch den Parteivorsitzenden zum erstenmal in einem langen persönlichen Gespräch kennen, und seine erste Frage war ...

Wer war das damals?

STEFFEN: Willy der Erste! Egon Bahr war sein Pressechef, in Berlin, er war Bürgermeister, und seine erste Frage war (wir hatten das verkündet als einen Aufruf zum Kommunalwahlkampf): Versprichst du dir davon irgendwelche Stimmen für die Kommunalwahlen? Da sagte ich, das sei eine so intelligente Frage, daß ich mich wundere, wie ein Mensch mit so geringer Überlegungsfähigkeit Parteivorsitzender werden könne.

Das hast du ihm ins Gesicht gesagt?

STEFFEN: Ja, dafür war ich berühmt. Innerhalb des SPD-Spektrums galten wir als die Idioten, weil wir ziemlich alles anders gemacht haben als die anderen. Aber wir waren damit, glaub ich, ganz erfolgreich. Schleswig-Holstein ist für die Bundesrepublik ein atypisches Land, auch in historischer Sicht, weil wir eigentlich weder zu Dänemark noch zu Deutschland gehören. Mit Hilfe der Österreicher sind wir ja von unserem „angestammten“ dänischen Königshaus losgerissen worden ... Meine Großmutter war Anti-Bismarck, die war Autonomistin.

Daher kommt also deine Vorliebe für Österreich?

STEFFEN: Kann ich nicht sagen. Zumal die Österreicher in den Kämpfen besonders Kroaten verheizt haben. Das kannst du doch an den Gedenksteinen lesen. Fast alles kroatische Linienregimenter, die sie da verheizt haben. Das Blut der anderen ist ja immer das billigste.

Schleswig-Holstein ist auch atypisch, typisch, denn wir haben nur die Hälfte des Industriebesatzes auf 1.000 Einwohner, als es dem Bundesdurchschnitt entspricht. Dazu kam die Strukturkrise der Landwirtschaft. Da kommt natürlich auch dazu, daß auf der anderen Seite das Hamburger Randgebiet enorme Strukturprobleme hat. So eine Stadt wie Hamburg quält ja immer.

Deutscher Herbst 1971

Da haben wir dann in unserer Kommission gesagt, gut, wir machen jetzt einen wirklichen Konfrontationswahlkampf. Der war für damalige Verhältnisse unwahrscheinlich. Wir hatten da schon keine eigene Zeitung mehr, weil die Springer-Presse enorm einstieg. Mit dem Ergebnis, daß sie praktisch die letzten potentiellen Wähler, Sozialdemokraten, mobilisiert hat.

Für wen?

STEFFEN: Für die Sozis. Dann ging das los mit den Morddrohungen, da haben wir dann drei Monate unter Polizeischutz gelebt, du konntest nicht allein pinkeln gehn, einmal hatte ich in die Hose gepißt ...

Wieso?

STEFFEN: Na, weil der Kripo erst die Toilette überprüfen mußte, bevor ich pinkeln gehn konnte. Das war bei einer Versammlung, und ich hatte solchen Druck. Und da hattest du deine Leibwachen, und die mußten dir durch die vollen Säle die Bahn brechen, damit du überhaupt nach vorne kamst. Das war ähnlich wie in Wildwest. Die hatten dann die Kanone hier und saßen dann so, und wenn einer dann komisch aussah ... Da war einer von den Beamten, ein Berliner, eine prima Type, der sagte: Also wissen Se, sagte er, da war wieder nischt. Da sah so einer aus wie ein richtiger Mörder.

Ist ja wie deutscher Herbst. Wann war das?

STEFFEN: ’71. Na, wenigstens bekamen wir 41 Prozent. Und bekamen dann bei der nächsten Bundestagswahl 46.

Wo hast du angefangen, bei welchem Level?

STEFFEN: Mit 37, bei Landtagswahlen. Wir waren in der SPD die ersten, die die humane und ökologische Kehrseite des Wachstums erkannt haben. Und zwar aus der rein praktischen Sache, daß überall Bürgerinitiativen auftraten.

Jochen Steffen:
Im deutschen Herbst in die Hose geschifft
Was war euer konkreter Ansatzpunkt?

