Radiosendungen 1999
November
1999

Krieg, Sinn und Wahnsinn

Die politische Ökonomie der Interesselosigkeit
Die Frage, welche Art von Krieg die NATO gegen Jugoslawien führte, ist immer noch offen. Viele Kriegsgegner und Kriegsgegnerinnen stehen mit einer gewissen Ratlosigkeit nicht nur vor den Trümmern, die dieser Krieg am Balkan hinterlassen hat, sondern auch vor den Trümmern ihrer eigenen Erklärungsmodelle. In zahlreichen Publikationen werden Versuche unternommen, die ökonomischen wie politischen Interessen der Großmächte dies- und jenseits des Atlantiks aufzudecken und diese in klassischer, imperialismustheoretischer Manier für Krieg und Ausplünderung verantwortlich zu machen. Dagegen erheben sich Stimmen, die an der Gültigkeit solcher Erklärungsversuche am Ende des 20. Jahrhunderts zweifeln und die Frage aufwerfen, ob nicht die zunehmende Unfähigkeit der Metropolen zu jeglichem positiven wirtschaftlichen oder politischen Interesse viel eher einen Kriegsgrund darstellt als gerade noch zu identifizierende Rest-Interessen.

Uli Krug, Redakteur der Berliner Zeitschrift Bahamas, spricht — anders als die meisten geomaterialistischen Kriegsgegner und Kriegsgegnerinnen — von einem Gewissenskrieg statt von einem Interessenskrieg und macht sich Gedanken über eine Eroberungsökonomie ohne Beutewunsch. Zuletzt stellte er seine Thesen anläßlich der von der Bahamas-Redaktion, der Initiative Sozialistisches Forum und dem Antinationalen Plenum Detmold organisierten Konferenz „10 Jahre später — eine antideutsche Bilanz“ im Oktober 1999 in Berlin zur Diskussion.

Ausgangspunkt von Uli Krugs Überlegungen ist die Marx’sche Kritik der Politischen Ökonomie. Im Kapital hat Marx den Doppelcharakter der Ware — und im Kapitalismus hat sich jegliches Gut als Ware darzustellen — analysiert. Entscheidend für die nachfolgenden Ausführungen ist der Umstand, daß es im Kapitalismus primär nicht auf den Gebrauchswert der Ware (also auf ihre materielle Beschaffenheit, ihre „bedürfnisbefriedigende Potenz“) ankommt, sondern auf ihren Wert — also darauf, daß jede Ware Verkörperung eines bestimmten Quantums abstrakter Arbeit ist und aufgrund dieses Umstands (und gerade nicht wegen ihrer Nützlichkeit) gegen ebensolche andere Waren austauschbar ist. Konkreter Reichtum (also eine Anhäufung von Gebrauchswerten) nützt im Kapitalismus nichts. Worauf es ankommt, ist die Anhäufung abstrakten Reichtums, also in Geld ausdrückbaren Werts. Unternehmen und Staaten sind auf die Produktion von Surplus (also von Mehrwert, der sich in Profit umsetzen läßt) angewiesen und nicht auf die Produktion von brauchbaren Dingen. Der Geomaterialismus geht nach Uli Krug in seinen Analysen fehl, weil er vom Interesse kapitalistischer Mächte an der Eroberung konkreter Reichtümer ausgehe obwohl sie gemäß den Regeln des Spiels, dessen Protagonisten sie bei Strafe des Untergangs sein müssen, nur an abstraktem Reichtum Interesse haben können. Rohstoffe interessieren das Kapital — also Geld heckendes Geld — nicht, weil man aus ihnen etwas herstellen kann, sondern nur wenn und weil sie unter Weltmarktbedingungen realisierbaren Wert darstellen.

