FORVM, No. 118
Oktober
1963

Konturen des dritten Jahrtausends

Dem in die Vereinigten Staaten emigrierten, gegenwärtig an der Freien Universität Berlin lehrenden Österreicher Kurt Shell verdanken wir eine Darstellung des österreichischen Nachkriegssozialismus, die als erste gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Entwicklungen und Veränderungen in der Sozialistischen Partei Österreichs bis zum Beginn der Sechzigerjahre anzusehen ist. Leider ist „The Transformation of Austrian Socialism“ bisher einem breiteren Leserkreis in Österreich verschlossen geblieben, da nichts geschehen ist — etwa durch Übersetzung —, um die Aufmerksamkeit der politisch interessierten Öffentlichkeit auf diese bedeutsame Publikation zu lenken.

Dabei sollte das Werk Prof. Shells dem österreichischen und sonstigen deutschsprachigen Publikum schon deshalb nicht vorenthalten werden, weil der Autor sein Werk nicht bloß als Studie über eine einzelne Partei der Sozialistischen Internationale konzipiert hat, sondern die SPÖ als Modellfall eines Umwandlungsprozesses versteht, der sich in den demokratisch-sozialistischen Parteien West- und Mitteleuropas nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus begeben hat und der mehr oder weniger gemeinsame Züge aufweist.

Man wird es dem Schreiber dieser Zeilen, der einen ersten Versuch zur Gesamtdeutung des österreichischen Sozialismus im Lichte des Wiener Programms der SPÖ 1958 unternommen hat, [*] nicht verdenken, wenn ihm einige auffällige Übereinstimmungen zwischen seinen Aussagen und der wissenschaftlichen Analyse Prof. Shells zur Genugtuung gereichen. Solche Übereinstimmungen zwischen zwei völlig unabhängig voneinander angestellten Überlegungen scheinen mir ein Indiz dafür, daß die aus der innerparteilichen Auseinandersetzung erfließende Darstellung und die wissenschaftlich-distanzierte Aussage trotz Verschiedenheit der Ziele und der Darstellungstechnik zu einer einheitlichen Gesamtdiagnose führen können.

So besteht weitgehende, durch Zitate von Karl Renner und Otto Bauer anschaulich belegte Übereinstimmung in der Beurteilung der austromarxistischen Praxis. In Entsprechung zu meinen Kapiteln „Austromarxismus und Gegenwartssozialismus“ sowie „Sozialismus und Staat“ meint Shell: „Zwischen einer Politik ausgesprochener Versöhnlichkeit ... und einer solchen der direkten, wenn nötig gewaltsamen Aktion hin und her gerissen ... konnten sich die verantwortlichen Führer für keinen der beiden Kurse entscheiden und stürzen solcherart die eigenen Anhänger wie auch die Gegner in Verwirrung“ (S. 17).

Weitere Parallelen ergeben sich bei der Analyse des die Partei durchdringenden „Unbehagens“ als Ausdruck der gewandelten Position und der Übergangsschwierigkeiten des Sozialismus in der Periode seiner Verwirklichung. Shell spricht vom sozialistischen Schicksal der partiellen „self-elimination by success“, der funktionellen Selbstausschaltung infolge der erzielten gesellschaftlichen Fortschritte. Auch die wissenschaftliche Forschung konstatiert also die im Wiener Programm vorgenommene Akzentverschiebung und diagnostiziert sie als verändertes Existenzgefühl der Partei und ihrer Mitglieder.

Rückgang der Theorie

Im Gefolge der großen Erschütterungen der Weltkriege und der siegreichen Unmenschlichkeit in und nach diesen Kriegen konstatiert Shell des weiteren auch die von mir aufgezeigte Akzentverschiebung von der wissenschaftlich-ökonomischen auf die humanitär-individuelle Zugangsart und Motivierung des Sozialismus. So widmet Shell ein Kapitel seines Buches dem „Rückgang der marxistischen Theorie“ und dem stärkeren Hervortreten dessen, was er im Anschluß an Oscar Pollak den „humanistischen Sozialismus“ nennt.

