FORVM, No. 166
Oktober
1967

Marxismus und Tod

Eine marxistische Theorie der Kommunikation IV.

Wir wollen den Abdruck dieses Essays nicht schließen, ohne unserer speziellen Freude Raum zu geben, daß der 42jährige Prager Philosoph nunmehr Mitglied des „Internationalen Komitees für den DIALOG im Neuen FORVM“ ist (vgl. August/September-Heft, S. 551).

Kann ich also Kommunikation nicht nur mit dem Freund haben, sondern auch mit dem Gegner; nicht nur in meiner unmittelbaren Umgebung, sondern auch mit dem historischen Menschen aus anderen Zeiten; kann ich fernerhin den inneren Dialog mit meinem „besseren Ich“, mit meiner eigenen Perspektive, mit dem Komplex meiner Möglichkeiten und Wünsche führen — dann kann ich schließlich zur höchsten denkbaren Form des Dialogs gelangen, zum inneren Dialog zwischen Ich und Nicht-Ich, d.h. zum Dialog mit einer Welt „ohne mich“, mit dem Komplex dessen, was nicht Ich ist, was letztlich mit der vollen Bewußtheit des Konflikts meines Seins mit meinem Nicht-Sein, mit dem Tode identisch ist.

„Mein Tod“ — die einzig absolute Gewißheit in meinem Leben — bedeutet für den „modernen Menschen“ in der Regel überhaupt „nichts“ — wie einst Epikur anempfahl; er bedeutet nur einen Punkt hinter etwas Existierendem, keine Existenz.

Diese Auffassung ist nur für den in die Dinge verstrickten und verlorenen Menschen normal und charakteristisch; reduziere ich mein Ich auf Besitzen, Verstehen und Gebrauch der Dinge, so ist der Tod wirklich nur ein „Ende“, ein Punkt hiner meinem Leben.

Wenn sich im Menschen der innere Dialog entwickelt, das Bemühen um Wachsen und Selbstüberbietung, das Suchen nach immer höheren Formen des Ichs, dann bedeutet der Tod nicht nur einen Punkt, nicht nur ein Nichtexistierendes, sondern dieses mein Nicht-Sein wird in mir zur „Wirklichkeit“, zur Realität meines menschlichen Loses.

Mit dem Tod leben

Dann lebe ich nicht nur „solange ich bin“, wie es Epikur formulieren würde, nicht nur „vor dem Tode“, also „ohne den Tod“, sondern ich lebe mit dem Tode, mit dem Erlebnis dieses meinen Todes; ich kann also in meinen Plänen und Wünschen mit dem Tod „rechnen“ und danach auch mein ganzes Leben regeln.

Kann ich meinen Tod nicht beseitigen, so kann ich ihn immerhin in mein Leben einschließen; meine Lebensideale so modifizieren, daß sie der Tod nicht vernichtet, sondern vollendet.

Ich kann die Frage stellen, was eine Welt „ohne mich“ bedeutet, die Welt mit meinem Tod, und ich kann dies in meiner aktiven Beziehung zur Welt voraussetzen.

Jenes Nicht-Ich im Dialog zwischen Ich und Nicht-Ich kann als Tod (mein Nicht-Sein), aber auch als Welt (nicht mein Sein) aufgefaßt werden; im Prinzip ist dies ein und dasselbe. Der Dialog mit dem Tod ist ein Dialog mit der Welt „ohne mich“, mit dem absoluten Nicht-Ich. Nur in ihm finde ich endlich und völlig mein Selbst; denn nur angesichts des Todes wird mir offenbar, was in meinem Leben und in meinem Ich von existenzieller Bedeutung war.

Auf dem Sterbebett oder vor einer sicheren Hinrichtung wird nicht mehr gelogen und taktiert: der Mensch steht endlich ganz nackt vor sich selbst da; erst angesichts des Todes erkennt er, worum es ihm im Leben wirklich ging: wäre dies nichts weiter — und es ist oft so — als der Wunsch, daß mein Sohn, wenn er zum Manne heranwachsen und „verstehen“ wird, in mir einen ehrlichen Menschen sieht, so ist darin auch der Wunsch verborgen, daß dieser Mann „meine Sache“ weiterträgt.

Dadurch wird der Dialog mit dem Tod zu einem völlig aufrichtigen und absolut ehrlichen Dialog mit der Welt: in der Grenz-Situation des sich nähernden Todes meines Ichs, nehme ich dieses mit dem maximal möglichen Ernst; nicht zufällig sagt man „todernst“. Und da mein Ich ein Ich-in-der-Welt ist, nehme ich in diesem Augenblick die Welt selbst, all das andere und alle anderen, meine Sache und meine Freunde, todernst.

