FORVM, No. 487-492
Dezember
1994

»Kursbuch« Hundertsechzehn

Auf der Höhe der Zeit
Kursbuch 116: Verräter, Rowohlt
Berlin 1994, 186 Seiten, 15 DM

Zu Zeiten des Kalten Kriegs unterstellten moskautreue Kommunisten ihren Gegnern den Vorwurf, Russen würden kleine Kinder verspeisen. Indem sie die Absurdität dieser Behauptung nachwiesen, meinten sie, auch widerlegt zu haben, daß in der Sowjetunion Menschen massenhaft in Lagern umkamen.

Die Methode ist immer dieselbe: man entkräftet einen nie geäußerten Vorwurf, um den zu Recht bestehenden aus dem Gespräch zu schaffen.

Das ›Kursbuch‹, einst theoretisches Zentralorgan der Neuen Linken, seit einiger Zeit jedoch mit zunehmender Energie den Wendekurs anzeigend, weil Kursbücher nun mal keine Richtungen bestimmen, sondern nur die eingeschlagenen dokumentieren, hat seine jüngste Nummer der (Selbst-) Verteidigung von »Opportunisten« gewidmet.

Jenen, die für »Standfestigkeit« plädieren, wirft Henryk M. Broder, der mal wieder das erste Wort hat, »intellektuelle Unbeweglichkeit und faule Selbstgenügsamkeit« vor. Er ortet sie auf dem »Gipfel eines Ruinenbergs«, während er sich in den Niederungen eines Kapitalismus tummelt, die er wohl für blühende Täler hält.

Daß, wer stur an einer einmal gefaßten Meinung festhält, Gefahr läuft, hinter dem aktuellen Erkenntnisstand zurückzubleiben, ist ebenso wahr wie banal. Daraus läßt sich aber nicht per Umkehrung schließen, daß jeder Gesinnungswandel schon Fortschritt bedeute. So richtig es war, Galilei in seinem »Verrat« zu folgen, so überflüssig wäre es, nun Galilei zu »verraten«, bloß weil mal wieder ein Wechsel der Ansichten nötig schiene. Und es spricht manches dafür, weiterhin an den Fallgesetzen festzuhalten, unbelehrbar — ihrer lang anhaltenden Gültigkeit zum Trotz. Wer, wie Broder, für sich ein »Leben voller Irrtümer« beansprucht, sollte zumindest die Möglichkeit ins Kalkül einbeziehen, daß er jetzt irrt — auch bezüglich früherer Irrtümer. Zuzustimmen ist Christian Semler, der in seinem Beitrag mit dem Schnitzler-Titel Der Weg ins Freie (wenn auch, gemäß einem aktuellen Trend zur Vertauschung der Fälle, mit falschem Genitiv) meint: »die Weigerung, Bruch und Neuanfang in der eigenen Biographie, zumal der politischen, zu erklären, weckt Zweifel daran, ob der Politiker (Journalist, Wissenschaftler) heute in der Lage ist, gemäß der jetzt von ihm vertretenen Überzeugungen zu handeln. Ob er sich diese seine gegenwärtigen Überzeugungen tatsächlich in Auseinandersetzungen mit seiner ursprünglichen Position erarbeitet hat und nicht auf der jeweils nächsten Welle schwimmt. «

Daß es Einsichten sind, die jemanden heute Positionen einnehmen lassen, die er früher bekämpft hat, glaube ich frei nach Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi nur, wenn es mit einigem Risiko verbunden ist, sie zu verteidigen.

Die Seilschaft der ›Kursbuch‹-Autoren, der man in nur wenig variierter Besetzung seit einiger Zeit überall begegnet, phantasiert eine Seilschaft, die die (an anderen Stellen längst totgesagte) verbliebene, sich ihrer eigenen totalitären Vergangenheit nicht stellende Linke verbinde (Sibylle Tönnies). Wer sich, wie die Autorin, einst im Treppenhaus »auf unsicheres Gewässer begab«, benötigt heute als Mindestausstattung eine Verschwörungstheorie, um die eigene gesicherte Stellung an den bespöttelten »Fleischtöpfen« als Endziel eines mühsam erkämpften Wegs in die geistige Unabhängigkeit zu rechtfertigen.