Allerdings versäumt es Shell nicht, auf ein Reservat hinzuweisen, das der im übrigen überwundenen und aus dem politischen Leben verbannten austromarxistischen Tradition innerhalb der Sozialistischen Partei eingeräumt wurde. Als solches Reservat bezeichnet er den vom Geist und der agitatorischen Routine der lautstarken austromarxistischen Vergangenheit beherrschten Bildungs- und Schulungssektor der Partei. Shell läßt keinen Zweifel darüber, daß er die seit 1945 wahrnehmbare Praxis auf diesem so wichtigen Gebiet für wenig attraktiv und für eine innerparteiliche Lähmungserscheinung hält. Nach schüchternen Versuchen einer revolutionären Kaderbildung im Stile der illegalen Sozialisten begnügte man sich mit einem Aufguß der unter ganz anderen Verhältnissen durchgeführten Erziehungsarbeit der Ersten Republik. Die solcherart zur Schau getragene dogmatische Einheitlichkeit der Partei steht in merkwürdigem Gegensatz zu der tatsächlich durchgeführten pragmatischen Politik. Sie stellt überdies keine Förderung der freien Aussprache und Auseinandersetzung, sondern viel eher ein Ritual dar, dessen Inspiration und Substanz immer geringer werden und dessen positive Wirkung daher immer mehr verblaßt.

Auch sonst spart Prof. Shell nicht mit Feststellungen, die gar manchen als herbe Kritik anmuten werden. Doch der alte Grundsatz der Arbeiterbewegung, „Aussprechen, was ist“, darf auch vor der eigenen Partei und ihren Erscheinungsformen nicht haltmachen, wenn unangebrachte Selbstgefälligkeit und daraus resultierende bittere Ernüchterung vermieden werden sollen. So wird die Lektüre des Shell’schen Werkes auf jeden Fall die Belehrung vermitteln, daß die von Robert Michels erstmalig in seiner „Soziologie des Parteiwesens“ aufgezeigten oligarchischen Tendenzen und sonstigen Petrifizierungserscheinungen auch an der Sozialistischen Partei nicht spurlos vorübergegangen sind, sondern ihr nach außen unverändert gebliebenes Gefüge durchziehen.

Freilich wäre es unbillig und hieße die Selbstkritik zu weit treiben, wenn man vor lauter Korrekturen und warnenden Anmerkungen das positive Gesamtbild aus den Augen verlöre, das sich aus den umlagernden Schatten emporhebt und dem weder Shell noch ein anderer Betrachter die Anerkennung versagen wird. So hält der Autor als historischen Fortschritt gegenüber der Ersten Republik und ihrer unklaren Position in Fragen des Weges zum Sozialismus das uneingeschränkte Bekenntnis zur Demokratie fest. Im Sinne der Untrennbarkeit von Demokratie und Sozialismus ist dieses Bekenntnis nicht nur Bestandteil des Parteiprogramms, sondern das aus leidvoller historischer Erfahrung gewonnene Überzeugungsgut aller Sozialisten.

Sozialistischer Antikommunismus

Solche Erkenntnis der organischen Zusammengehörigkeit von Weg und Ziel in der gesellschaftlichen Aktion hängt mit einer anderen wesentlichen Haltungsänderung der Sozialistischen Partei zusammen: mit der kompromißlosen Ablehnung des totalitären Sowjetkommunismus und seiner spezifischen Form der Machteroberung und des Machtgebrauchs. Die austromarxistische Position gegenüber der um ihre Selbstbehauptung ringenden Sowjetmacht spiegelte sich in der Losung Otto Bauers: „Hände weg von der Sowjetunion!“ In der Zeit des siegreichen Faschismus gab es sogar die Illusion eines Demokratie und Diktatur gleichermaßen umschließenden „integralen Sozialismus“. Heute ist die Sozialistische Partei — bei aller Unterstützung für Verständigungsbestrebungen mit der Sowjetunion auf internationaler Ebene — als Partei durch eine klare und unverrückbare Demarkationslinie vom Bolschewismus getrennt. Dieser hat in Österreich einen Anschauungsunterricht seiner Ziele und Absichten geliefert, den sich die Sozialistische Partei als dauernde Lehre dienen ließ.