Der Nordseeökologe

STEFFEN: Mein Sohn war damals ein jugendlicher Leistungssportler und war auch ein paarmal Landesmeister, 100 Meter und Weitsprung und so was ... und dann kam er in diese modernen Leistungszentren, wo die nationale Elite gezüchtet wird, und da kam er mal wieder und sagte, da mußt du mal mitkommen, da geh ich nie wieder hin. Ich fragte: Warum? Sagte er: Da wirst du in Maschinen eingespannt. Das wurde eine ganz andere Art von Sport, als ich kennengelernt habe (ich bin auch bei den deutschen Jugendmeisterschaften mitgelaufen). Mir imponierte das sehr, daß der Junge sagte, nein, das mach ich nicht, das ist mir das nicht wert. Ich bin ein Mensch und will hier nicht zur Maschine gemacht werden. Und dann kamen in den Betrieben, etwa gleichzeitig, produktivitätssteigernde Produktionsformen, die ganz offensichtlich die Seele und die Nerven des Menschen zerfetzen. Das war also genau das gleiche.

Jetzt kam noch hinzu, daß ich bei der Wasserwirtschaft kapierte, daß wir es eigentlich völlig falsch machen. Das muß ich kurz erklären. Der Regen, der an der Ostsee fällt, bewässert die Nordsee, d.h. er fließt durch unser ganzes Land. Die Wasserwirtschaftsausgaben in Schleswig-Holstein für die Flußkanalisierung waren sehr hoch. Was dazu führte, daß die Nordsee jetzt unter dem Festland vordringt, weil durch die Kanalisierung der Flüsse der Grundwasserspiegel sinkt. Jetzt dringt das Nordwasser über den gesunkenen Grundwasserspiegel vor.

Es kommt also Salzwasser in den Boden.

STEFFEN: Genau. So daß du jetzt wiederum projektieren mußt, Wasserspeicher in der Mitte des Landes zu machen, um den Grundwasserspiegel wieder anzuheben ... letztlich ein irres Perpetuum mobile, weil du einfach nur den akuten Schaden behoben hast, ohne zu sehen, welches ist der Gesamtzusammenhang. Da haben wir das in die SPD eingespeist, und du konntest es einspeisen, weil jetzt die Leute an der Basis, in den Kommunen, die Bürgerinitiativen erlebten.

Der Anarchistenprediger

Wann hat das begonnen?

STEFFEN: Das fing so ’71/72 an.

Waren das dann zugleich auch Wahlhilfegruppen für die SPD?

STEFFEN: Ja. Da muß ich mal von mir reden. Ich war, glaub ich, der einzige Sozi, der jahrelang auf deutschen Universitäten auftreten konnte, ohne gleich ausgepfiffen zu werden. Ich hab immer mit Minderheitengruppen sehr gut sprechen können, z.B. der Thomas Weißbecker, den kenn ich noch, als er Schülervertreter war, ich ging immer hin zu politischen Diskussionen mit Schülervertretungen. Den haben sie in Berlin umgenietet ... der landete nachher bei den Anarchoterroristen. Sein Vater war Professor auf der Universität, und auch der von Georg von Rauch.

Seine Bücher über Rußland hab ich gelesen.

STEFFEN: Kannst dir vorstellen, was soll dessen Sohn werden. Bei dem Weißbecker war das deshalb so entsetzlich, weil der Vater ja die ganze Hitlerzeit über im KZ gesessen hat, als nicht-arischer Mensch. Es war furchtbar. Da habe ich gemerkt, praktisch von einem Tag auf den andern, daß sich etwas grundlegend änderte. Vor diesem Tag konntest du sie fragen: Was wollen Sie einmal werden? Dann sagte dir einer, der noch ein Jahr hatte bis zum Abitur, ich will das Abitur machen, und dann will ich das und das studieren, und mit 65 hab ich die Pensionsstufe. Und praktisch von einem Tag auf den andern war das völlig anders.

Wann war der Tag?

STEFFEN: Ja, so genau kann ich das auch nicht sagen, aber es war ’69/70. Wo plötzlich auch in der Bundesrepublik ein qualitativer Umschlag erfolgte. Eine Sache wie die Friedensmarschierer: Gegeben hat es sie immer, waren’s 50 Leute, so waren’s auf einmal 5.000. Es war etwas ganz anderes als ein normaler Generationenkonflikt. In den Bürgerinitiativen, das waren ja nur die Spitzen eines Eisbergs, drängte ein anderes Wertverständnis zur gesellschaftlichen Praxis, das mit unserem nicht konsensfähig war. Und das erlebten vor allem die Kommunalpolitiker an den Bürgerinitiativen. Und die kamen dann zu dir, richtige handfeste, ordentliche Genossen, und die sagten mir, Mensch, eigentlich haben die ja recht, die Leute, die Landschaft ist doch nicht für die Autos da, und da sollen wir ihnen jetzt ihre Vorgärten wegnehmen.