Uli Krug: Frei nach dem bekannten Bonmot Keynes’ lautet nun die materialistische Botschaft: „Geld ist mir nichts anderes als Grünkäse — ein Stoff, der aufgrund seiner Nützlichkeit auch Wert besitzen muß“, wie Bodenschätze. Und so legt der Materialist Maßstäbe an, die für die Produktion von Grünkäse fürs einfache Bedürfnis im ebenso einfachen Warenverkehr noch durchgehen mögen. Auf die Produktion von Tauschwert aus Tauschwert aber, aufs Geld heckende Geld in seiner allerabstraktesten, nach Marx verrücktesten Form von Kredit und Anlagefonds, treffen sie sicherlich in gar keiner Weise zu. Daß die materielle Gestalt der Ware, der „Grünkäse“ also, nur eine dem Wert durchaus gleichgültige Durchgangsstation seiner selbsttätigen, subjekt- wie stofflosen Bewegung ist, daß er (der Wert) die sogenannte ökonomische Attraktivität einer Sache setzt oder verwirft, daß also der Besitz von Kohlerevieren vor 100 Jahren rentabel sein konnte, es heute aber nicht mehr sein muß — all das ist an diesem Materialismus vorübergegangen. Nach diesem Erklärungsschema hätte der zum Sonderweg gehörige sogenannte „Drang nach Osten“ das deutsche Kapital auch nach Schlesien und in die Ukraine führen müssen. Die semikoloniale Unterjochung dieser Zonen fand jedoch bekanntermaßen nicht statt, wie überhaupt die „1 : 1“-Wiederholung des historischen „Sonderweges“ ausblieb. Vielmehr erwies sich die Beute im Osten, für die man jahrzehntelang so gigantisch gerüstet, sabotiert und Stellvertreterkriege geführt hatte, als fauler Apfel in dem man zwar weiter nach Kräften herumstochert, den sich aber auf den Teller zu laden keiner — nicht einmal Deutschland — verrückt genug war und ist. Kein „Großdeutsches Reich“ folgte 1989, sondern im Gegenteil die Betonierung der Oder-Neisse-Grenze, über deren Unrechtmäßigkeit man sich nur so lange aufgeregt hatte wie sie noch zwei sozialistische Staaten trennte. Diejenigen, die bereits den bewaffneten Arm des deutschen Monopolkapitals nach den oberschlesischen Kohlerevieren hatten greifen sehen, mißtrauen Deutschland zwar noch, wissen aber nicht mehr so recht, warum sie ihm mehr mißtrauen sollten als einer anderen imperialistischen Großmacht. So reduzieren sich die üblichen, antideutschen Geplänkel auf die Frage „Wer ist mächtiger?“ — und wer gehört deswegen in erster Linie bekämpft? Das Entscheidende aber: daß der imperialistischen Rivalität zwischen sogenanntem „Euroland“ und sogenanntem „Amiland“ der Gegenstand, das Ziel abhanden gekommen ist, daß keiner der Beteiligten mehr nach Autarkie oder einem „Empire“ strebt, interessiert die streitenden Strategen nicht.

Ausgehend von seiner Warenanalyse hat Marx eine Kritik des Fetischismus der bürgerlichen Gesellschaft entworfen. In dieser versucht er zu erklären, warum Vergesellschaftung im Kapitalismus in einer Art und Weise — nämlich vermittelt über den Wert — stattfinden kann, die allen Beteiligten, wie wohlinformiert und mächtig sie auch erscheinen mögen, unverständlich bleibt, ja warum die Bewußtlosigkeit aller Beteiligten geradezu die Voraussetzung für das Funktionieren kapitalistischer, wertverwertender Ökonomie ist. Vor dem Hintergrund der hinter dem Rücken aller sich vollziehenden Vergesellschaftung werden Kategorien wie „bewußtes Handeln“ und „passives Erleiden“, „Rationalität“ und „Irrationalität“, „vernünftiges Kalkül“ und „Irrsinn“ fragwürdig.