Sehr aufschlußreich ist, was Shell von der sozialen Zusammensetzung der Parteimitglieder zu berichten weiß.
Einem nicht unerheblichen Rückgang des prozentuellen Anteils der manuellen Arbeiter steht ein Anstieg des Anteils der Angestellten und eine Vervierfachung des Anteils der Rentner und Pensionisten gegenüber.

Wer daraus den Schluß auf eine zunehmende Überalterung der Sozialistischen Partei ziehen wollte, wird durch den Hinweis Shells belehrt, daß 1952 nur noch die Hälfte aller Vertrauensleute der Partei aus dem Mitgliederstand vor 1934 stammte. Wie schnell der Regenerationsprozeß der Partei fortschreitet, geht daraus hervor, daß schon ein Jahrzehnt später fast drei Viertel aller Vertrauenspersonen in der Zeit nach 1945 für die Partei gewonnen wurden.

Neben den Änderungen in der sozialen und altersmäßigen Zusammensetzung läßt Shell auch die grundsätzliche — mit der uneingeschränkten Bejahung des friedlichen und demokratischen Weges unvermeidlich gewordene — Entwicklung von der Klassenpartei alten Stils zur Partei aller Arbeitenden nicht unberücksichtigt. Auch die veränderte Position der Einheitsgewerkschaft gegenüber den Richtungsgewerkschaften der Ersten Republik mit all den daraus erfließenden Konsequenzen im Verhältnis zur staatlichen Macht und zur Partei bekommt in der Darstellung Shells das gebührende Gewicht.

Koalitionsfrömmigkeit

Wie schädlich die Existenz von Tabus in der Sozialistischen Partei ist und wie wenig die durch Außerstreitstellung einer Überzeugung gewonnene scheinbare Sicherheit dem Sturm der Ereignisse standhält, wird nach Lektüre des Shell’schen Kapitels über die „permanente Koalition“ deutlich. Die Verleihung des Attributs „permanent“ ist aus der Sicht des Autors verständlich, der die Publikationen der Partei vergeblich nach einem kritischen Wort über die „Zusammenarbeit zwischen den beiden großen Parteien unseres Landes“ durchsucht hatte. Alle offiziellen Enuntiationen der Partei waren dazu angetan, in den Mitgliedern und bei den Außenstehenden die Überzeugung zu erwecken und zu erhalten, daß die Koalition ein zwar von Schönheitsfehlern nicht freies, im übrigen aber geradezu ideales und harmonisches Unternehmen sei, zu dem es in Österreich keine Alternative gäbe. Die im Zusammenhang mit dem Habsburg-Streit gezeigte Bereitschaft, eine kleine Koalition mit der FPÖ zu bilden, hätte weniger schockierend gewirkt, wenn die Partei nicht allzulange am frommen Wunschbild einer unentbehrlichen und nahezu reibungslos funktionierenden Koalition festgehalten hätte.

Das Buch Prof. Shells sollte von jedem, der die Sozialistische Partei kennenlernen will, aber auch von jedem, der sie zu kennen glaubt und ihrem Wohl und Fortschritt dienen will, mit kritischer Aufmerksamkeit gelesen werden. Dieses Werk, das der Wissenschaft zuliebe und niemandem zuleide geschrieben wurde, ist selbst dort noch hilfreich, wo es zu verletzen scheint und schmerzlich an traditionelle Gefühle rührt. Nur wer sich dem Test der Wirklichkeit stellt, hat das Recht, für die Verwirklichung von Idealen zu kämpfen.