’73 haben wir gesagt, wir brauchen Investitionskontrolle und Investitionslenkung, denn bei uns wird ja der Strukturwandel weitergehen. Wenn wir das Wachstum inhaltlich bestimmen wollen, und das müssen wir, denn sonst können wir überhaupt keine Umweltpolitik betreiben, brauchen wir die Investitionslenkung und die Investitionskontrolle. Dazu gehört die Regionalisierung der Planung und Lenkung und ihre Demokratisierung, d.h. die Beteiligung der Betroffenen, institutionalisiert, weil ich größte Bedenken habe gegen das, was hier so perfekt entwickelt ist, nämlich die Demokratie der Apparate, was in Österreich eigentlich am perfektesten ist.

Bürgerinitiativen gegen SPD

Ich hab auch ein paar so Bürgerinitiativen durchgezogen in meinem Wahlkreis, gegen die SPD-Mehrheit im Rathaus! Du brauchst ja nur 65 Prozent Sozis wählen, dann brauchten sie nichts mehr für dich tun. Und dann machten wir Bürgerinitiativen gegen die Mehrheit im Rathaus! Da war ein Mann, ein Pfarrer, Protestant, mit dem konntest du über so was reden, weil er für so was eine Antenne hatte und das ja auch erlebte in seiner Praxis. Der kam von ganz rechts, und da mußtest du aufpassen, daß er nicht so weit nach links ging, daß du ihn nicht mehr sehen konntest. Die Protestanten haben ja den Vorteil oder auch den Nachteil eines hochgeschärften Gewissens. Und da haben wir mal den Betriebsrat von der Werft zusammengebracht mit dieser ersten Generation, da waren der Weißbecker und der Rauch auch dabei.

Was ist da passiert?

STEFFEN: Daß ein früherer Kommunist aufsprang, den Weißbecker beim Schlips kriegte und sagte, hör mal zu, wenn wir streiken, sagen wir das selbst und machen das nicht für euch, weil ihr mit diesem Scheißladen nicht klarkommt! Da hat der’s genau begriffen. In der Satire hab ich das so formuliert, die Arbeiterklasse war für sie eigentlich der große Knüppel, der Vatis verhaßte Welt kaputthauen sollte.

Eine andere Sache, die mir auffiel, war, daß sie kaum dazu kamen, ihre eigenen Flugblätter zu lesen, weil sie ständig neue produzierten. Es war eine unwahrscheinliche Hektik, und sie waren eigentlich sehr wenig fundiert. Was für mich wiederum ein Indiz dafür war, daß das Grundwellen waren, weißt du, im Meer gibt’s eine Grunddünung, das ist die wirklich starke, und dann gibt es den Schaum auf den Wellen. Was wir jetzt haben, ist der Schaum auf der Welle. Aber damals kam diese Grunddünung. Und das dritte, das mir auffiel, war, daß sie einen naiven Demokratismus hatten und daß sie gar keine Vorstellung davon hatten, was Faschismus wirklich ist.

Einer von den Jungs kam nach einer Veranstaltung von uns zu mir und sagte, dank dir, jetzt hab ich in die unverhüllte Fratze des Faschismus gesehen. Das hat mich so beeindruckt, weil der das wirklich so meinte. Der war ganz blaß und zitterte vor Erregung. Ich sagte, Junge, was ist denn passiert. Da sagte er, einer von diesen Bullen da draußen hat mir auf den Fuß getreten ... Ich sag, das hältst du für Faschismus ? Ja, sagte er, das ist Faschismus.

Ich wurde an den deutschen Universitäten herumgereicht, und da fiel mir dann auf, daß nach den ersten Repressionsschlägen die Verengung auf Zirkel und Dogmatisierung einsetzte. Rudi Dutschke fing an, Rosa Luxemburg zu lesen, die er vorher nur zitiert hatte. Es war dann beinahe, als ob man zu den Zeugen Jehovas ging. Was sich da so abspielt, das sind Glaubensgemeinschaften.