Richtig ans Herz greift der Beitrag von Bernd Ulrich, der uns »Das Geheimnis« verrät, woran Opportunisten leiden: »Die Folge der Vertreibung aus der linken Wüste ins Paradies des freien Denkens ist: Man kommt nie ganz weg, und man kommt, innerhalb des Links-Rechts-Kontinuums, erst recht nirgendwo an. (...) Und den Stallgeruch wird nicht mehr los, wer ein paar Jahre auf der ›animal farm‹ verbracht hat. « Da haben wir es. Wie der ewige Jude, der natürlich stinkt, irren sie durchs »Paradies des freien Denkens« (die SPD, die ›FAZ‹, oder gar das ›Kursbuch‹?), weil sie halt nie nie anderes gekannt haben als Wüste, Wüste, Wüste — und den Orwell, der das bisserl Wasser zum Überleben vor der Vetreibung spendete.

Muß es nicht zu denken geben, daß sich die Generation, die den Nationalsozialismus mehr oder weniger aktiv, mehr oder weniger überzeugt, mehr oder weniger fanatisch mitmachte, niemals gezwungen sah, derart radikal öffentlich mit ihrer Vergangenheit abzurechnen, wie es heute einige tun, die sich einst zur Linken rechneten. Es bestätigt die nur vorübergehend und scheinbar unterbrochene deutsche Kontinuität eines rechten Grundkonsens, daß sich früher oder später zu entschuldigen hat, wer gegen ihn verstieß. Nicht die (in Erinnerung an marxistische Relikte gespenstisch personifizierte) Geschichte hat den Sozialismus ein für alle Mal erledigt, wie uns fast alle ›Kursbuch‹-Beiträge versichern, sondern die Profiteure des Status quo, in diesem Jahrhundert in Deutschland niemals ernsthaft gefährdet, haben uns verboten, ihn zu denken. Daß selbst gestrige Linke, die entschiedene Gegner der Sowjetunion und der DDR waren, darauf hereinfallen und sich den Anschein geben, als hätten ihre Utopien mit deren totalitärem System geliebäugelt, hat weniger mit Sklerose zu tun als mit eben jenem Opportunismus, um den es im aktuellen ›Kursbuch‹ rechtfertigend geht.
Und so möchte Richard Wagner, für den Nation kein Fremdwort ist, nicht von ukrainischen KZ-Wächtern oder der kroatischen Ustascha sprechen, sondern von den Verbrechen der Roten Armee, fünfundvierzig in Berlin. Wenn das ›Kursbuch‹ erst richtig in Fahrt kommt ...

Klaus Hartung bemüht sich mal wieder um die Rehabilitierung eines »Nationalen«, das natürlich mit Nationalismus nicht mehr gemeinsam hat als den Wortstamm, und schlägt als Alternative zu linken Interventionen gegen fremdenfeindliche Aktionen vor:

Der Schutz der Minderheiten wäre sicherer, wenn es als Schande für die Deutschen begriffen würde, daß Ausländer auf der Straße gejagt werden. Das setzt aber eine Identifikation mit der eigenen Nation voraus.

Warum der Schutz nicht noch sicherer wäre, wenn sein Ausbleiben als Schande für die Brillenträger oder für die Fußballfreunde begriffen würde, mit denen man sich demnach zu identifizieren hätte, erklärt Hartung nicht.

Claus Leggewie hebt erneut das Klagelied über die political correctness und den Lobgesang auf Rebellion, Frontenwechsel und Voltaire an, und er hat ja so recht — nur: wem will er mit welcher Absicht was sagen, was die oder der nicht schon wußte, Überhaupt: wo ist sie eigentlich angesiedelt, die menschenverschlingende political correctness, bei jenen etwa, die Reich-Ranicki seine Geheimdiensttätigkeit vorwerfen? oder bei jenen, die Reich-Ranickis Ankläger der Hexenjagd zeihen? oder vielleicht bei Reich-Ranicki selbst, dem Christa Wolfs länger währende Parteimitgliedschaft mißfällt? und wo, bitteschön, findet sich bei diesem ganzen Possenspiel die Linke?