Es ist ein Zeichen für die geistige Verlebendigung des österreichischen Sozialismus nach einer langen — von Prof. Shell hellsichtig vermerkten — Periode publizistischer Stagnation, daß sich nun auch schöpferische Kräfte in der Sozialistischen Partei zu Wort melden, um an einer Selbstdeutung und Selbstbesinnung zu arbeiten und die Bewältigung der Vergangenheit nicht bloß der Wissenschaft als akademisches Studienobjekt zu überlassen. Sie wollen unter Verwertung der von der Wissenschaft dargebotenen Hilfsmittel Impulse für das Wollen und die Weiterentwicklung der Partei beisteuern und sich damit einer Aufgabe unterziehen, die der rein auf Erkenntnis gerichteten Wissenschaft fremd ist. In diesem Sinn geht z.B. Günther Nenning in seinem „Anschluß an die Zukunft“ den heikelsten Fragen mit großem Freimut und stilistischer Eleganz zu Leibe.

Heimat im Protest

Die Shell’sche Darstellung der Wandlungen im österreichischen Nachkriegssozialismus und der Selbstverständigungsversuch Nennings werfen ganz allgemein die Frage nach dem Standort der linken Kräfte in der Gesellschaft von heute auf. In einem Sammelband versuchen dreizehn Autoren auf die Frage „Was ist heute links?“ Antwort zu geben. Der Beitrag Horst Krügers enthält die richtige Ausgangsfeststellung, daß „Links“ nichts Primäres, sondern etwas Reaktives ist und daher auch nur in Konfrontation mit einer bestimmten historischen Wirklichkeit verstanden werden kann. Krüger zählt sich selbst der Linken zu — wie fast alle anderen Teilnehmer an diesem gedruckten Gespräch. Er gibt in echt linker Offenheit zu, daß die in der Gesellschaft von gestern und vorgestern so klaren Fronten und Gegensätze, die dem Linkssein eine eindeutige Fixierung gaben, einer vieldeutigeren Wirklichkeit Platz gemacht haben. In dieser muß der Sinn des Linksseins neu bestimmt werden.

Krüger weist darauf hin, daß der sowjetische Totalitarismus und die kommunistische Diktatur des Ostens eine Verwirrung der Begriffe herbeigeführt haben, die mehr als bloß terminologische Probleme aufwirft. Aber auch die Veränderungen in der westlichen Gesellschaft selbst machen eine Neuorientierung der linken Kräfte notwendig. Die moderne Konsumgesellschaft mit ihrer breiten Mittelklasse, mit entpolitisierten Massen und mit gewandelten Funktionen des Kapitals ist nicht mehr jene Gesellschaft, welche Marx analysierte und gegen welche die linken Kräfte zum Kampf angetreten waren.

Krüger kommt zum Schluß, daß trotz diesen Wandlungen die Linke auch in der Gesellschaft von heute eine wichtige Aufgabe hat. Sie müsse um die Realisierung des Glücksanspruches jedes einzelnen Menschen und aller, vor allem auch der unterentwickelten Länder kämpfen. Im Sinne der ihr seit jeher eigenen moralischen Haltung habe sie „auf Seite der Schwächeren, der Mittellosen, der ins Unrecht Gesetzten“ zu stehen.

Mit dieser Sinndeutung kommt Krüger einer Begriffsbestimmung nahe, die Günter Zehm, ein Schüler Ernst Blochs, für das „heimatlose Linkssein“ gibt. Er will darunter keine primär politische Haltung verstehen, sondern eine im Grunde „anthropologische, wenn auch historisch terminierbare“. Jedoch erfährt das Linkssein erst durch die Politik seine Konkretisierung. In dieser wird der mögliche überzeitliche Gehalt linker Existenz diskussionsreif, ja zum Angelpunkt aller weiteren Überlegungen.