Ich halte das, um es einmal ganz drastisch zu sagen, für einen Aspekt einer kollektiven geistigen Erkrankung, von der die Bundesrepublik heimgesucht wird. Ich halte das echt für eine kollektive Erkrankung, wenn intelligente Leute sich hinsetzen, um über die These zu diskutieren, daß Sozis und Nazis das gleiche waren. Da finden ganze Radio- und Fernsehsendungen statt, die haben doch ne Meise.

Wie’s die Österreicher gemacht haben ...

Aber glaubst du nicht auch, daß sich diese ganzen partikularistischen und psychotischen Vereinsmeiereien jetzt langsam aufzulösen beginnen unter dem Druck einer größeren Fragestellung, nämlich der ökologischen?

STEFFEN: Sagen wir mal so: Meine Erfahrung in der SPD war sehr früh, daß sie nicht die Partei ist, die sie sein würde, wenn sie so wäre, wie ich es möchte. Der politisch-strategische Punkt war für mich, die Linke für den Zeitpunkt zu organisieren, wo Krise ist, hic Rhodus, hic salta, denn Krise erfordert eine neue Strategie. Das neue Prinzip war Vollbeschäftigung als oberstes Ziel, was die Österreicher gemacht haben. D.h., egal wieviel das Wachstum ist, egal wieviel das kostet, jeder der arbeiten will, muß arbeiten können.

Wenn das einer kapiert hatte, war das der Schmidt, den ich noch kenne, als wir beide zusammen im sozialistischen Studentenbund waren. Wir haben so, unter vier Augen, immer sehr gut miteinander reden können. Wie man das so in der SPD macht, hab ich dem gleich drei Briefe geschrieben und dann immer auf die Punkte hingewiesen, die ich für wichtig halte, immer in bezug auf Vollbeschäftigungspolitik. Und die ist eigentlich nie ernsthaft geführt worden, weil wir sofort mit der Frage anfingen: Werden wir dann noch in der Regierung sein? So schlicht läuft das. Es bedeutet ganz einfach einen Konflikt mit dem Koalitionspartner. Und den wollen wir nicht, also findet das nicht statt.

Was natürlich bedeutet, daß die neue Unterklasse schneller wächst, überproportional wächst, und die Ungleichheiten noch mehr wachsen. Wir haben im letzten Jahr eine Zunahme der Leute unterhalb der „milden Armutsgrenze“, das sind 20 Prozent der Haushalte („milde Armutsgrenze“ ist definiert worden als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens der Haushalte). Inzwischen sind es schon über 20 Prozent der Haushalte in der Bundesrepublik. D.h., die Ungleichheit wächst. Das größte Wachstum in der Bundesrepublik hatten dieses Jahr die Luxusreisen, die über 7.000 Mark kosten, die sind 14 Prozent gewachsen. In Österreich kann man sich nicht so richtig vorstellen, was es heißt, wenn ganze Stadtteile wirklich kriminalisiert werden. Jetzt hatte ich also das erstemal das, was bei uns seit Jahren gang und gäbe ist, den Vandalismus von Fußballanhängern.

Jochen Steffen:
Norddeutsches Lob für österreichische Vollbeschäftigungspolitik

Menschlich leben mit Hobbykünstlern

Wegen der Vollbeschäftigungspolitik bist du aus dem Parteivorstand ausgetreten?

STEFFEN: Ja. Ich glaub, es war das erste Mal in der Geschichte der SPD, daß einer gesagt hat, ich leg meinen Vorstand zurück. Wo sie alle so furchtbar drum kämpfen, daß sie hineinkommen. Ich muß da sagen, mir wurde regelrecht schlecht, als ich den Brandt im Fernsehen erlebt hab, daß wir endlich eine Vollbeschäftigungspolitik brauchen — bei 16 Millionen Arbeitslosen seit Jahren in der EWG! Da krieg ich einfach das Kotzen. Das macht mich krank. Ich kann das nicht ertragen. Ich geh dran kaputt.

Aber wie konntest du denn die anderen Sachen ertragen? Die massive Einschränkung politischer Freiheiten?

