FORVM, Heft 173
Mai
1968

L’art pour l’art der Volkswirtschaft

Zu einem Buch von Hans Albert

Hans Albert, Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziologischer Perspektive. Soziologische Texte Bd. 36, Luchterhand-Verlag, Neuwied a. Rhein, 1967, 531 Seiten.

Das Problem der „Betriebsblindheit“ in Unternehmungen ist nicht unbekannt. Jahrzehntelange Routine und Spezialisierung führen dazu, daß man alle Vorgänge vom gewohnten Blickwinkel aus betrachtet und daß auch Neuerungen dem überlieferten Rahmen angepaßt werden. Ein fachkundiger Betriebsberater mit anderem „background“ kann meist mühelos auf verschiedene Schwächen hinweisen, die dem betriebsinternen Experten als liebenswerte und selbstverständliche Bestandteile seiner Arbeitswelt erscheinen.

Solche Betriebsblindheit tritt auch in der Wissenschaft auf. Spezialisierung und Tradition erzeugen gewisse Denkgewohnheiten, die den Fachkollegen selbstverständlich erscheinen, die aber vom methodologischen Gesichtspunkt oder vom Standpunkt anderer Disziplinen her fragwürdig sind. Diese anderen Wissenschaften sind aber ihrerseits häufig durch Methode und Sprachsystem zu abgekapselt, um ihre Zweifel genügend wirksam zur Kenntnis bringen zu können. Nur selten finden sich jene mehrseitig ausgebildeten Wissenschaftler, die den Schritt über die Grenzen verschiedener Disziplinen vollziehen und dadurch als Berater gegen „Betriebsblindheit“ fungieren können.

Für die Nationalökonomie erfüllt Hans Albert diese Aufgabe nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren mit erstaunlicher Konsequenz und großem Scharfsinn. Als ausgebildeter Nationalökonom hat er sich intensiv mit wissenschaftlicher und besonders sozialwissenschaftlicher Methodenlehre und mit Soziologie beschäftigt, dem Fach, das er derzeit als Professor an der Universität Mannheim vertritt. Diese Vielseitigkeit ermöglichte es ihm, in zahlreichen Untersuchungen zur Wirtschaftstheorie den Nationalökonomen als keineswegs betriebsblinder Warner und Mahner entgegenzutreten. Eine Auswahl seiner wichtigsten Aufsätze ist jezt in Buchform erschienen und bietet einen für jeden Wirtschaftstheoretiker und Soziologen faszinierenden Lesestoff.

Schwächen der „neoklassischen“ Wirtschaftstheorie

Die Nationalökonomie nimmt unter den Sozialwissenschaften zweifellos eine Sonderstellung ein. Weit früher als den anderen Zweigen gelang es ihr, sich aus einer vorwiegend spekulativen und moralisierenden Betrachtung sozialer Phänomene herauszulösen und eine realistische Erfassung wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten anzustreben. Rund 200 Jahre nationalökonomischer Tradition in dieser Richtung — Adam Smiths bahnbrechendes Werk über den Reichtum der Nationen erschien 1776 — haben dazu geführt, daß die Wirtschaftswissenschaft heute ein weit imposanteres und geschlosseneres theoretisches Gerüst aufweist als irgendein anderer Zweig der Sozialwissenschaften. Was Eleganz und Präzision der Gedankenführung betrifft, kommen ihre theoretischen Modelle denen der exakten Wissenschaften — dem „image“ der meisten Sozialwissenschaften — am nächsten.

Doch die Fassade trügt. In dreifacher Hinsicht weist die heute im Westen vorherrschende sogenannte „neoklassische“ Wirtschaftstheorie ernste Schwächen auf, die den ausschließlich in ihrer Tradition aufgezogenen Nationalökonomen vielfach kaum bewußt werden. Man kann diese drei Schwächen unter den Schlagworten implizite Ideologie, Modellplatonismus und Ökonomismus zusammenfassen.

Die nationalökonomische Wissenschaft hat in ihrer zweihundertjährigen Geschichte die Spuren ihrer Herkunft aus der Moralphilosophie noch keineswegs ganz verwischt. Sie ist mit Wertungen und Wertvorstellungen durchsetzt, die vor allem deshalb so heimtückisch sind, weil sie vielfach in scheinbar realistischen Zustandsaussagen verhüllt auftreten.

So ist etwa der zentrale Begriff des Marktgleichgewichts einerseits das Ergebnis einer abstrakten Analyse der vollen Implikationen gewisser wirtschaftlicher Tendenzen, hat aber anderseits in vielen theoretischen Werken auch die Bedeutung einer anzustrebenden Norm. Wiewohl das „Gleichgewicht“ der reinen Theorie in der Realität nie anzutreffen ist und nur als gedankliche Hilfskonstruktion dienen sollte, erhält es durch die normative Betrachtung — schon die Bezeichnung „Gleichgewicht“, die an soziale Harmonie anklingt, ist emotionell stark geladen — eine besondere Bedeutung. Eine scheinbar ausschließlich realistische, wenn auch stark vereinfachte Analyse der Konkurrenzmärkte wird damit unversehens zur ideologischen Stütze für die „freie Wirtschaft“ mit beachtlichen wirtschaftlichen Implikationen.