Im linken Protest gegen das Bestehende steckt nach Krüger und Zehm mehr als die zeitbedingte funktionelle politische Antithetik, mehr aber auch als bloß eine spezifisch „moralische Haltung“. Die linke Konzeption, der „linke Weltentwurf“, ist nach Krüger wesentlich optimistisch und solidarisch, während aller rechte Weltentwurf in seiner Tiefe pessimistisch und tragisch gestimmt bleibt.

Als ein weiteres entscheidendes Charakteristikum linker Weltbetrachtung und Weltgestaltung führt Krüger den „Glauben an die gesellschaftsordnende Kraft der Ratio“ an. Hiemit verweist er auf den geistesgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den rationalistischen Ideen der Aufklärung und ihrer Weiterführung in den geschlossenen Systemen des 19. Jahrhunderts, zu denen vor allem der Marxismus als Versuch einer rationalen Totalbestimmung und -steuerung der Gesellschaft zu rechnen ist.

Damit erhebt sich eine für die Wesenserfassung und Selbstrechtfertigung linken Seins zentrale Frage. Kann für den im linken Denken klassischer Prägung vorherrschenden Vernunftglauben eine neue Grundlage geschaffen werden? Oder kommt, im Falle des Zweifels an dieser Möglichkeit, eine Säule linker Existenz in dieser Welt zum Einsturz? Kann die Linke als politische Kraft und als Weltentwurf sinnvollerweise noch Existenzrecht beanspruchen, wenn sich ihre Voraussetzungen in einem so entscheidenden Punkt als trügerisch erwiesen haben?

Mit dieser Frage befaßt sich der wohl bedeutendste Denker im zeitgenössischen britischen Sozialismus, der im Juli dieses Jahres verstorbene Labour-Abgeordnete John Strachey. Ein Kapitel seines Essaybandes „The Strangled Cry” handelt von der Infragestellung der gesamten rationalistischen Tradition seit der Aufklärung. Strachey macht sich nicht selbst zum Anwalt der Protestbewegung gegen diese Tradition, sondern fordert bloß die Verfeinerung der Methoden und Zugangsarten der Ratio. Hiebei entwickelt er an Hand der zeitgenössischen Literatur ein sehr eindrucksvolles Bild dieses Protestes; er verarbeitet das gedankliche Material in Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“, George Orwells „1984“, Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ und endlich in Whittacker Chambers’ „Witness“ (Chambers brachte den hohen amerikanischen Staatsbeamten Alger Hiss, der kommunistischer Spion war, durch seine Aussagen zu Fall).

Reicht unser Verstand?

Die historische Entwicklung hat freilich gerade diesem dem Positivismus und Rationalismus zugrunde liegenden Glauben an die Allmacht und Allzuständigkeit der Vernunft in Sachen des menschlichen Zusammenlebens und des Menschseins überhaupt schwere Schläge versetzt. Nur ein dem Wunderglauben in nichts nachstehendes unerschütterliches Vertrauen oder unbeeindruckbare Oberflächlichkeit können ohne weiteres am Vernunftglauben festhalten.

Die Beschäftigung mit dem Kommunismus und dessen Ablehnung wurde für diese Autoren zum Anlaß einer Abrechnung mit der gesamten rationalistischen Tradition, die ja den Bolschewismus erst möglich gemacht hat. Zum Opfer des eigenen rationalen Perfektionismus geworden, überlegt Rubaschow in der „Sonnenfinsternis“:

Wie hatte er einst in sein Tagebuch geschrieben? ‚Wir haben alle Konventionen über Bord geworfen, unsere einzige Richtschnur ist die der logischen Konsequenz, wir segeln ohne ethischen Ballast‘. Vielleicht lag hier der Kern des Übels. Vielleicht war es den Menschen nicht bekömmlich, ohne Ballast zu segeln. Und vielleicht war Vernunft allein ein unzureichender Kompaß, der einen solchen umwegig krummen Kurs entlang führte, daß das Ziel sich schließlich im Nebel verlor.