STEFFEN: Jeder hat so seine Sammlung von schweren Fehlern. Mein Fehler war, daß ich dem Brandt nur einen Brief geschrieben hab, statt das gleich öffentlich zu machen. Weil ja berechenbar war, was soll dabei rauskommen als Gesinnungsprüfung durch Bürokraten. Ich hätte das publik machen müssen. Ob man’s verhindert hätte, weiß ich nicht, aber die Diskussion wäre vielleicht ein bißchen anders gelaufen.

Der Punkt auf dem i ist für mich tatsächlich, daß sie, ohne Dämonisierung von Kernenergie, ganz einfach sagen, wir lassen das Ding weiterlaufen und machen Zwischenlagerung. D.h. eine Energiepolitik haben sie noch nicht, die haben wir ja seit 1950 nicht. Da wissen wir nur, daß wir eine haben müßten. Die Mängel werden also dadurch kompensiert, daß man die Gene von Generationen gefährdet. Denn das bedeutet die Zwischenlagerung. Daß man das Risiko läuft, das ist für mich unfaßbar, da kann ich nicht mitmachen. Die Menschen sind immer noch wichtiger als Wachstum. Da kann ich nicht mehr mit.

Die Grünen machten wenigstens an einem Punkt, das ist die Natur, ernst. Mir wär ja auch lieber, sie würden bei der Vollbeschäftigungspolitik anfangen als bei den Chausseebäumen.

Wenn du hier in Österreich sitzt, das wirkt ein bißchen wie die Flucht aus der harten deutschen Realität, die Butzenscheibenidylle ...

STEFFEN: Warum nicht, andere Leute gehen dazu ins Kino, nehmen Rauschgift oder so ...

Du nimmst Alpenlandschaft!

STEFFEN: Da gibt’s ja die verschiedenen Möglichkeiten, und die sind ja nur menschlich. Ein Mensch nach meinen Erfahrungen hält das nicht aus, nur unlösbare oder wachsende Probleme zu erleben. Kann kein Mensch ertragen.

Zuviel Deutschland kannst du nicht ertragen?

STEFFEN: Vielleicht. Ja.

Ist es eine Emigration?

STEFFEN: So dramatisch auch wieder nicht. Die Leute, die hier wohnen, sind meistens Pendler oder Arbeiter mit so ein bißchen Landwirtschaft und so. Mit den Leuten kommen wir prima klar. Gefällt uns ausgezeichnet. Seit Mitte der fünfziger Jahre haben wir nicht solchen menschlichen Kontakt gehabt wie hier, im Pensionistenverband der SPÖ. Da sind die Holzarbeiter und die Pendler und der Schuldirektor und so. Das ist eine prima Sache. So was gibt es in Deutschland nicht mehr, und so was ist für mein Wohlbefinden außerordentlich wichtig, daß du mit ganz normalen Menschen wie ein Mensch verkehren kannst, ohne daß da irgendwie gekatzbuckelt wird, oder so eine mitmenschliche Offenheit, so was mag ich, mit ganz normalen Leuten, das sind so Hobbykünstler oder was das alles ist. Der Vorsitzende ist ein ehemaliger Landarbeiter, ein ganz prima Kerl, von dem ich z.B. sehr viel gelernt hab, über soziale Realität, hier in dieser Gegend, wo ja auch noch etliche dicke Probleme liegen. Das gehört zu meinem Wohlbefinden, und das hab ich hier viel mehr und viel besser als in der Bundesrepublik, verstehst du?

Kabarett für die Grünen

Und die Frage, was man für die Grünen machen kann. Genau das nicht, daß ich da rumgehe und predige und so, weil ich das physisch schon nicht mehr kann. So’n Auftritt als Kabarettist kann ich vielleicht für’n Jahr, auch das ist eine anstrengende Sache. Vor allem, weil die Luft meistens sehr schlecht ist, relativ kleine Räume, und dann sind da 200 Leute drin. Eine enorme physische Belastung, als wenn du Holz gehauen hast, so schwitzt du. Das bring ich nicht mehr als 30mal im Jahr, und es ist eine Sache, die mir selber auch Spaß macht. Ich hab höchstens noch 70 Prozent der Leistungsfähigkeit eines gesunden Menschen in meinem Alter. Was man also tun kann, das nennt man, glaub ich, positiv kritische Begleitung, daß man ihnen also ganz nüchtern sagt, liebe Freunde, glaubt nicht, daß irgendeines der ökologischen Probleme mit Aussicht auf Erfolg anzupacken ist, wenn ihr nicht bereit seid, die dafür erforderlichen Arbeiten mit der Vollbeschäftigungspolitik zu verbinden und zu bezahlen, zum Teil aus der Konsumrate. Deshalb bin ich für mehr Gleichheit.

