Grundrisse, Nummer 41
März
2012

Minenhunde der Aufwertung?

Die Kreativen und die Stadt

Vor mehr als zehn Jahren hatten wir – das heißt die Gruppe „Nitribitt – Frankfurter Ökonomien“ – eine Veranstaltung zu den prekären Arbeitsverhältnissen im flexiblen Kapitalismus organisiert. Die Frage war, ob das linke, nonkonformistische Boheme-Milieu nicht das ideale Stammpersonal für den Neoliberalismus bilden würde, da postfordistische Werte wie Produktivität, Flexibilität und Kreativität – nach außen stets als disziplinierende Normen des Systems verdammt – uns selbst zur zweiten Natur geworden seien. In gewisser Weise, so unsere These, zählten wir zur Avantgarde des „Neuen Kapitalismus“, für den wir immer neue Schneisen schlagen. Vor kurzem haben wir in der Veranstaltung „Florida goes to Frankfurt“ diese Fragestellung nochmals aus einer räumlichen Perspektive aufgegriffen: Inwiefern arbeiten die Stadtimaginationen und Raumaneignungspraktiken der Boheme- und Kunstmilieus dem aktuellen Modell der „kreativen Stadt“ zu? Heute gilt die Kultur als treibende Kraft eines neuen dynamischen Kapitalismus. Als wichtiger Bestandteil der „kreativen Stadtentwicklung“ werden Kulturschaffende gezielt in heruntergekommenen Stadtvierteln und ehemalige Industriebrachen angesiedelt. Damit geraten Künstler und Künstlerinnen in das Sperrfeuer der linken Gentrifizierungskritik. Sie gelten als „Minenhunde“ einer kapitalistischen Aufwertungsstrategie. Dem scheinen wiederum die Aktivitäten vieler Kulturschaffenden zu widersprechen, die zusammen mit anderen Gruppen und Organisationen unter dem Label „Recht auf Stadt“ gegen die vorherrschende Stadtpolitik protestieren und intervenieren.

Städtische Zentralität

Dieser intuitiv fesselnde Slogan stammt ursprünglich von Henri Lefebvre (1901-1991), der damit die Aufwertungs- und Verdrängungspraxis des kapitalistischen Urbanismus angreift. Im Laufe eines langen intellektuellen Lebens hat sich der französische Philosoph und Soziologe mit so unterschiedlichen Themen wie Marxismus, Alltagsleben, Raum und Staat auseinandergesetzt. Wenn es einen roten Faden in seinen Arbeiten gibt, dann ist die vehemente Kritik an allen Formen von Herrschaft. Lefebvres erklärtes Ziel war insbesondere eine Aufwertung der „Subjektivität“ und die Suche nach Spielräumen für Autonomie und Kreativität. Die These von Lefebvre, dass es nicht allein auf die Überwindung überkommener Herrschaftsstrukturen ankomme, sondern die Umwälzung des Alltags im Zentrum der politischen Praxis stehen müsse, fiel gerade bei der „Neuen Linken“ auf fruchtbaren Boden. Es ist kein Zufall, dass Lefebvre die Parole vom „Recht auf die Stadt“ erstmals 1968 – dem Jahr der Student_innenenrevolten und des Pariser Mai-Aufstandes – auf die politische Agenda gesetzt hat. Lefebvre formuliert diesen Anspruch weniger aus einer juristischen Perspektive, sondern versteht es als Forderung jener sozialen Gruppen, die marginalisiert werden oder unter dem reglementierten städtischen Alltag leiden: Jugendliche, Frauen, Studierende, Migrant_innen, Kolonisierte, Arbeiter_innen und Intellektuelle.

