radiX, Flugblätter
Dezember
2001
11.September / Afghanistan:

Mehr Fragen als Antworten

Im Gegensatz zu einigen anderen Gruppen aus der (anti-)deutschen Linken, haben wir nach den Anschlägen vom 11. September auf das World Trade Center in New York keine voreilige Stellungnahme verfaßt. Daß wir einen Anschlag ablehnen, der tausenden ZivilistInnen das Leben gekostet hat und der sich offensichtlich bestenfalls von einem plumpen und tödlichen Antiamerikanismus, vermutlich aber auch von Antisemitismus hergeleitet hat, war selbstverständlich, daß wir deshalb nicht in US-amerikanischen Patritoismus oder in antiislamischen Rassismus verfallen wollen, ebenso. Und alles andere konnte nicht in rabiaten Schnellschüssen abgehandelt werden.

Aber auch heute, 3 Monate nach dem Anschlag und 2 Monate nach dem Beginn der militärischen Angriffe von USA, Deutschland und Großbritannien auf Afghanistan, stellen sich für uns immer noch mehr Fragen, als wir Antworten finden können. Zuerst bleibt einmal festzustellen, daß die wirklichen Urheber der Anschläge vom 11. September bis heute nicht feststehen. Angebliche „Beweise“, in deren Besitz sich die USA befinden sollen, wurden nie veröffentlicht oder stellen nur verwackelte Videos mit unverständlichem Rauschen dar. Bei der derzeitigen Informationslage und Propagandaflut von allen Seiten muß eine politische Stellungnahme eine Fülle von Fragen offen lassen. Zu viele Ungereimtheiten im Vorfeld der Anschläge, in der jahrelangen CIA-Unterstützung für Bin Laden und bei der Durchführung der Anschläge selbst bleiben bestehen, um eine eindeutige Zuordnung zu Bin Laden und seinen Gefolgsleuten zu ermöglichen. Auch wenn wir eine solche Tat einem reaktionären, antisemitischen und frauenverachtenden islamischen Integralisten [1] wie Bin Laden durchaus zutrauen würden, so soll doch daran erinnert werden, daß die gebetsmühlenartige Wiederholung einer Schuldzuweisung in bürgerlichen und linken Medien noch keinen Beweis darstellt. Unter Umständen läßt sich hier aber auch einer bei den antiamerikanischen und antisemitischen AnhängerInnen eines militanten islamischen Integralismus für etwas feiern, das gar nicht sein“Verdienst„war. Aber wie auch immer, für uns bleibt hier jedenfalls noch vieles zu klären. Dabei müßte auch die Rolle der Geheimdienste der USA und Pakistans im afghanischen Bürgerkrieg und der Aufbau der Taliban durch dieselben genauer herausgearbeitet werden. Daß die Taliban nicht vom Himmel gefallen sind sondern“gemacht" wurden, ist leider erst nach dem 11. September auch in manchen Mainstreammedien zu lesen gewesen.

Ein anderer für uns immer noch nicht ausdiskutierter Aspekt der Anschläge des 11.Septembers ist die Frage nach dem Motiv, bzw. nach dem antisemitischen Charakter derselben. In der deutschsprachigen Linken reichte dabei die Analyse von einer gar nicht mehr so klammheimlichen Sympathie für die Anschläge und die Wegweisung jedes antisemitischen Motivs in der Antiimp-Szene bis zur klaren Feststellung einer antisemitischen Motivation aus dem antideutschen Lager. Da es von den Attentätern des 11. September bisher keinerlei ernstzunehmende Bekennerschreiben gibt, ist auch hier die Analyse nicht so einfach. Fest steht für uns lediglich, daß Bin Laden und seine Anhänger tatsächlich offen antisemitisch argumentieren und in Israel und „den Juden“ „den Feind“ schlechthin sehen. Rein aus dem Anschlag heraus können wir aber kein offen antisemitisches Motiv erkennen. Ein offen antisemitischer Anschlag ist für uns ein Anschlag auf eine Synagoge, Juden, einen jüdischen Friedhof, oder andere jüdische Einrichtungen. Hier muß es möglich sein einen anderen Begriff für einen Anschlag auf eine jüdische Einrichung und einen Angriff auf ein Gebäude zu entwickeln, das zwar für einen Antisemiten „jüdisch kontrolliert“ wird oder einen „jüdischen Kapitalismus“ verkörpert, das aber in der Realität nicht mehr mit Juden zu tun hat wie das Schnitzelhaus in Wien oder die Brauerei Fohrenburg in Vorarlberg. Was aus dem Anschlag selbst hingegen klar wird, ist eine personalisierte Kapitalismuskritik die im World Trade Center die Zentren des Kapitalismus vermuten, die eine bestimmte Personengruppe, die in weltverschwörerischer Absicht Wirtschaft und Politik manipulieren angreifen will. Eine solche verkürzte und personalisierende Wirtschaftskritik ist nun aber wiederum in jedem Fall strukturell antisemitisch, auch dann wenn von „Juden“ als den „Weltverschwörern“ gar nicht die Rede ist. Daß der Anschlag damit nicht offen, sehr wohl aber strukturell antisemitisch war, geht aus dem Charakter des Angriffes selbst hervor, ist also unabhängig von den tatsächlichen Urhebern des Terroranschlags. Trotzdem ist davon auszugehen, daß es sich beim vermuteten Täterkreis um offene AntisemitInnen handelt. Bin Laden, aber auch andere VertreterInnen des islamischen Integralismus haben aus ihrem Antisemitismus nie ein Hehl gemacht. Neben seiner antisemitischen Komponente, spielen für die Analyse des Anschlags aber sicher auch antiwestliche, antiamerikanische und antiaufklärerische Motive eine wichtige Rolle.