»Denkt gefährlich!« fordert Leggewie, und die ›FAZ‹ vom 18. Juni interpretiert das in zwei Artikeln, die man komplementär lesen muß, »auf der Höhe der Zeit«: nicht denkbar darf sein, daß die DDR kein Knast gewesen sei; denkbar hingegen muß sein, daß die Gaskammern nicht funktionieren konnten. Ich werde meinen wundersam abhanden gekommenen Großeltern (denkbar, daß sie gar nicht tot sind? ) empfehlen, »Auschwitz in technischer Perspektive zu betrachten«. Denn das leuchtet schließlich ein: Menschen mit Gas zu töten ist ein weitaus schwierigeres technisches Problem, als einen Staat mit jenen Attributen zu versehen, deren Gesamtheit den Begriff »Gefängnis« definiert.

Welche Motive lassen wem was als denkbar und als bedenkenswert erscheinen? Denkbar ist, daß Südafrika eine friedlichere Zukunft hätte, wenn die Schwarzen erst mal ein paar Millionen weiße Apartheid-Befürworter massakriert hätten. Wer aber sollte mit welchem Ziel und mit welcher Wirkung solches denken?
Unsere zu den reaktionären Ansichten ihrer Väter Bekehrten beklagen ein angebliches linkes Denkverbot gegenüber Thesen, die einem längst massiv aus Zeitungen und von Plakatwänden entgegen denken. Daß hingegen der Gedanke unzulässig ist, die Marktwirtschaft könne vielleicht doch nicht alle Probleme lösen, stört sie nicht.

Die Tabus der Mächtigen sind auch ihre Tabus geworden. Ihr Eifer kennt nur eine Richtung. Darin sind sie sich treu geblieben.

Wieviel Zivilcourage ist eigentlich vonnöten, um Botho Strauß, Martin Walser oder Hans Magnus Enzensberger zu verteidigen? Als Leitmotiv durch die meisten ›Kursbuch‹-Beiträge zieht sich, was Klaus Hartung bündig so formuliert: »Die Linke, die einst aus dem Tabubruch ihre Kraft bezog, hütet die Tabus.« Es ist schon wahr: auch die Linke hatte und hat ihre Tabus. Es ist schon wahr: allzu oft wird zutreffende Kritik durch schlagwortartige Diffamierung — Faschist, Rassist, Frauenfeind — abgewehrt (was nicht bedeutet, daß es nicht tatsächlich Faschisten, Rassisten, Frauenfeinde gibt — die im übrigen, und das kompliziert das Ganze, in einzelnen Punkten dennoch recht haben können). Es ist schon wahr: allzu rasch rufen manche Linke nach Verboten. Winfried Bonengels Beruf Neonazi ist allerdings das denkbar schlechteste Beispiel. Die Front zwischen Befürwortern und Gegnern eines Verbots dieses Films verläuft quer zur Links-Rechts-Unterscheidung. Aber wie wäre es, wenn sich die couragierten Tabubrecher des ›Kursbuchs‹ mal etwa mit folgenden Thesen auseinandersetzten: daß Kirchenvertreter, die nach 1945 Nazi-Kriegsverbrecher deckten und ins Ausland brachten, zumindest ebenso zur Verantwortung gezogen werden sollten wie das Ehepaar Jens, das Deserteuren während des Golfkriegs Quartier bot; daß die Familie eher eine Disziplinierungs- und Unterdrückungsinstitution denn eine schützende Struktur ist und daher vom Staat nicht gefördert werden sollte; daß Höchstverdiener bis zu achtzig Prozent Steuern bezahlen sollten; daß die Autonomie der Hochschulen systematisch, mit Unterstützung der Sozialdemokratie, demontiert wird mit der Propagierung von Drittmittelforschung etc. etc. Ein Einspruch der Linken, die »die Tabus« hütet, ist nicht zu befürchten.
Die zynisch gewendeten Kämpfer gegen das Unrecht machen sich große Sorgen um den Besitz derer, die in der DDR enteignet wurden. Daß die arisierten Wohnungen und Betriebe nach wie vor jenen gehören, die sie sich durch Nazirecht angeeignet haben, nehmen mittlerweile selbst Juden, wenn sie vom Zungenkuß mit der Macht betört sind, als läßliche Sünde hin. Zu den Zeiten, da »die Linke« nach Hartung den Tabubruch pflegte, galt für Kommunisten: »Wenn dich der Feind lobt, hast du etwas falsch gemacht. « Heute lautet der Konsens: wenn Gysi etwas Einleuchtendes sagt, heuchelt er. Es sind nicht die Linken, die Zustimmungsverbot erteilen, wenn Gysi »gefährlich denkt«.