Aber nicht für eine Diktatur, die das erzwingt, wie Wolfgang Harich es will?

STEFFEN: Nein. Mit Diktatur geht das sogar ganz bestimmt nicht, weil die Diktatoren die ersten sind, die die Tore der Ungleichheit öffnen.

Schmidt = Strauß?

Aber wie verträgt sich das mit deiner Position, die du hier im „Quick“ vertrittst (Interview in der Ausgabe vom 15. November 1979), wo du sagst, daß es eigentlich keinen Unterschied gibt zwischen Schmidt und Strauß?

STEFFEN: Die machen inhaltlich in den entscheidenden Punkten, in den prinzipiellen oder existentiellen Fragen, genau die gleiche Politik. Der einzige Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß sie das, was an Repression kommt, unter Strauß mit gutem Gewissen machen, wo die Sozis zumindest zur Hälfte noch ein schlechtes haben.

Würde dieser Unterschied nicht die politische Landschaft in Deutschland verändern? Strauß würde doch eine viel härtere Krisenlösungsstrategie verfolgen als Schmidt, eine viel größere Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen.

STEFFEN: Hast du je eine ernsthafte Diskussion erlebt (nicht wo der ideologische Qualm abgeblasen wird, eine ernsthafte Diskussion in der Sache), wo es wirklich gravierende Unterschiede gab? Ich nicht.

Ich meine, ich will nur mal den Strauß entdämonisieren. Diese Personalisierung der Politik führt ja dazu, daß man sich irrsinnige Angstgespenster aufbaut — oder man soll sagen, er wird die Verfassung nicht achten.

Das wird er auch nicht!

STEFFEN: Warten wir mal ab. Hör mal, noch sind die Deutschen besetztes Land. Ich hab ja in meinem Leben auch ein paar Führungspolitiker gesprochen, in Amerika, England, Frankreich, solange sie da die Truppen bei uns haben ... Schon Machiavelli sagt, ein Fürst, der fremde Truppen in seinem Land hat, kann seine eigenen Interessen nur so weit verwirklichen, als sie mit denen des Befehlshabers der fremden Truppen übereinstimmen. Die Engländer, Franzosen, Amerikaner, wenn die bei uns vor etwas Angst haben, dann vor einer Diktatur auch im Westen des geteilten Landes. Im übrigen glaub ich sehr wohl, daß der Strauß das weiß, das ist kein Dummkopf.

Worauf setzt du da, wenn du das so sagst?

STEFFEN: Wenn die Grünen kandidieren, werden wir nicht mehr als 3 bis 4 Prozent der Stimmen kriegen, bei dieser Wahl, weil die Polarisierung so irrsinnig ist, daß wahrscheinlich auch die FDP rausfliegen kann. Warten wir das doch mal ab. Diese 3 bis 4 Prozent sind etwa der Ausdruck von etwas, was man da so schätzen kann, 20 Prozent der Bevölkerung. Die sind draußen, und wir tun alle so, als ob sie drin wären. Die haben mit dem Laden in ihren Grundüberzeugungen, Hoffnungen, Wünschen, Strebungen schon gar nichts mehr zu tun.

Du leugnest eigentlich deine ganze Vergangenheit als Reformpolitiker, wenn du sagst, die Institutionen spielen überhaupt keine Rolle. Wozu warst du dann drinnen?

STEFFEN: Nein, ich sage nicht, daß die Institution keine Rolle spielt, ich behaupte nur, daß z.B. die Zerschlagung des öffentlich-rechtlichen Systems läuft unter Schmidt und Strauß höchstens um ein Jahr Zeitverzug. Höchstens.

Wie erklärst du dir dann, oder ist das in deinen Augen plumper Wählerfang, wenn die SPD jetzt z.B. Gesetze im Zensurbereich, die sie selbst geschaffen hat, wieder abzuschaffen versucht, weil sie selbst davor Angst kriegt?

STEFFEN: Das ist aller Ehren wert, nur hat es mit dem, wozu sie da sind, das ist eigentlich die moderne Reformpolitik, nichts zu tun. Aber natürlich, das kannst du unterstützen, dazu brauchst du doch nicht in dem Laden drin zu sein, Mensch.