Das Phänomen der „Stadt“ und die dazugehörigen sozialräumlichen Prozesse sind in verschiedensten Aspekten seines Werkes präsent. Vor allem mit Le droit á la ville (1968) und La révolution urbaine (1970) entwickelt er eine Theorie des Urbanen. Die Texte operieren auf unterschiedlichen Ebenen: Historisch geht es um die spezielle Situation der französischen Nachkriegs-Ära, strukturell um eine grundsätzliche Analyse des Urbanismus. Insbesondere zwei Ereignisse haben seine Hinwendung zum „Städtischen“ beeinflusst: Für eine gewisse Zeit besteht zwischen Lefebvre und Vertreter_innen der Situationistischen Internationale (SI) ein produktives Austauschverhältnis. Sie zählen für ihn zu den Ersten, die die „urbanistische Rationalität“ als Ideologie kritisieren. Tatsächlich sind die Situationist_innen die eigentlichen Pioniere einer linken Urbanismuskritik. Provoziert von den homogenisierenden und disziplinierenden Auswirkungen des funktionalen Städtebaus formuliert die SI ein neues Verständnis vom sozialen Raum der Stadt. Zum anderen erfährt Lefebvre die Auswirkungen des modernen Urbanismus am eigenen Leib. Unweit seines Herkunftsortes, einem Marktflecken in den Pyrenäen, wo er sich immer wieder gerne zurückzieht, entsteht Ende der 1950er Jahre eine Retortenstadt für 12 000 Einwohner_innen. Lefebvre kann die sozial-räumlichen Auswirkungen des fordistischen Urbanismus sozusagen unter Laborbedingungen studieren. Angesichts der „Wohnmaschinen“ packt ihn, wie er in seinen Notizen zur Neuen Stadt (Lefebvre 1976 [1962]) anmerkt, immer wieder das blanke Entsetzten. Es wird ihm mehr und mehr bewusst, dass das Urbane die Widersprüche der Moderne am deutlichsten zum Ausdruck bringt.

Tatsächlich erlebt Frankreich, wie auch andere europäische Länder, ab den 1950er Jahren eine Periode exzessiver Urbanisierung, die zu einer völligen Umstrukturierung der Gesellschaft führt. Lefebvre reflektiert, dass der französische Staat eine Restrukturierung des nationalen Raumes und eine Reorganisation des Kapitalismus vorantreibt. Im Rahmen dieses Modernisierungspolitik, formiert sich eine Gruppe von Planern und Experten, die einen neuen ideologischen Diskurs entwickeln: den des Urbanismus. Für Lefebvre wird es offensichtlich, dass das Objekt der Wissenschaften nun eher der Raum als die Zeit ist. In seinen Schriften versucht er aufzuzeigen, dass der Raum von einer technokratischen Rationalität geformt wird. Er ist Gegenstand der Staatsgewalt, die mittels Raumplanung, Wohngesetzen, Investitionen in die Infrastruktur usw. politisch regulierend eingreift.

Der kapitalistische Raum zeichnet sich nach Lefebvre grundsätzlich durch Einheitlichkeit und Fragmentierung aus. Er basiert auf der Trennung von Orten, die dann wieder miteinander verbunden werden. Einerseits bewirken die abstrakte Logik der Warenökonomie und der staatlichen Kontrollstrategien eine Tendenz zur Homogenisierung, andererseits fragmentieren die kapitalistischen Verwertungsstrategien (Bauindustrie, Immobilienspekulation etc.) den Raum, indem sie ihn parzellieren, zerschneiden und pulverisieren. Im Laufe des Jahrhunderts breitet sich ein tissu urbain („urbanes Gewebe“) über die Landschaft aus, das sämtliche Überbleibsel des ländlichen Daseins verschlingt. Bildhaft gesprochen vollzieht sich der Urbanisierungsprozess nach dem Prinzip von „Explosion“ und „Implosion“. Die historische Stadt explodiert, indem sie ihre Trümmer weit hinaus schleudert und neue Satellitenstädte entstehen lässt. Die Vororte sind räumlich separiert, auch wenn sie funktional weiterhin von der Stadt abhängig bleiben. „Implosion“ steht für die gleichzeitig stattfindende Umwandlung der historischen Stadtzentren, die von den letzten „Slums“ gereinigt werden und einen Aufwertungsprozess erfahren. Lefebvre erinnert in diesem Zusammenhang an Baron Haussmann, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Auftrag Napoleons III. das Zentrum von Paris für die besitzenden Klassen umkrempeln und die städtische Armut aus den mittelalterlich geprägten Stadtquartieren vertreiben ließ. Nun, hundert Jahre später, beobachtet er einen ähnlichen Prozess: Wieder werden die subalternen Klassen aus dem Kernstadtbereich von Paris vertrieben. Die Verwertungsstrategien des Finanzkapitals und der Kulturindustrie leiten eine neue Runde der Verdrängung und Gentrifizierung ein. Soziale Kämpfe sind somit für Lefebvre auch Kämpfe um Territorialität.