Zahlreiche andere Beispiele dieser Art lassen sich in diversen Gebieten der Nationalökonomie finden. Nicht immer ist die Vermengung von realistischer Analyse und normativ-ideologischer Wertung leicht zu durchschauen. Vielen Nationalökonomen wird sie kaum bewußt. Ideologiekritik an konkreten Elementen der Wirtschaftstheorie ist daher ein wichtiger Beitrag zur Verwissenschaftlichung des nationalökonomischen Lehrgebäudes.

Das zweite Problem, auf das nationalökonomische Spezialisten gestoßen werden müssen, betrifft den erkenntnistheoretischen Charakter ihrer theoretischen Modelle. Ungleich den Naturwissenschaften kann die Nationalökonomie — ebenso wie andere Sozialwissenschaften — ihre Theorien nicht in ständigem Wechselspiel mit empirischen Versuchsketten entwickeln und testen. Der generelle Charakter der nationalökonomischen Theorie, der sie vorteilhaft vom bloßen Klassifizieren und Schematisieren mancher anderen sozialwissenschaftlichen Richtungen abhebt, konnte nur um den hohen Preis beträchtlicher Vereinfachungen und Abstraktionen erkauft werden. Darin liegt noch keine besondere Gefahr, solange die Ergebnisse solcher Theorien innerhalb der gegebenen Möglichkeiten ständig mit der Wirklichkeit konfrontiert und auf Grund dieser Erfahrungen (vorläufig) akzeptiert, modifiziert oder verworfen werden.

Die Distanz zum praktischen Experiment hat jedoch in der ökonomischen Theorie das „Gedankenexperiment“ begünstigt, in dem einige plausible Axiome aufgestellt und die daraus erfließenden Implikationen deduktiv abgeleitet werden. So dienlich dies als Vorarbeit und Hilfsmittel für die Erstellung realistischer Theorien sein kann, so gefährlich wird diese Methode, wenn sie sich verselbständigt.

Dieser Gefahr ist die Nationalökonomie nicht ganz entgangen. Aus immer vielfältigeren und verästelteren Hypothesen wurden imposante theoretische Modelle geschaffen, deren komplizierter logischer Aufbau schließlich ins Zentrum theoretischer Diskussionen rückte. Die logische Geschlossenheit der tautologischen Umformungen umfangreicher Hypothesensysteme wird zum Gegenstand scharfsinniger Analysen, die wenig oder nichts über die Wirklichkeit aussagen. Die Modellkonstruktionen werden auf innere Konsistenz überprüft, gegen die Konfrontation mit der Wirklichkeit aber durch die ausschließliche Beschränkung auf ausgewählte Hypothesen abgeschirmt. Zwar täuscht die Wirklichkeitsnähe mancher Hypothesen häufig eine hohe Realitätsbezogenheit solcher theoretischen Modelle vor. Ein wirklicher empirischer Test — die Falsifizierbarkeit der Ergebnisse durch die Realität — ist aber ausgeschlossen, wenn die Theorie nur die logische Abhängigkeit ihrer Ergebnisse von den Annahmen bescheinigt und ein Abweichen tatsächlicher Erscheinungen von diesen Ergebnissen nur als Hinweis dafür wertet, daß im konkreten Fall die hypothetischen Annahmen nicht vorlagen.

Ein einfaches Beispiel soll diesen Sachverhalt illustrieren. Wenn etwa die Frage nach der Auswirkung einer Preissenkung auf Grund einer bestimmten Theorie über das Verhalten der Konsumenten zu dem Schluß führt, daß ceteris paribus der Umsatz steigt, so handelt es sich zunächst nur um eine logische Ableitung der Folgen dieser Verhaltensannahme, deren Richtigkeit empirisch nicht überprüfbar ist. Denn abweichende Erscheinungen in der Wirklichkeit erzwingen nicht eine Modifikation der Theorie, sondern können mit dem Argument abgetan werden, daß sich wahrscheinlich die in der Ceteris-paribus-Klausel zusammengefaßten sonstigen Einflüsse geändert haben. Erst wenn diese anderen Einflüsse so spezifiziert werden, daß man festlegen kann, ob in einer gewissen Situation die Preissenkung tatsächlich und unbedingt zur Umsatzerhöhung führt, können die Theorie und die ihr zugrundeliegenden Verhaltenshypothesen tatsächlich überprüft werden.

Nicht in allen Fällen ist die Unterscheidung zwischen empirisch entleerten Modellkonstruktionen (die aber als Vorstufe für die Theorienbildung recht wertvoll sein mögen) und empirisch falsifizierbaren realistischen Theorien so leicht durchschaubar. Der spezialisierte Ökonom unterliegt leicht der intellektuellen Faszination komplizierter Modelle und die Konstruktion immer verwickelterer logischer Gebilde kann leicht zur „art pour l’art“ ausarten. Hier setzt die Methodenkritik ein, die sich auf eine rasch wachsende wissenschaftstheoretische Forschung stützen kann.