Das klare, rationale Bewußtwerden meiner Zum-Tode-Bestimmtheit muß nicht erst im Augenblick des Sterbens oder einer tödlichen Gefahr kommen: weiß ich, was hiebei vor sich geht, so kann ich schon vorher damit rechnen, ich kann „auf alles gefaßt sein“. Ich kann rechtzeitig der „Welt“ das mitteilen, was mir vielleicht ein zu plötzlicher Tod mitzuteilen nicht ermöglicht.

Nur in Ausnahmsfällen kommt es vor, daß der Tod „das Werk krönt“, daß er noch mehr Menschen für jenes Ziel aufrüttelt, zu dem sie der Mensch, der da stirbt, durch sein ganzes Leben aufgerüttelt hat (z.B. Leben und Tod des Jan Hus).

Existiert dies also in der menschlichen Möglichkeit, so kann auch der Tod in meinen Überlegungen an Wichtigkeit gewinnen; er muß mir nicht als unerwünschtes Ende erscheinen, als dummes „Nichts“, als absurde Tragödie, d.h. als ein Auflösen meines Werkes, sondern kann zu einem Teil meines Werkes, meines Ichs werden.

Dazu gelangt der Mensch erst dann, wenn er imstande ist, die menschlichen Beziehungen so zu regeln, daß sein Tod die „anderen“ zwingt, sein „Werk“ nicht nur so oder so fortzusetzen (denn dies müssen die Menschen jedenfalls und stets), sondern in der Fortsetzung gerade auch das zu entwickeln, was mein „Persönlichstes“ ist, was zu meinem Los gehörte, worin die Sendung meines Ichs bestand.

Es gehört zu den bedenklichsten Merkmalen des modernen Menschen, daß er nicht versteht zu sterben. Er benimmt sich größtenteils oft so, als ob der Tod überhaupt nicht existiere. Er läßt sich noch kurz vor dem Tode vom Arzt einreden, daß er „bald wieder munter sein wird“.

Das System des gegenseitigen Sich-Belügens, im Leben verwurzelt durch die hundertjährige Tendenz zur „Versachlichung des Menschen“, ist sehr konsequent: der Mensch belügt sich auch in diesem Falle. Wie das Leben, so der Tod, sagt ein altes Sprichwort.

Man kann es auch umdrehen: Wie der Tod, so das Leben; daß der Mensch es ablehnt, mit Ruhe, Vernunft und positiven Gefühlen mit dem Tod als der größten Gewißheit zu rechnen, kann nur so erklärt werden, daß er vor allem nicht versteht zu leben, daß er es nicht versteht, sein eigenes Leben „todernst“ zu nehmen.

Sinnerfülltes Sterben

Der Inder, der dies vermag — wenn er spürt, daß er „mit dem Leben fertig ist“, pilgert er hunderte Kilometer zu den heiligen Wassern, um dort mit der vollen Bewußtheit seines Aufgehens in der Natur zu sterben —, könnte bestimmt mit Hilfe der modernen medizinischen Wissenschaft noch jahrelang „am Leben“ erhalten werden. Die Frage ist jedoch, ob soviel daran liegt, wieviel Jahre der Mensch lebt, oder eher daran, womit er diese Jahre erfüllt, ob die moderne, den Menschen ignorierende „versachlichte Wissenschaft“ mit ihren Tausenden von Medikamenten nicht selbst ein Werkzeug der allmählichen Selbstvernichtung des Menschentums sein wird, oder bestenfalls ein Werkzeug der Vernichtung derjenigen Werte, die dem Leben erst seinen wahren Sinn geben.

Humanismus sollte imstande sein, das individuelle menschliche Leben viel eingehender zu bestimmen als bloß als Komplex von fünfzig oder siebzig Jahren auf dieser Welt, wobei jedes Jahr für den Menschen von gleichem Wert wäre. Die atheistisch-humanistische „Philosophie des Menschen“ sollte ermöglichen, das individuelle menschliche Leben als ein ständiges Reifen aufzufassen, als ein Heranreifen der wirklichen Persönlichkeit, als eine Entwicklung der Lebensweisheit des menschlichen Ichs auf Erden.