Diese These demonstriert er am Beispiel des 68-Mai-Aufstandes: Die Revolte beginnt an der Universität von Nanterre, einem neu gegründeten „Wissensstandort“ an der Peripherie von Paris. Die Fakultät ist zu diesem Zeitpunkt von Schutthalden, Elendssiedlungen und Wohnblöcken des sozialen Wohnungsbaus umgeben. „Die Universitätsstadt, in der die Funktionen des Wohnens auf ein unbedingt notwendiges Minimum spezialisiert und reduziert wird – nicht ohne die traditionellen Trennungen zwischen Jungen und Mädchen aufrechtzuerhalten, zwischen Arbeit, Freizeit und Privatleben, wird zum Ort sexueller Hoffnungen und Rebellionen.“ (Lefebvre1969 [1968]: S. 95) Viele Studenten und Studentinnen, die an diesen „Unort“ verbannt sind, nehmen ihr „Recht auf die Stadt“ wahr. Es „beginnt eine dialektische Interaktion zwischen Marginalität und urbaner Zentralität. Die Aktion kreist um die Sorbonne. Sie bedarf eines Zentrums, das ihr die ‚Heterotopie’ Nanterres nicht mehr liefern kann. Die Bewegung wird von diesem ex-zentrischen Ort von dem sie ausging (momentan) aufgegeben. Die Student_innen erobern das Quartier Latin zurück; sie eignen sich diesen Raum wieder an, der ihnen entrissen wurde und den sie im Kampf wiedererobert haben.“ (a. a. O. S. 106) Ob in den Uni-Satelliten, den Reihenhaussiedlungen der Mittelklassen oder im sozialen Massenwohnungsbau, überall herrscht Homogenität und Langweile. Vor allem die Jugendlichen aus den Vororten nehmen deshalb die Kernstadt Paris als privilegierten Ort wahr und eignen sich das Zentrum als Ort sozialer Aktivitäten an.

Eine entscheidende Aussage von Lefebvre besteht darin, dass mit der Ausbreitung des urbanen Gewebes die städtische Zentralität nicht verschwindet. Der vormalige Gegensatz von Stadt und Land transformiert sich zu einem neuen Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie. Die urbanen Kerne existieren weiter, indem sie sich regenerieren. Sie bleiben Zentren des urbanen Lebens, wobei ihre ästhetische und kulturelle Qualität eine besondere Rolle spielt. Lefebvre verweist dabei auf alle möglichen Formen des Vergnügens, von den Nachlokalen bis zu den Opernhäusern. Kurz – die städtischen Zentren überleben als Orte des Konsums und als konsumierbare Orte. Die ökonomische Restrukturierung von Paris vor Augen, weist er zudem darauf hin, dass die Metropolen sich als Macht- und Entscheidungszentren der Headquarter- und Finanzökonomie neu konsolidieren.

Doch Lefebvre stellt die städtische Zentralität nicht grundsätzlich in Frage. Im Gegenteil: Das Potential der Stadt liegt für ihn darin, dass sie unterschiedlichste Elemente einer Gesellschaft synchron zusammenführt und aufeinander reagieren lässt. Aus diesem Zusammentreffen kann Unerwartetes und Neues entstehen. „Alles, was andernorts entsteht, reißt die Stadt an sich: Früchte und Objekte, Produkte und Produzent_innen, Werke und schöpferisch Tätige, Aktivitäten und Situationen. Was erschafft sie? Nichts. Sie zentralisiert die Schöpfungen.“ (Lefebvre 1972 [1970]: S. 127) Lefebvre hat den „schöpferischen Überschuss“ der Stadt im Auge, der über die beschränkte Rationalität der Ökonomie und der administrativen Planung hinausgeht. Er unterscheidet zwischen der herrschenden Morphologie der Stadt, die Entfremdung und regulierte Verhaltensnormen erzeugt, und dem „Städtischen“, dem Bedürfnis nach einem abwechslungsreichen Lebenszusammenhang. Das „Recht auf die Stadt“ bedeutet deshalb für Lefebvre auch das „Zentrum“ als Ort der Kreation der Urbanität neu zu erfinden. Diese Perspektive korrespondierte in der 1970er Jahren mit den Aktivitäten von Bürger_inneninitiativen, Stadtteilkomitees und Hausbesetzer_innen, die sich gegen die Normierung und Rationalisierung des städtischen Alltags wehrten und in ihren Aneignungsweisen „Räume des Widerspruchs“ antizipierten.