Der Ex-Kommunist Whittacker Chambers, der durch seine Aktion gegen Alger Hiss verhindern wollte, daß der Irrweg des Kommunismus auch zum Schicksal des amerikanischen Volkes wird, schreibt in seiner Autobiographie: „Der Plunder, der von mir abfiel, war nicht bloß der Kommunismus. Was von mir abfiel, war das ganze Gespinst des modernen materialistischen Geistes.“ Chambers wendet sich aber nicht nur gegen die im Osten zum System gewordene und zur obersten Lebensnorm erklärte revolutionäre Zielvorstellung, er hält die im Westen faktisch vorherrschende Zielvorstellung des Erfolgs ebensowenig für einen Letztwert wie den Sieg der Revolution. Er zieht als Summe seiner persönlichen Erfahrungen den Schluß, daß nur ein übernatürlicher Glaube eine wirkliche Lösung der menschlichen Probleme und eine echte Alternative zu diesen beiden Fehlleitungen menschlichen Strebens darstellt.

Revolution genügt nicht

Zu Pasternaks „Doktor Schiwago“ meint Strachey: „Es ist einfach töricht, zu sagen, daß Pasternak die Revolution niemals verstanden hat. Das Schwerwiegende seines Verstoßes gegen die Regierung seines Landes besteht eben gerade darin, daß er sie sehr wohl verstand und sie doch von sich wies.“ Pasternak steht dem Kommunismus nicht wegen dessen sozialer Zielsetzung und gesellschaftlicher Programmatik ablehnend gegenüber, sondern deshalb, weil seine Grundwerte — von Strachey definiert als Liebe, Kunst und Christentum, mystisch vereinigt im zentralen Bild und Ereignis der Auferstehung — mit der Gütertafel des Bolschewismus unvereinbar sind. Sima, eine Freundin der Romanheldin Lara, bringt die für Pasternak typische Haltung in den folgenden Sätzen zum Ausdruck:

In allem, was mit der Sorge für die Arbeiter, dem Schutz der Mütter und dem Kampf gegen die Macht des Geldes zusammenhängt, ist unser revolutionäres Zeitalter eine wundervolle Epoche neuer, bleibender und endgültiger Errungenschaften. Aber was seine Deutung des Lebens und die Philosophie des Glückes, die es predigt, anbelangt — es ist einfach unmöglich, zu glauben, daß ein solch groteskes Überbleibsel der Vergangenheit wirklich ernstgenommen werden will.

Bei Orwell ist der Kommunismus (es könnte geradesogut der Faschismus sein) nicht bloß der vollendete Ausdruck eiskalter rationaler Menschen- und Gesellschaftsbeherrschung, sondern zumindest im gleichen Ausmaß ein realitätsfremder, psychopathologischer Autoritäts- und Zukunftsglaube. Dasselbe System, das sich der entwickeltsten Mittel und Ergebnisse der menschlichen Vernunft zur Durchsetzung seiner Herrschaft bedient, muß gleichzeitig jede Freiheit des Gedankens unterdrücken, um nicht seinerseits durch die mündige Vernunft in Frage gestellt zu werden. Der Haß des Systems richtet sich nicht nur gegen die Liebe zweier Menschen, sondern auch gegen die noch nicht restlos ihm dienstbar gemachte menschliche Vernunft.

Es besteht also, oberflächlich betrachtet, ein Widerspruch zwischen der Interpretation des Kommunismus als Kulmination der rationalistischen Tradition und als besonders gefährliche, wahnhafte Form des Irrationalismus. Der Widerspruch ist jedoch bloß scheinbar. Der universelle Geltung beanspruchende Rationalismus kann den einzelnen Menschen und die Massen der Gesellschaft mit seinen Antworten nicht zufriedenstellen. Er selbst will hinsichtlich entscheidender Fragen des Daseins und des menschlichen Zusammenlebens nicht in der bloßen Skepsis verharren. Folglich sieht er sich gezwungen, in eigener Regie Ersatz für all das aufzubringen, was früher durch die von ihm verachteten und verbannten Sphären und Werte geleistet und bereitgestellt wurde.