Daß die Quellen „ethnischer Ethik“ wie „ethischer Ethnifizierung“ gerade in der Nicht-Durchschaubarkeit des Kapitalverhältnisses für das „handelnde“ Personal seiner selbst liegen: das zu begreifen fällt den Strategen heute noch schwerer als vor 10 Jahren. Nichts verschlägt es dabei, wenn einer — wie genannt — auf Kohlenreviere (Fülberth) setzt , ein anderer auf die Donauschiffahrt, wie Heiner [Möller] in seinem letzten Text oder ein Dritter (Gremliza) auf die Ausdehnung der Eurozone, denn auch er behandelt das Geld wie Grünkäse: die Geldzonen sind nur ein Vexierbild der Rohstoff- und Handelsimperien vergangener Jahrhunderte. Das Gerangel zwischen den USA und Deutschland, sich einer Ethnobande (der UÇK) als jeweils besserer Verbündeter anzudienen, hat nichts mit irgendetwas, das man Jugoslawien abpressen oder rauben müßte, zu tun — genauso wenig wie mit anderen, vom Kriegsschauplatz absurd weit entfernt gelegenen Rohstoffquellen. Der Verweis auf jene berüchtigte NATO-Doktrin, die als Ziel des Bündnisses ausgibt, sich weltweit freien Handelszugang zu den Rohstoffen inklusive des berüchtigten Öls aus Baku zu verschaffen, erklärt auch nichts — denn niemand kam oder kommt auf die Idee, dem Westen die Rohstoffe als Handelsgut zu verweigern. Der Weltmarkt muß nicht durchgesetzt werden, denn das ist er schon. Und weil die monetäre Reproduktion — und eine andere ist leider nicht in Sicht — der rohstoffbesitzenden Länder auf Gedeih und Verderb von der Devisenbeschaffung abhängt, ist die Drohung des Entzugs von Stützkrediten an Rußland glaubwürdiger als eine umgekehrte Weigerung Rußlands, Erdöl zu verkaufen (was es wohlweislich niemals auch nur in Erwägung zog). Der Bombardierung Jugoslawiens bedurfte es also nicht, um Rußland gefügig zu machen, genauso wenig wie die Bombarierung des Irak etwas zu tun hatte mit der Kontrolle von Erdöl, welches Hussein zum Verdruß der OPEC bereits vor dem Krieg zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt geschleudert hatte. Die geostrategische Erklärung imperialistischer Kriege im postkolonialen Zeitalter ist, auch ohne die Kritik der Politischen Ökonomie allzusehr zu bemühen, ad absurdum zu führen, was ich gerade versuchte. Um aber zu erklären, warum sie, die Kriege, dennoch stattfinden, sogar mit Zwanghaftigkeit stattfinden, ist sie dringlich vonnöten. Sie allein vermag die Abwesenheit des Interesses, eines Sinns, mit der Notwendigkeit des Irrsinns zu erklären.