Post-Punk – Rave – Cool Britannia

Entgegen den Hoffnungen von Lefebvre hat sich die Forderung nach „kreativer Urbanität“ zu einem stimulierendes Element der neoliberalen Stadtpolitik entwickelt. Im globalen Standortwettbewerb, so die gängige Behauptung, komme der „Kreativität“ als wesentlicher Bestandteil der wissensintensiven Ökonomie eine strategische Bedeutung zu. Die damit assoziierte „Kreativindustrie“ steht nicht nur für Kunst und Kultur, sondern es geht auch um konsumorientierte Dienstleistungen, um neue Technologien und die verschiedenen Sparten der Wissensproduktion. Gemeint ist damit letztlich eine verstärkte Durchdringung von Kultur und Ökonomie als wesentliche Voraussetzung für die Prosperität der Städte.

Die Redeweise von den creative industries kam ursprünglich in Großbritannien auf. Dafür ist eine Reihe von Gründen verantwortlich zu machen. Im Vergleich zu den anderen Industrienationen war das Land von der Krise der Fordismus besonders stark erfasst worden. Mit dem Wahlsieg der Konservativen unter Führung von Margaret Thatcher im Jahre 1979 kam es dann zu einem radikalen ökonomischen und politischen Umbruch. Die neoliberale Politik führte letztlich dazu, dass der Niedergang von Industriestädten wie Birmingham, Manchester, Liverpool und Glasgow sich beschleunigt fortsetzte. Angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit und des zentralstaatlichen Drucks auf die kommunale Haushaltsführung begannen viele Städte sich an einer unternehmerischen Standortstrategie zu orientieren, die vor allem auf Kultur und Konsum setzte: Zunächst programmatische Ausrichtung der Stadtverwaltung im Sinne eines „entrepreneurial spirit“, dann Umschreibung der industriellen Historie mithilfe von Imagekampagnen und öffentlichkeitswirksamen Prestigeprojekten, schließlich Neuerfindung der Stadt als Kapitale des Spektakels. Die Ökonomien des Essens und Trinkens, des Einkaufens und Konsumierens, der Freizeitvergnügungen und des Tourismus galten nun als wichtiger Bestandteil des städtischen Wirtschaftslebens.

Nach dem Wahlsieg von Tony Blair geriet der Faktor „Kreativität“ in den Focus der wirtschaftspolitischen Aufmerksamkeit. Bereits im vorhergehenden Wahlkampf hatten die britischen Sozialdemokraten die „creative industries“ als Joker ins Spiel gebracht und von den zukunftsweisenden Möglichkeiten einer neuartigen Kultur-Ökonomie gesprochen. Der Kreativitätsdiskurs passte ideal zur Ideologie des „Dritten Wegs“, da er jenseits von Lohnarbeit und Kapital eine postindustrielle Produktivität quasi aus dem Nichts versprach. Anhand ihrer langjährigen Studien kommt die Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie (2007) zu dem Schluss, dass die Kultur- und Kunstszenen als Experimentierfeld für ein postmodernes „Kultur-Unternehmertum“ angesehen werden müssen. Für England macht sie drei Wellen aus: Erst der Post-Punk-„Do-it-yourself“-Ethos subkultureller Mikro-Unternehmen im Musik-, Mode- und Designbereich, der Mitte der 1980er Jahre aufkommt. Hier stehen die Verweigerung der „profanen“ Arbeit und das Begehren nach einer sinnvollen Tätigkeit im Vordergrund. Die kreative Independent-Ökonomie erlangt zwar eine mediale Bedeutung, scheitert aber finanziell infolge chronischer Unterkapitalisierung. Die zweite Welle setzt im Gefolge der populären Dance- und Rave-Kultur ein, die weit mehr Jugendliche erfasst als die vorhergehenden Underground-Strömungen einschließlich des Punks. Aus der logistischen Anforderung für große Menschenmassen Musik, Räume und entsprechende Serviceleistungen zu organisieren, entwickelt sich in den 1990er Jahren ein dynamisches Event- und „Nachtunternehmertum“, das Merkmale des flexiblen Kapitalismus (Entspezialisierung, Gratistätigkeiten, informeller Arbeitsmarkt, Netzwerkkultur, Freelancertum etc.) aufweist und für jüngere Bevölkerungsgruppen schon bald als Vorlage für die berufliche Orientierung in der Arbeitswelt dient. Die dritte Welle tritt mit der Blair-Periode in Erscheinung. Sie wird von Idee des „großen Treffers“ getragen. In der Musikbranche kann dies beispielsweise ein einzelner erfolgreicher Titel sein, der dann als Soundtrack für einen Werbespot oder als Hintergrundlied für eine Fernsehsendung dient. Wichtig sind dafür direkte Verbindungen zwischen den kleinunternehmerischen Aktivitäten und dem kapitalstarken Unternehmenssektor, um aus dem kleinen Original ein global vermarktbares Produkt zu machen. Das Aufspüren und die Mobilisierung kreativer Potentiale gelten als entscheidende Merkmale der „talentbasierten Ökonomie“ (McRobbie 2007: S. 82-87). Passend dazu griff New Labour nach dem Wahlsieg den damals kursierenden Brit-Pop-Slogan „Cool Britannia“ auf: Das neue England sei jung, urban, multikulturell und vor allem kreativ. Die Vision von der kreativ-unternehmerischen Selbstverwirklichung und der Traum vom „großen Treffer“ trugen zwar zur (zeitweiligen) Charme der New Labour-Politik bei, allerdings blieben die erhofften Innovationseffekte für die britische Wirtschaft weitgehend aus. Auch Versuche erfolgreiche Kreativcluster (wie etwa East London) in Form von art centers an anderer Stelle zu kopieren, schlugen häufig fehl.