Vernunft wird Plage

In Wahrheit ist der Rationalismus gar nicht imstande, die von ihm theoretisch geleugneten oder als unerheblich abgetanen metaphysischen menschlichen Werte auszuschalten. Er bekommt diese Werte sehr bald in Form der unangenehmen Herausforderung zu spüren, das Jenseits im Diesseits zu verwirklichen: er muß den aus überkommenen menschlichen Vorstellungswelten stammenden Gefühlen und Antrieben eine Heimstatt und ein Betätigungsfeld im Rahmen des eigenen, für perfekt ausgegebenen Systems verschaffen.

Indem sich der Rationalismus — als konsequente Methode der Gesellschaftssteuerung und der organisierten Daseinsbewältigung auf allen Ebenen — dem Test der Realität und des quantifizierbaren Erfolges aussetzt, mutet er sich Unmögliches zu. Schon diese seine Konstruktion zwingt ihn, zu einer Begründung und scheinbaren Überwindung der Spannung zwischen Verheißung und Erfüllung seine Zuflucht zu nehmen und damit nicht weniger ideologisch und mythisch zu werden als die von ihm bekämpfte religiöse, irrationalistische Deutung der Wirklichkeit.

Der gesellschaftbildende Rationalismus, der sich absolut setzt, untergräbt sein eigenes Fundament, weil er sich sehr bald in Widerspruch zu seinen Voraussetzungen begeben und Ersatzreligion spielen muß. Er beschwört überdies die Gefahr herauf, daß die von ihm enttäuschten Massen die sich durch die Unvollständigkeit der ihnen zuteil gewordenen Antwort oder durch den fehlgeschlagenen Realitätstest um Wesentliches betrogen fühlen — in offener Abkehr von der Vernunft sich einem irrationalistischen Rausch zuwenden und dort ihr Heil suchen.

Was der überforderte Rationalismus nur mit halbem Herzen, in Form einer unglaubwürdigen und wenig Begeisterung erweckenden Mythologie, an Ersatzvorstellungen zu produzieren vermag, wird von der Macht des keine Beschränkungen kennenden, mit vollen Händen Phantastisches spendenden Irrationalismus an Wirksamkeit bei weitem übertroffen. Während der Kommunismus nur für die Ärmsten der Armen in rückständigen Ländern ein Gott war und in den fortgeschrittenen Staaten des Westens nur einer kleinen Minderheit von rationalistisch befangenen Intellektuellen zum Götzen werden konnte, eroberte sich der irrationalistische Faschismus mühelos die Massen.

Was gestern dem Faschismus gelang, kann morgen einer anders motivierten irrationalistischen gesellschaftlichen Kraft gelingen, die das verbannte Zauberreich der verlassenen menschlichen Totalität wiederzubringen verspricht. Selbst die Alternative der Erweckung des Mittelalters und seiner integralen sozialen Organisation und geistigen Ausrichtung erscheint dann nicht mehr zu weit hergeholt.

Wenn die linken Kräfte nicht den Abschied vom 19. Jahrhundert — wie der geistig profilierte sozialistische Politiker Alfred Migsch die notwendige Anpassung des Sozialismus an die Wirklichkeit von heute einmal genannt hat — endlich vollziehen und sich vom Grundirrtum des seine Grenzen verkennenden Rationalismus nicht lösen, dann kann es leicht geschehen, daß der Versuch, die Übel des 20. mit den Mitteln des 13. Jahrhunderts zu kurieren, eher Aussicht auf Erfolg hat, als ihnen und allen denkenden Menschen lieb sein kann.

Nur die linken Kräfte der Gesellschaft sind imstande, die Vernunft zu entlasten, ohne sie als gesellschaftliche Instanz zur Abdankung zu veranlassen. Die Entlastung von den Aufgaben, die der Vernunft und der gesellschaftsbildenden Ratio in Verkennung ihrer Grenzen aufgebürdet wurden, führt dann zu einer um so konsequenteren Wahrnehmung der verbliebenen, in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzenden Aufgaben.