Unabhängig davon ob nun wirklich Bin Laden hinter dem Anschlag steht oder nicht, ist für uns die Frage des Taliban-Regimes und die Legitimität von militärischer Gewalt zur Niederringung desselben zu diskutieren. Auch hier bleibt zu allem Anfang daran zu erinnern, daß es gerade jene Allianz aus USA und Pakistan war, die nun gegen die Taliban kämpft, die diese Bewegung erst groß und militärisch erfolgreich gemacht hat. Insbesondere Pläne eine Erdölpipeline aus den zentralasiatischen Republiken am Iran vorbei an den indischen Ozean zu errichten, dürfte für diese „Befriedungsstrategie“ von CIA und ISI, den pakistanischen Geheimdienst Mitte der Neunzigerjahre den Ausschlag gegeben haben. Durch ein von sich bekämpfenden Mujahedin-Gruppen zerrissenes Land wäre eine solche Pipeline nicht sinnvoll gewesen. Zudem waren verschiedene Mujahedin-Fraktionen längst ihren westlichen antikommunistischen Förderern entglitten. Aber auch die Taliban scheinen ihren Förderern entglitten zu sein und so ist es nicht die Terrorherrschaft, mit der die Taliban Afghanistan überzogen, die nun zum Krieg gegen diese geführt haben, sondern ihre widerspenstig gewordene Außenpolitik. Grundsätzlich lehnen wir dogmatische Statements, wie sie in den Protesten von PazifistInnen gegen diesen Krieg zu hören waren, ab. Daß „Krieg niemals eine Lösung“ wäre, muß spätestens nach Auschwitz bestenfalls als naive Dummheit betrachtet werden. Grundsätzlich muß es legitim sein, eine Terrorherrschaft mit Mitteln der Gewalt zu beenden! Die Motive des Militaerbuendnisses unter angloamerikanischer Leitung gegen die Taliban vorzugehen, sehen wir jedoch nicht primär darin begründet. Die Aufgabe des Militaerbuendnisses unter angloamerikanischer Leitung als derzeit stärkstes Militärbündnis, die kapitalistischen Geschäftsgrundlagen weltweit zu sichern und notfalls mit internationalen Protektoraten zu bewachen, wird von uns unabhängig von den jeweiligen Opfern dieser Politik abgelehnt. Daß die Taliban eine Terrorherrschaft darstellen gegen die es grundsätzlich legitim ist militärische Gewalt anzuwenden, steht für uns allerdings ebenfalls außer Frage. Allerdings stellt sich die Frage, ob der gegenwärtige „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan ein Regime installieren will, das es wert ist dafür ein bereits am Boden liegendes Land erneut zu bombardieren und zehntausende Menschenleben — auch von ZivilistInnen — auszulöschen. Nach 1945 brachte noch keine internationale Militärintervention der USA irgendwo ein fortschrittlicheres oder demokratischeres Regime an die Macht und wer sich die neuen Verbündeten der USA ansieht, die alten Räuberbanden der Mujahedin, nun Nordallianz genannt, das alte Regime des Königs und einige Talibanüberläufer, muß schon ein hoffnungsloser Optimist und Realitätsverweigerer sein, wenn er hofft, daß daraus ein Gebilde werden soll das für die Bevölkerung eine reale Verbesserung darstellen wird.

Wir sehen unsere Aufgabe — im Gegensatz zu manch anderen Gruppierungen — aber auch nicht darin, den USA realpolitische Empfehlungen abzugeben, wie sie aus dem selbstverursachten Schlamassel wieder herauskommen könnte. Was uns bleibt ist radikale Kritik zu üben, sowohl an der westlichen Afghanistan-Politik, am US-Kriegspatriotismus und am wachsenden antiislamsichen Rassismus in Europa und den USA, als auch an autoritären, frauenverachtenden Antisemiten wie den Taliban oder ihren Verbündeten.

  • gegen Nationalismus und religiösen Fanatismus
  • gegen Rassismus und Antisemitismus überall
  • für den revolutionären Sturz von Nordallianz, MonarchistInnen und Taliban
  • gegen die USA/GB Intervention in Afghanisten
  • und überhaupt: für den globalen herrschaftslosen Kommunismus!
Ökologische Linke (ÖKOLI), Wien, Dezember
2001

[1Integralismus: Wir verwenden zur Charakterisierung jener Gruppen die in populärwissenschaftlichen deutschsprachigen Werken immer als „Fundamentalisten“ bezeichnet werden, den Begriff aus dem französischen überneommenen Begriff „Integralismus“. Letztlich stammen beide Begriffe aus dem christlichen Bereich, wir halten aber den eine katholischen Bewegung charakterisierenden Begriff „Integralismus“ der alle Gesellschaftsbereiche unter einem katholischen Dach „integrieren“ wollte für sinnvoller als der von amerikanischen wissenschaftsfeindlichen Sekten stammende Begriff Fundamentalismus„Die meisten islamischen Integralisten sind eben nicht fortschrittsfeindlich, sondern eher für eine“islamische Moderne„, die jedoch emazipatorische Gesellschaftsentwicklungen ablehnt und Islam als“Religion und Staat„begreift.

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