Die sinkenden Gewinnmargen der Roh- und Grundstoffindustrien, die nur begrenzt rationalisierbar sind, waren schon zu Spätzeiten des RGW, des COMECON, nicht mehr konkurrenzfähig mit den auf den freien Kapitalmärkten möglichen Zinsgewinnen. Die „dritte industrielle Produktionsrevolution“ hat Bedingungen geschaffen, die aus in Schwer- und Grundstoffindustrien fix angelegtem Kapital einen Bittgänger des fluiden Anlagekapitals machten. Für den Fall des Chroms, der natürlich hier nicht zur Debatte steht, heißt das, daß die Anleger sich für die südafrikanischen Minen und nicht für den Balkan erwärmen. Der unmittelbare Besitz von Grundstoffindustrien wird so zunehmend zu einem Risiko, ja einer Last, und nicht zu einer sicheren Quelle des Gewinns — völlig unabhängig davon, ob Chrom oder Braunkohle nützliche Gegenstände sind oder nicht. Wie der „stumme Zwang der Verhältnisse“, von dem Marx spricht, des vollendeten Marktes die Besitzer von Arbeitskraft nicht nur freiwillig zur Arbeit gehen, sondern sich gegenseitig unterbieten läßt beim Feilbieten ihrer zunehmend wertlosen Ware, so ergeht es auch den Besitzern der geologischen Rohstoffe. Je weniger das Kapital unmittelbar für die Erhaltung der einen bzw. für die Förderung der anderen aufkommen muß, desto besser. Ebenso sehr wie die neue metropolitane Rede von der sogenannten „Eigenverantwortung“ („neue Sozialdemokratie“) mit dem globalen Wertverfall der Arbeitskraft zu tun hat, so sehr hatte es bereits die Dekolonialisierung der letzten 30 Jahre mit dem geologisch-sachlichen Wertverfall. Ein ökonomischer Grund für eine Rekolonialisierung ganz gleich welcher Art, für die Einsetzung und Erhaltung loyaler Regimes, ist nicht in Sicht so lange der Weltmarkt an keine anderen Grenzen stößt als die, die er sich selbst setzt — nämlich durch die Ruinierung konkurrenzunfähig gewordener Nationalkapitale, die ihr letztes Hemd verschleudern müssen. Die Loyalität solcher Regimes der Peripherie muß seit 1989, seit dem Untergang der Sowjetunion, nicht mehr erkauft oder erzwungen werden — sie ist sozusagen weltmarkt-natürwüchsig eh schon da. Und noch nicht einmal unter der Prämisse, die Elenden aus den zusammengebrochenen Nationalökonomien der Peripherie von den schrumpfenden Wohlstandsinseln fernhalten zu wollen, ehält der jüngste Jugoslawienkrieg einen unmittelbaren Sinn: Eine stillschweigende Teilung des Kosovo, eine Austrocknung der UÇK und das Überlassen der Armutsverwaltung an Jugoslawien wäre allemal billiger und risikoloser gewesen.

Der Typus des „Menschenrechtskrieges“, der „humanitären Intervention“ hat in diesem Sinne keine unmittelbar materiellen Gründe. Das Agieren der beteiligten Staaten gleicht dem von Paranoikern: Sie handeln aus innerem Zwang heraus und nicht aus äußerem Anlaß — weil die Gegner gefährlich oder die Beute verlockend wären. Eine solche Beute gibt es nicht. Bildlich gesprochen handelt es sich um einen bewaffneten Überfall auf eine längst in Konkurs gegangene Bank, deren Tresore leer sind. Damit aber nicht genug — wenn man im Bild bleiben möchte: Die Gangster müssen hinterher auch noch die Schäden zumindest teilweise beseitigen und an der Einbruchsstelle noch jahrzehntelang Wache schieben. Nun kann man vernünftig nicht erklären, warum Paranoiker irgendetwas meinen tun zu müssen. Wenn aber — wie in diesem Falle — die Paranoia eine systematische und kollektive ist, lassen sich die Gründe für ihre offensichtliche Unwiderstehlichkeit durchaus benennen. Gerade Antideutschen solle ein solches Verhaltensmuster sehr vertraut vorkommen: Deutschland lieferte das Musterbeispiel von kriegerischen und massenmörderischen Übersprungshandlungen, die sich im Effekt nicht rechneten und mit denen, gegen die sie sich richteten, außerhalb der Einbildungskraft der Mörder nichts zu tun hatten. Um die Untaten des Nationalsozialismus nicht auf eine materielle Grundlage zu stellen, mußte — bei manchen Antideutschen — eine spezielle „deutsche Unkultur“ als Erklärungsnothebel herhalten, eine Kultur, die mit den Grundkategorien des Kapitals, des Kapitalismus wie ihn der Materialist versteht, nichts zu tun haben durfte. Andernfalls — wenn man es durchdekliniert — müßte man gemäß der eigenen ökonomischen Logik den Vernichtungsantisemitismus allein aus dem Wunsch der „Arisierung“ jüdischen Vermögens erklären. Diese defiziente Analyse des faschistischen Epochenumbruchs rächt sich: Umstandslos wird heute von Materialisten subjektive Vernunft in einer Welt verortet, die spätestens seit jener Zeit kein Gramm objektive mehr enthält, in der die Wahrnehmung so beschädigt ist, daß alles Handeln auf bloßer Projektion beruht. Der Nationalsozialismus hat die Welt verlassen — die objektive Vernunft, um die es ginge, ist deswegen nicht in sie zurückgekehrt. Sie blieb in dem Teufelskreis, den der NS produzierte, denn nach wie vor — im Weltmaßstab sogar mehr denn je — ist die Reproduktion der Menschen an die Verbesserung der mehrwertschöpfenden Apparatur geknüpft. Diese aber negiert die Reproduktion der Menschen. Die Verfolgung des unmittelbaren Interesses zur Selbsterhaltung zeitigt eine diesem Interesse völlig entgegengesetzte Konsequenz: die Selbstvernichtung. An dieser hat natürlich niemand ein Interesse. Aus dieser widersprüchlichen und tödlichen — auf lange Sicht — Konstellation heraus allein verbietet sich die Rede vom „Interesse“, das nämlich ein autonomes Subjekt voraussetzen müßte, das die Welt sich zum Mittel macht und nicht von dieser zum bloßen Mittel degradiert wird. Zu einem Mittel, das gerade umso gefährdeter und verzichtbarer wird, je besser es sich den Selbstzwecken des autonomen, prozessierenden Kapitals anpaßt. Vernünftig ist es, in dieser Konstellation von den Handelnden keine Vernunft sondern Paranoia zu erwarten.