Die von mehreren Autoren artikulierte Aufforderung an eine Linke, die es also offenbar doch irgendwie irgendwo gibt, sich der gegenwärtigen Wirklichkeit zu stellen, meint im Klartext: sich ihr anzupassen, sie nicht verändern wollen zu sollen, sich so zu verhalten, wie die Mahner: opportunistisch eben. (Man kann das auch, feiner, pragmatisch nennen.)

Das ›Kursbuch‹ 116 enthält noch eine üppige Zahl von hier unerwähnten Seiten, auf denen mal originelle, mal langweilige Ausführungen gedruckt sind, die nur eins verbindet: daß sie mit dem angekündigten Thema soviel zu tun haben wie die Lottoergebnisse mit dem Rinderwahnsinn.

Übrigens: das ›Kursbuch‹ heißt »Verräter«, nicht »Opportunisten«. Indem die Autoren den als Verräter titulierten Opportunisten loben, loben sie vor allen Dingen sich selbst. Nicht einer ist dabei, der den Verrat an jener Position priese, die er gerade einnimmt. Das, zumindest, sollte Skepsis erregen.

Die Autoren verteidigen sich gegen den Vorwurf des Verrats, den ihnen niemand gemacht hat. Sie haben nie, unter Risiko, ein Kollektiv, eine Idee »verraten«, sondern sich bloß konjunkturell umorientiert, als ihnen dies Vorteile einzubringen versprach. Sie sind Opportunisten: nicht mehr und nicht weniger. Herbert Wehner, den Christian Semler (im genannten, neben den Aufsätzen von Friedrich Christian Delius und Eva Demski am wenigsten eitlen Beitrag des Hefts, an dem mein Romanistenfreund nur auszusetzen hat, daß er aus einem »embarras« eine »embarasse de richesse« macht) und Claus Leggewie erwähnen, hat mit seinem »Verrat« das Leben riskiert. Die Broders, Hartungs und Stephans werden seit und dank ihrem »Verrat« als Medienstars gehätschelt. Das ist der Unterschied.

Im übrigen ist es bemerkenswert, mit welcher Regelmäßigkeit solche, die für sich das Recht auf »Verrat« und den Verzicht auf eine »Vor-Zensur durch die Gutmeinenden« in Anspruch nehmen, ehemaligen Freunden »Verrat« vorwerfen und übelnehmen, wenn diese sich unzensiert kritisch zu deren Gesinnungswandel äußern. Sie erwarten eine Solidarität, und sei es bloß eine des Stillschweigens, die sie ihrerseits aufgekündigt haben. Sie teilen, wirkliche und eingebildete Tabus zertrümmernd, aus und betonieren Tabus, wenn’s zum Einstecken kommt. Grotesk wird es, wenn Henryk M. Broder, der jeden Kritiker Israels oder des Films Schindlers Liste als Antisemiten stigmatisiert, sich selbst zum Opfer linken Verrats-Verdachts stilisiert. Daß es sich beim vorliegenden »Kursbuch‹ um eine Selbstkritik der Linken handle, ist ein fulminantes Mißverständnis. Es geht allein um die Selbstrechtfertigung der Überläufer.

Und wenn nun einer meinte: schickt doch dieses ganze Gesocks zum Hutschenschleudern in den Prater — wäre das linke Unduldsamkeit oder das von Claus Leggewie emphatisch geforderte »gefährliche Denken«?
Nur eins: wo sind Peter Schütt und Klaus Rainer Röhl abgeblieben, und wäre es nicht an der Zeit, Günther Maschke die Avantgarde-Medaille für aufklärerischen Verrat zu verleihen?

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