Was mir an der Grundlogik deiner Argumentation nicht einleuchtet: Du hast vorhin selbst argumentiert gegen diese jungen Leute, ich hab das selbst auch schon erlebt, die sagen Sozialdemokratie und Faschismus ist dasselbe. Jetzt sagst du, Sozialdemokratie und konservative Diktatur ist dasselbe. Machst du nicht den gleichen Fehler, den du den Junganarchisten vorwirfst?

STEFFEN: Schau, wir wollen mal sehen, worin besteht tatsächlich der Unterschied zwischen den Kontroll- und Entscheidungsträgern im Bundestag. Um es mal zugespitzt zu formulieren: Schmidt holt sich die Staatssekretäre aus der Gewerkschaft und die andern vom Unternehmerverband. Beide sind aufgrund der, wie ich glaube, Ziellosigkeit und der widersprüchlichsten Interessen, die sie in sich vereinen und die sie nicht mehr auflösen, faktisch gelähmt. Wie weit das geht, konntest du im Druckerstreik sehen. Die mächtigen deutschen Gewerkschaften sind nicht einmal imstande, aufgrund dieser Pluralität und der Einbindung in die staatliche Politik — und das wär unter Strauß nicht anders gelaufen —, die Erfahrung für sich zu realisieren, die sie 1950 noch alle singen konnten.

Die Frage ist doch ganz einfach die: Kann der Strauß mit den etwa 40 Leuten des linken CDU-Flügels, der SOPOs, der Sozialpolitiker, so verfahren wie Schmidt mit seinen 30 Linken in der Rentenfrage ? Kann er’s oder kann er’s nicht?

Das weiß ich nicht.

STEFFEN: Ich behaupte, da ich viele von diesen SOPOs kenne, z.B. den Blüm, der zieht nicht so den Schwanz ein, wie die Sozis das gemacht haben.

Schmidt fallen unten die Wähler weg

Man darf das Element der Entmutigung der Menschen nicht unterschätzen.

STEFFEN: Wenn der Schmidt, wenn diese Koalition die Wahl verliert, dann aus zwei Gründen, erstens: weil durch die Eskalation die FDP auffliegt, die nur einen sehr geringen Wählersockel hat; zweitens: weil diejenigen, die ihre potentiellen Wähler sind, das sind die Bedrückten, die so um die Armutsgrenze rum, nicht zur Wahl gehen. D.h., ihnen fallen unten die Wähler weg, und ich meine, das haben sie mit ihrer Politik selber gemacht, verdammt noch mal!

Rechnest du mit einer großen Koalition unter Führung der Schwarzen?

STEFFEN: Nein, nein. Unsre Parteien sind doch in sich alles große Koalitionen. Der Strauß ist ebensowenig in der Lage, das zu realisieren, was befürchtet wird. Daß er also für Sozialpolitik ebensoviel Verständnis hat wie der Schmidt, d.h. daß erst das Wachstum kommt, woraus es bezahlt werden muß. Daß du über soziale Umverteilung auch Wachstum erzeugen kannst, auf die Idee kommen sie ja gar nicht, wobei du das schon bei Keynes nachlesen kannst! Das ist ja auch der Grund, warum Österreich die Krise von 74/75 überstehen konnte, weil hier eine starke Lohnwelle war, die sie gar nicht beabsichtigt hatten. Sie hatten einfach den Abschwung nicht vorausgesehen und höhere Löhne ausgehandelt, und dadurch ist Österreich über die Krise drübergekommen.

Die Lohnwelle hat das konsummäßig aufgefangen.

STEFFEN: Wir brauchten auch nicht die Sockelarbeitslosigkeit zu haben. Die ist durch das Bremsen mit Währungsstabilität als primärem Ziel erzeugt worden. Und das sag ich dir auch: Wenn der Strauß so was versucht hätte, dann hättest du mal die deutschen Gewerkschaftsführer erlebt!

Aha, du glaubst, SPD und Gewerkschaft werden in der Opposition linkskämpferisch, und da gibt’s wieder Klassenkampf!

STEFFEN: Nein, nein!

Aber wieso setzt sich DGB-Chef Vetter mit dem Strauß im Vorwahlkampf an einen Tisch?

STEFFEN: Die Gewerkschafter gegen Strauß, die haben ganz einfach Angst davor, daß sie einmal vor die Situation gestellt werden, daß man ihnen sagt, nun zeigt mal, wie stark euer Arm ist. Die haben echt Schiß.