Wie wenig sich die irre Rationalität der ökonomischen Rationalität mehr trennen läßt von der subjektiven Projekton, zeigt der Zusammenhang zwischen Kriegsführungspotenz (verzeiht mir diese Metapher) und Wechselkursentwicklung von Euro und Dollar. Lezterer stieg umso mehr, je länger der Krieg andauerte. Da wähnt unser Materialist sich doch noch bestätigt: Dadurch, daß die mächtigere und erfolgreiche Kriegspartei sich mehr Besitztitel und mehr Einfluß erstreitet, steigt der Wert ihres Geldes — so scheint es zumindest. Tatsächlich aber, wie bei den Rohstoffen gezeigt, verhält es sich so, daß Gewinn- und Renditeaussichten keineswegs in der Allokation konkreten Reichtums, sondern im Bereich des abstrakten Reichtum, der konkurrenzfähigen Zusammensetzung des Kapitals einer Nationalökonomie, begründet liegen. Im Zeitalter der „dritten industriellen Revolution“, wie sie so heißt, und der Dominanz der Aktienmärkte über die Gütermärkte hat das Kapital den stofflich vorhandenen Reichtum, seine Ressourcen oder ganze grundstoffverarbeitende Industrien offensichtlich als flüchtiges und verschwindendes Moment seiner Bewegung gesetzt. Die bankrotten Schwerindustrien des Ostens und Südostens, die den Wettlauf um Produktivität irreversibel verloren haben, sind da einen Schritt weiter: Sie sind ein verschwundenes Moment dieses Prozesses. Paradoxerweise ist es aber gerade die Flüchtigkeit des abstrakten Reichtums, die das aufgrund dieser Flüchtigkeit obsoltete Kriegführen wieder ins Spiel bringt — aber nicht mehr als kolonialistische Berechnung, sondern indem das Kapital in seiner zinstragenden Erscheinungsform jedes hergebrachte Interesse zugunsten panischer Angstbeißerei ausgehöhlt hat.