Die Floridarisierung der Stadtentwicklung

Mit The Rise of the Creative Class (2004 [2002]) hat der Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida den städtischen Kreativitätsdiskurs weiter vorangetrieben. Ihm zufolge treten die Kreativen geographisch nicht verstreut auf, sondern ballen sich in jenen Städten, die über die drei „Ts“ verfügen: „Technology, Talent and Tolerance.“ Die Kultur gilt ihm gewissermaßen als ökonomischer Motor, der mit dem Kraftstoff „diversity“ angetrieben wird. Der Wissenschaftler behauptet, dass gerade solche Metropolen bemerkenswerte unternehmerische Innovationskapazitäten aufweisen, in denen der Melting Pot-, Gay- und Bohemian- Index besonders hoch ausfällt: Die kreative Klasse sei auf der immerwährenden Suche nach „authentischen“ Erfahrungen, sie schätze Städte, wo das „Anderssein“ akzeptiert werde und eigene Identitätsentwürfe einen „Push“ erhielten (Florida 2004: S. 230). Er empfiehlt deshalb den Stadtpolitikern, nonkonformistische Milieus wie ein Kräutergärtchen zu hegen und zu pflegen. Die Frage „Wohin ziehen die Kreativ-Diven?“ erhält damit eine strategische Bedeutung. Das Ranking von Städten – von dem sich inzwischen ganze Beratungsindustrien gut ernähren – basiert auf dem Klassifikationssystem einer „moralischen Geographie“, deren Werturteile (cool/spießig, sicher/unsicher, sauber/verschmutzt etc.) erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Geschicke einer Stadt haben kann (Amin 2006: S. 127f).

Floridas Empfehlungen arbeiten den vorherrschenden Stadtentwicklungskonzepten zu, die auf eine Aufwertung der Kernstadt und gehobenen Mittelklassenkonsum setzen. Er räumt durchaus ein, dass die räumliche Konzentration von Kreativen zu Gentrifizierungsprozessen und einem Anstieg der Immobilienpreise führen kann, was wiederum den Bestand der „Kreativ-Biotope“ gefährdet. Nach seinen Untersuchungen ist gerade in den „kreativen Epizentren“ die soziale Polarisierung besonders stark ausgeprägt und die Aktivitäten der creative class hängen von einem Heer schlecht bezahlter Jobber und Jobberinnen ab (Florida 2004: S. XV). Doch sein Ratschlag an die „underclass communities“ besteht darin, dass diese einfach lernen müssten, ihre kreativen Potentiale und Talente zu entdecken (z. B. im Bereich der Musik). Damit ist ein entscheidender Punkt angesprochen: Die Konzentration der Stadtentwicklungspolitik auf Kreativität und Konsum ist mit einer Vernachlässigung oder gar Missachtung von Alltagspraktiken und Institutionen verbunden, die nicht mit der Logik der Kulturalisierung kompatibel sind.