Kommen wir zu deinem Parteiaustritt. Welchen Ratschlag erteilst du eigentlich deinen ehemaligen Parteifreunden der linken SPD?

STEFFEN: Die haben gesagt, der Steffen, der will eine linke Partei gründen. Da hab ich gesagt, daß ich das physisch gar nicht mehr kann. Ich hab nur zu den Linken gesagt, organisiert euch, und der Schmidt regiert mit zwei Koalitionspartnern — ja, der braucht ihre Stimmen, und in dem Moment, wo sie sagen, wir sind 30 Stimmen, und du regierst nur mit uns oder überhaupt nicht, muß er mit ihnen genauso verhandeln wie mit der FDP. Nicht mal dazu langt das. Dann hätten sie noch die Chance gehabt, den ganzen ökologischen Laden von oben zu organisieren, auch dazu hat’s nicht gelangt. Was soll ich solchen Menschen raten?

Weißt du, ich habe es mir seit Jahren angewöhnt, Leuten, die zu mir kommen, Kohlen auf das Haupt zu sammeln. Wenn jetzt zum Beispiel der Macker, der die Atomenquête macht, jetzt kommt und sagt, mein Gott, es ist nicht zu fassen, was da läuft, da kann ich nur antworten, ich hab zu ihm gesagt, hab erst einen Beruf, bevor du in den Bundestag gehst — er hat nicht auf mich gehört. Wenn du jetzt aus dem Bundestag rausgehst, bist du arbeitslos und Ungelernter ...

Da hab ich genug Leute gesehen, wie die Gewerkschaften dann ihre Betriebsräte versacken lassen, die 12 Jahre lang nicht mehr gearbeitet haben und dann als 60jährige plötzlich wieder Knochenarbeit machen sollen. Die hängen sich auf! Der Betriebsleiter bietet ihm an, sie bleiben Kalkulator. Wenn er Kalkulator wird, sagen die Kollegen, jetzt wird er dafür bezahlt, daß er uns verraten hat. Wir haben ihn abgewählt, jetzt kalkuliert er unsere Arbeit. Das will er nicht. Die Knochenarbeit kann er nicht mehr machen, was macht er also? Er bringt sich um. Ein Haufen Leute in der Bundestagsfraktion befindet sich in einer ähnlichen Situation. Das mußt du ganz nüchtern sehen.

Grüne: Sieg in der Niederlage

Also dein Argument ist, sie hätten sich eine Basis schaffen müssen, z.B. eine ökologische Basis, von oben her.

STEFFEN: Das hat sogar einmal der Wehner zu mir gesagt, der hat gesagt: Komm in den Bundestag, du kannst sie organisieren. Ich sag, unter diesen 30 Leuten, ich hab die Namen genannt (hochqualifizierte Leute, da hat er zu mir gesagt), die sind auch einzukaufen, die werden auch Staatssekretäre. Sagt er, du bist doch nicht einzukaufen!

Und warum bist du nicht reingegangen?

STEFFEN: Erstens, weil ich die Basis nicht verlassen wollte, ich bin ein sehr norddeutscher Mensch, und zweitens, weil ich dieses Bonner Klima ekelhaft finde, unerträglich ... War immer froh, wenn wir die Maschine zurück bestiegen hatten.

Noch eine letzte Frage: Könntest du dir vorstellen, daß die AKW-Gegner innerhalb der SPD mithelfen, die Grünen über die 5 Prozent zu kriegen?

STEFFEN: Wie soll der Günther Jansen das machen? Der soll jetzt sagen, gebt die erste Stimme dem Ökologen und gebt die zweite Stimme der SPD? Der ist doch draußen, das ist nach dem Statut eindeutig parteischädigendes Verhalten.

Also werden die Grünen die 5 Prozent im Konfrontationswahlkampf möglicherweise nicht schaffen?

STEFFEN: Klar, aber ich bin der festen Überzeugung, daß das, was jetzt unter dem Schlagwort „Grüne“ läuft, so ein riesiges Mischmasch wie das ist, daß die Ursachen der Entstehung weiterwirken, und zwar in geometrischer Reihe. Die Druckprobleme wachsen, werden stärker. Derartige Veränderungen sind fundamentale Veränderungen im sozialen Gefüge und im Bewußtsein.

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