In gewissem Sinn erlebt jeder einzelne Mensch in Kürze die Menschheitsgeschichte, nicht jeder jedoch in gleichem Maße. Die Kindheit mit ihrem Egozentrismus und Mangel an Reflexion ähnelt dem Verhalten eines naiven Wilden, der nicht imstande ist, über sein Los nachzudenken. Die Jugend ähnelt den dramatischen, heftigen und schweren, jedoch nicht tiefgreifenden Kämpfen aus den Anfängen der menschlichen Zivilisation. Das Reifealter ist das Alter der bewußten Kämpfe um den Sinn der menschlichen Existenz. Der Lebenskampf — mein Erfolg wie Mißerfolg — führt schließlich zu einer gewissen Geistesreife, zu einer Weisheit, Versöhnung mit der Welt und mit dem Schicksal, zu einem ausgeglichenen Bereitsein, der Natur die Schuld für die Ermöglichung eines bewußten Lebens unabwendbar zu bezahlen.

War jedoch unser Leben voll fruchtbarer Arbeit und Kommunikation mit anderen Menschen, scheiden wir nicht aus derselben Welt, in welche wir geboren wurden. Überall um uns sehen wir die Spuren unserer Tätigkeit, die hoffnungsvollen Pläne unserer Freunde. Wir sterben nicht als zufällige Gäste, sondern als Mitschöpfer dieser Welt. Wir haben sie als unsere Welt geschaffen — jedoch auch uns selbst haben wir als Kinder gerade nur dieser Welt geschaffen.

Deshalb werden unsere Söhne und Töchter nicht erst dort anfangen, wo wir einst angefangen haben, sondern an unser Werk anknüpfen, wieder ihre eigene Welt und auch sich selbst schaffen, als Kinder einer wiederum anderen Welt.

Haben wir die wesentliche Verbindung der Persönlichkeit mit einer bestimmten Epoche und einem bestimmten Milieu begriffen; den Menschen nicht nur als Schöpfer, sondern auch Produkt einer solchen Umgebung — so haben wir den Sinn des Lebens und damit auch den Sinn des Todes begriffen. Die Persönlichkeit stirbt dann, wenn sie ihre Sendung erfüllt hat, wenn es Zeit ist zu gehen, weil sie als solche, wie sie geschaffen wurde, in den neuen Welten der Zukunft keine neuen Lebenswerte mehr schaffen Könnte, weil sie das neue Werk ihrer Kinder, infolge ihrer eigenen Jugendideale, nur hemmen würde.

Das ist jedoch nur der eine Aspekt, der die ruhige Resignation auch angesichts des Todes ermöglicht. Noch mehr ist in unseren Kräften. Es existiert nicht nur jene Mannigfaltigkeit des Werkes der Generationen und der daraus folgende Zwang, „meinen Platz für die Jungen freizumachen“, gerade deshalb wegzugehen, damit mein Werk weitergehen kann. Es gibt auch eine gewisse Kontinuität im Werk der Generationen, eine gewisse Einheit der Menschen im Weltall, absolute Elemente in den Ansichten und Idealen „der Zeit“. Es gibt eine Natur des Menschen, eine „Geschichte des Menschen“. Deshalb existieren in meinem Leben, trotz seiner Zeitlichkeit und Zeitbedingtheit, absolute, allmenschliche Elemente, ja „Weltall“-Elemente.

Bin ich einmal ein solcher gewesen, wie ich es jetzt bin, ist mein Sein im Weltall etwas Reales. Bin ich ein „Kind der Zeit“, bin ich auch etwas „Ewiges“, denn die Zeit selbst ist ewig. Mein Tod, mein Nicht-Sein ist dann — vom Standpunkt des Weltalls — nur Episode eines wunderbaren realen Prozesses, in dem es „um etwas geht“ — und auch dieses Etwas ist völlig real. Gehe ich im Tod „den Weg aller Menschen“, gehöre ich auch zu diesem Prozeß des Lebens.

Dialog mit der Ewigkeit

Mit meinem Tod verschwindet mein Name, verschwindet die Bewußtheit meines Ichs in Liebe und Schmerz, Machtlosigkeit und Schande; es verschwindet jedoch nicht die Fähigkeit der Realität, Namen zu tragen, Ich zu sein, zu lieben und zu leiden. Ich bin gewesen — also bin ich. Bin ich in der Zeit, bin ich auch in der Ewigkeit.

Dies ist der höchste Inhalt des höchsten Dialogs: mein Dialog mit der Ewigkeit, mit dem Weltall, mit dem ewigen „Ich—Nicht-Ich“.