Warum also aus Geld mehr Geld wird oder auch nicht, ist den Beteiligten mysteriöser denn je. So sehr sie die politischen und militärischen Fäden in der Hand halten, so wenig vermögen sie wirklich über den Krisenmechanismus, den sie gleichzeitig betätigen, weil sie ihn betätigen müssen. Das Mysterium vollendeter Macht, die zugleich vollendete Ohnmacht ist, läßt rechnende Vernunft in Esoterik umschlagen. Es tritt eine Regression ein, die gegen die mythische Gefahr, als welche sich die notwendig selbstzerstörerische Wirkungsweise des Kapitals in den Köpfen darstellt, einen ebenso mythischen Kultus der Stärke setzt — als ob es noch etwas mit archaischer Gewalt abzuwenden oder mit ökonomisch unvermittelter Verfügung etwas zu gewinnen gäbe. So zwingend ist diese Mythisierung, daß die Investitionstätigkeit der Börsen diesem Hokuspokus verfällt und dem Wahn dadurch materielle Gestalt verleiht. Es wiederholt sich die Schizophrenie des kapitalistischen Subjekts in absoluter Vollendung — eben: Verlust der Realität: Handelt es falsch, ohne zu wissen warum (im Sinne der Erhaltung des abstrakten Reichtums), geht es sofort unter. Handelt es richtig, ebenfalls ohne zu wissen warum, sägt es trotzdem an dem Ast, auf dem es sitzt.

So werden Realität und Wahn immer schwerer unterscheidbar. Die Stärke des Dollar erscheint als Konsequenz der militärischen Aggressivität der USA — ein Zusammenhang, der nur vermittels des objektiv, ja notwendig paranoiden Bewußtseins der handelnden Eliten überhaupt besteht, denn als sachlichen gibt es ihn nicht. Die Fähigkeit, über einem abgeschriebenen Territorium Bomben abzuwerfen, sagt nichts über die Fähigkeit der auf dem Territorium des Bombenwerfers gelegenen Industrie aus, Surplus zu ergattern. Nichts schützt die Charaktermasken des Kapitals vor dessen überwältigender, sekundärer Naturgewalt. Weil sie dies ahnen, nähern sie sich der Stufe der Jäger und Sammler — allerdings ohne daß es noch etwas zu jagen oder zu sammeln gäbe. Horkheimers Auffassung, daß die allerjüngste Form der Ökonomie zugleich ihre allerälteste sei, der Krieg nämlich, bestätigt sich nicht nur im tiefen Widerspruch des NS, der kreditfinanzierten Naturalwirtschaft, dessen Raubzüge in den Osten niemals den ruinierten Staatshaushalt hätten aufpäppeln können, die aber gerade aufgrund dieser Vergeblichkeit geführt wurden. Insofern war er, der NS, keineswegs ein erratischer Irrläufer, sondern die blutrünstige Ouverture für eine Form des Kapitalismus, in dem nach vernünftigen, interessegeleiteten Handlungsstrukturen zu suchen der letzte Rest kritischer Vernunft verbietet. Für den letzten Krieg und für die nächstkommenden kann man Horkheimers Überlegung ungefähr so paraphrasieren: Niemand hat Interesse, nach Baku vorzudringen. Gerade deswegen aber ist es gut möglich, daß plötzlich alle so tun als ob sie es wollten — nur um zu zeigen, daß sie es könnten.

Die Sendung gestalteten Stephan Grigat und Robert Zöchling. Musik: das Louis Sclavis Sextett mit Auszügen aus dem Stück Le Diable et son Train von der CD Les Violences de Rameau. Ein Artikel von Uli Krug mit dem Titel Interesse, Gewissen und Projektion im Jugoslawienkrieg findet sich in der Nummer 4-5/1999 von Context XXI und ist ebenso in der Internet-Ausgabe unseres Mediums verfügbar.

Kakanien, Krieg und Wahnsinn

Uli Krug als Antideutscher auf einer antideutschen Konferenz hebt demgemäß die historische Vorbildlichkeit Deutschlands hervor. Vollkommen ungewürdigt bleibt hier — wie leider auch sonst bei uns — der Umstand, daß Kakanien just in Bosnien ebenfalls bereits historisch vorbildlich gewesen war: mit einer ökonomisch und politisch irrsinnigen, ausschließlich von „innerem Zwang“ geleiteten Aktion, die zur Bosnischen Annexionskrise und — nach kurzer Kalmierung und Hinzufügung weiteren Irrsinns — in den Ersten Weltkrieg führte.

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