Nur ein Rationalismus, der, wie der Kant’sche, sich zur Grundforderung der Aufklärung bekennt, zum „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“, nur ein Rationalismus, der sich dennoch zu der Erkenntnis durchringt, daß das Wissen an einer Grenze anlangen und sich selbst aufheben kann, „um zum Glauben Platz zu bekommen“ — nur ein solcher Rationalismus kann den Irrationalismus reaktionärer Prägung, welcher der Vernunft nicht nur ihre Überspannungen, sondern auch ihr legitimes Mitspracherecht abkaufen will, in die Schranken weisen.

Wenn die Linke sich auf die Kant’sche Grundlegung der Aufklärung besinnt und den Blick auf eine nichtrationale Ergänzung und Vertiefung ihres Weltbildes freigibt, blendet sie nur ein, was sie früher krampfhaft von sich fernhielt, ohne nun ihrerseits zur Bannerträgerin eines neuen Glaubens zu werden. Glaube und nichtrationale Daseinserfahrung bleiben vielmehr an der Grenze und jenseits der Möglichkeiten der zur gesellschaftlichen Aktion disponierenden Vernunft, wie sie auch jenseits der Sphäre politischen Wollens bleiben.

Wie das politische Wollen ist auch das philosophische oder religiöse Glauben ein Akt des Wagens und Bekennens, der von der Vernunft nur indirekt beeinflußt wird und sich von ihr im Wege einer weiterführenden Entscheidung emanzipiert. Glauben und Wollen dürfen diese Entscheidung allerdings erst dann vollziehen, wenn die Vernunft kein Veto mehr einlegen kann und den Raum freigibt, das eigentliche Menschsein zu erfüllen.

Wer sich vorzeitig von der Vernunft losreißt, begeht einen verhängnisvollen Fehler, weil er sich dem Unkontrollierten des Ungefähr überläßt; wer sich aber noch an sie klammert, wo sie keinen Halt mehr bietet, bezahlt seine Anhänglichkeit mit Unfähigkeit zu schöpferischer Fortbewegung. Der Abschied vom 19. Jahrhundert, den die Linke vollziehen muß, ist also keine Kapitulation, noch auch ein Widerruf, sondern Ausdruck des Eingeständnisses, daß sie stark genug ist, einem Gegenüber standzuhalten, das sie früher aus ihrem Gesichtskreis verbannte und geschichtsteleologisch gesehen vielleicht verbannen mußte, um sich auf einen bestimmten Aufgabenbereich konzentrieren zu können.

Heute überwiegen die Gefahren dieser Haltung. Heute wird von der Linken mehr als bloßes Verharren in einem Geisteszustand verlangt, der längst seinen fortschrittlichen Charakter verloren hat. Gerhard Zwerenz sagt mit Recht: „Die neue Linke ist der Prolog des dritten Jahrtausends oder gar nichts.“

Das dritte Jahrtausend soll seine Größe darin bewähren, daß es einen Weg findet, auf dem der Mensch die wertvollen Elemente seiner Vorgeschichte zu seinem Wohle miteinander verbindet, statt sich erneut auf den aussichtslosen Versuch einzulassen, den Glauben durch die Vernunft zu verdrängen.

Bibliographie

  • Kurt Shell: The Transformation of Austrian Socialism (State University of New York, 1962)
  • Günther Nenning: Anschluß an die Zukunft — Österreichs unbewältigte Gegenwart und Vergangenheit (Europa-Verlag, Wien 1963)
  • Was ist heute links? Herausgegeben von Horst Krüger (Paul List Verlag, München 1963)
  • John Strachey: The Strangled Cry (The Bodley Head, London 1926)

[*Norbert Leser: Begegnung und Auftrag (Europa-Verlag, Wien 1963). Vgl. Friedrich Abendroth: Lassalle und die Folgen (FORVM X/114).

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