In den vergangenen Zeiten vermochten dies die Menschen nicht ohne Hilfe der Religion zu erleben. Jedoch schon damals ging es nicht nur um etwas für uns total Fremdes; mehr oder weniger waren schon damals humanistisch-universalistische Elemente und „Weltall“-Elemente anwesend. Damals hatten sie jedoch notwendig die Form des Pantheismus; jenes große Eine war durch die Gestalt der alles durchdringenden Göttlichkeit personifiziert.

Beachten wir hier ein nicht nur religiöses Dokument, aus einem ganz anderen Gedankenkreis, aus dem altindischen „Gesang des Erhabenen“:

Ich bin des Wassers Feuchtigkeit, ich bin das Licht in Sonn’ und Mond,
das heilige Om der Veden all, der Ton im Äther, Kraft im Mann!
Der reine Duft im Erdenkloß, der Glanz im Feuer, das bin ich!
Das Leben in den Wesen all, die Buße in den Büßern auch.
Der ew’ge Same bin ich auch von allen Wesen — wisse es!
Die Einsicht der Einsichtigen, der Würd’gen Würde, das bin ich.
Ich bin der Kraftbegabten Kraft, die frei von Neigung und Begier,
die Liebe, die erlaubt und recht, in allen Wesen — die bin ich!
Ja, alles Sein — der Güte Reich, der Leidenschaft und Finsternis
es stammt aus mir, es ist in mir — doch ich bin darum nicht in ihm!
 
Und welche Gottheit Einer auch im Glauben zu verehren strebt,
ich sehe seinen Glauben an und weis’ ihm zu dem rechten Platz.
(Bhagavadgita VII, 8-12, 21; übertragen von Leopold von Schroeder)

Es besteht kein Zweifel, daß auch der Materialist ein ähnliches Gefühl haben kann — sein Ausgangspunkt ist ja der Monismus, ein emotionelles Erlebnis dessen, daß „letzten Endes“ nur eine Welt existiert; bin ich, so bin ich der Sohn des ganzen Seins und Bruder von allem, was existiert. Das Böse besteht nur im Mangel und in der Beziehung, das Sein jedoch ist ein gutes Sein, ein schönes und wahres Sein, weil es ist.

Auch diesen Dialog dürfen wir jedoch nicht fetischisieren und von all dem „anderen“ Menschlichen isolieren: ist der Dialog „Ich—Nicht-Ich“ (d.h. Ich—Tod, Ich—Welt) die höchste mögliche Form des Dialogs, so ist der Dialog selbst wiederum nur ein Teil des Lebens. Deshalb ist das „höchste Leben“ zugleich das höchst praktische und höchst theoretische, d.h. ein Prozeß der aktiven Umgestaltung der Welt, der „Eroberung des Kosmos“, inspiriert und menschlich orientiert durch den maximalen Dialog „meiner Wahrheit“ mit der Welt.

Für den Menschen ist das „Höchste“ nicht der Verstand, nicht die Erkenntnis, auch nicht der Dialog, sondern das Leben „sub specie aeternitatis“, ein höchst praktisches („fortschrittliches“) persönliches Lebenslos, inspiriert von dem Dialog der Zeit mit der Ewigkeit, dem Dialog des Ichs mit Nicht-Ich, dem Dialog „meines“ Seins mit dem „universalen“ Sein.

So entsteht das „kosmische Gefühl“ (Einsteins „kosmische Frömmigkeit“), nicht mehr religiös illusionär, für den Menschen durch „Gott“ entfremdet, sondern menschlich universal, d.h. bewußt universal.

Dann verschmilzt das einfachste Gefühl mit der erhabensten Aufgabe, dann glänzt vor „Allsympathie“ in den Augen des Kindes der Wiederschein der himmlischen Sterne. Das Leben findet seinen Sinn im Heute, in der einfachsten Arbeit, in der Liebe und in dem Zusammenleben des Menschen mit den anderen Menschen. Es ist jedoch nicht mehr in der Gegenwart verloren, sondern lebt mit der Geschichte und mit der Ewigkeit in brüderlicher Einigkeit.

Dann ist „alles eins“, nicht mehr im skeptischen Sinne, im Gefühl der Niedrigkeit und Vergänglichkeit, sondern im Sinne der Emporhebung des Geistes über alles Niedrige, Unmenschliche — zum Menschen als zum merkwürdigsten Phänomen im Weltall.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)