Das dritte Hauptproblem der nationalökonomischen Theorie besteht in der radikalen Ausklammerung nichtökonomischer sozialer Fakten. Diese Schwäche ist allerdings nur für die neoklassische „bürgerliche“ Nationalökonomie charakteristisch, die heute in Westeuropa und Nordamerika vorherrschend ist. In der klassischen Nationalökonomie war diese Trennung noch keineswegs so ausgeprägt und Marx und seine Nachfolger sind nie in diesen Fehler verfallen. Für sie bildeten ökonomisches und gesellschaftliches Geschehen in ihrer Wechselwirkung stets ein einheitliches Untersuchungsobjekt. Auch die historische Schule in Deutschland und die institutionalistische Schule in Amerika zeigten in ihren ökonomischen Arbeiten Verständnis für das soziologische Milieu, allerdings auf Kosten der Ausarbeitung wirtschaftstheoretischer Gesetzmäßigkeiten.

Anders die neoklassische Theorie. Sie hat soziologische, sozialpsychologische und politische Faktoren weitgehend in den „Datenkranz“ verwiesen und sich auf die unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhänge beschränkt. Diese Abkapselung hat sicherlich die Ausarbeitung „strenger“ theoretischer Gesetzmäßigkeiten erleichtert, aber dafür ihre Verläßlichkeit in einer gesellschaftlich verschiedenartigen und sich wandelnden Welt verringert. Manche Fehlspekulationen in den Entwicklungsländern auf Grund herkömmlicher Wirtschaftstheorien wären vermeidbar gewesen, wenn man die fehlenden soziologischen Elemente genügend berücksichtigt hätte.

Bei aller Anerkennung einer notwendigen Spezialisierung auch in den Sozialwissenschaften erscheint daher die Forderung einer ausreichenden Berücksichtigung soziologischer Faktoren in der Wirtschaftstheorie berechtigt. Wird sie verabsäumt, so können wichtige Tatsachen des Wirtschaftslebens, wie ungleiche Machtverteilung, politischer Druck, die Rolle des Staates und ähnliches mehr, übersehen werden und der Weg zur Erkenntnis grundlegender Wandlungen wird blockiert.

Ideologiekritik, Methodenkritik und Soziologiekritik sind daher drei wichtige Anliegen, die an spezialisierte Fachökonomen herangetragen werden müssen, um sie vor den Gefahren der Betriebsblindheit, Interessengebundenheit und Lethargie zu bewahren. Hans Albert versteht es blendend, auf all diesen Gebieten reichhaltiges Material und fundierte Attacken zu präsentieren, wobei er sich auf wichtige frühere Beiträge von Gunnar Myrdal, K. Popper, T. W. Hutchinson und anderen Autoren stützen kann.

Überbetonte Schwächen?

Zweierlei ist in diesem Zusammenhang anzumerken. Erstens berücksichtigt Albert nicht genügend — und das hat er mit anderen methodologisch orientierten Kritikern gemeinsam —, daß es gerade unter den fähigsten Vertretern der ökonomischen Theorie zahlreiche Forscher gibt, die zwar Methodenproblemen wenig Beachtung schenkten, aber sehr wohl imstande waren, mit den unvollkommenen theoretischen Instrumenten, die sie vorfanden, wichtige neue Erkenntnisse zu produzieren. Ihr empirischer Instinkt war genügend entwickelt, um die Ableitungen aus ihren theoretischen Modellen für die Praxis relevant zu machen, selbst wenn diese Modelle nicht allen wissenschaftstheoretischen Anforderungen entsprechen.

Entscheidender ist der zweite Punkt. Albert ist sich zwar voll bewußt, daß sich die ökonomische Forschung in neuerer Zeit in größerem Maße bemüht, testbare Hypothesen zu entwickeln und ihre Theorien im Lichte realer Entwicklungen zu revidieren. Aber er scheint das Gewicht dieser neuen Denkungsweise zu unterschätzen. Das ist begreiflich, da den Ausgangspunkt für diese Untersuchungen meist die von ihm kritisierten Theorien bilden, von denen Fragestellungen bezogen werden, und weil die traditionellen Darstellungen überdies in den Lehrbüchern noch immer weit stärker dominieren als in der Forschung. Diese neuen Entwicklungen machen Alberts methodologische Einwände nicht überflüssig, entschärfen sie aber etwas. Seine Forderung nach stärkerer Einbeziehung soziologischer Elemente und manche seiner ideologiekritischen Einwände behalten allerdings vis-à-vis den neueren theoretischen Bemühungen ihre volle Gültigkeit. Kein Nationalökonom kann es sich leisten, an Hans Alberts Argumenten vorbeizugehen.

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