Die „Floridarisierung der Stadtpolitik“ (Andrej Holm) – sprich die unternehmerische Stadt mit menschlichem Antlitz – stößt beim Urban Management und den etablierten Parteien auf eine breite Resonanz. Aus Sicht der Stadtadministrationen liegen die Vorteile solcher Kultur-Konzepte darin, dass hier ökonomische Erfolge durch relativ kostengünstige und kleinteilige Maßnahmen versprochen werden. Das Modell der „kreativen Stadt“ steht nicht in Opposition zu etablierten Wachstumsstrategien (Flagschiffprojekte, Shoppingmall-Ökonomie etc.), sondern es ergänzt und verstärkt eine konsumorientierte Stadtvermarktung. Neben der Förderung von Kreativ-Clustern im Medien und IT-Bereich geht es auch um den Ausbau von Stadtquartieren zu „Talentschuppen“, die wegen ihrer künstlerisch-nonkonformistischen Milieus bei der creative class hoch im Kurs stehen. Solche Viertel werden deshalb verstärkt in die überregionalen place branding- Kampagnen der Städte eingebunden. Eine generelle Verdammung der Kulturschaffenden als „Minenhunde“ der kapitalistischen Metropolenpolitik erweist sich jedoch als zu simpel: Bei vielen Künstlern und Künstlerinnen handelt es sich um prekäre Selbständige, die auf einen preiswerten Wohn- und Arbeitsraum angewiesen sind. Ihre räumliche Existenz in einem Stadtviertel löst nicht automatisch einen „Veredlungsprozess“ aus. Dies hängt davon ab, wie der lokale Bodenmarkt reguliert ist, welche Bebauungs- und Nutzungsvorschriften existieren oder wie die jeweilige Stadtregierung in den Wohnungsmarkt eingreift. Den Vorwurf der Gentrifizierung sollte man deshalb mit gebotener Vorsicht ins Feld führen.

Kreativität im flexiblen Kapitalismus

Warum stößt das Modell der „Kreativen Stadt“ auf so viel mediale und politische Resonanz? Dazu tragen sicherlich die griffigen Marketingformeln bei, die ganz auf Pragmatik und schnelle Durchführbarkeit ausgerichtet sind. Gleichwohl stellt sich die Frage, warum trotz massiver wissenschaftlicher Kritik die Erzählung der Creative City eine solche Ausstrahlungskraft besitzt?

Einen wichtigen Hinweis liefern Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Der neue Geist des Kapitalismus (2003 [1999]) auch das Dispositiv „Kreativität“ reflektieren. Folgt man ihren Thesen, so sind die verschiedenen kapitalistischen Regime auch entscheidend von der Art und Weise der Kritik geprägt, die sich gegen das jeweils vorherrschende Modell wendet. Im 20. Jahrhundert lassen sich demnach grundsätzlich zwei Kritik-Strömungen erkennen: Die eine richtet sich gegen Ausbeutung und Ungleichheit und fordert „universelle“ Gerechtigkeit und Gleichheit („critique sociale“), die andere („critique artiste“) lehnt die Disziplinierung und Uniformierung in der „Fabrikgesellschaft“ ab und propagiert „subjektive“ Werte wie Selbstverwirklichung und Kreativität.

Die „künstlerische Kritik“, die sich zunächst in kleinen, bohemistischen Intellektuellenzirkeln artikulierte, entfaltet im Gefolge der 68er-Revolte eine breite gesellschaftliche Wirkung. Die „Kinder des Fordismus“ revoltieren gegen die rigide Disziplinierung und Normierung in der Familie, der Schule und der Fabrik. Die Intensität der Kämpfe führt jedoch nicht zu einer grundlegenden Veränderung des Systems, vielmehr gelingt es dem Kapitalismus durch neue Identitäts- und Konsumangebote auf Wünsche oder Forderungen der sozialen Bewegungen einzugehen. Er öffnet sich gegenüber den Anliegen der „Künstlerkritik“ und vereinnahmt Ein- und Widersprüche auf seine Weise (Boltanski/Chiapello 2003: S. 250-254). Tatsächlich hat es der „flexible Kapitalismus“ verstanden, das vormals libertäre Potenzial der „Künstlerkritik“ an bürokratischen Verkrustungen, Uniformität und Fremdbestimmung aufzusaugen, sie in gewandelter Form zu Bestandteilen seiner Reproduktion zu machen und sie zugleich gegen die Subjekte zu wenden. Auf die Forderung nach individuellen Gestaltungsspielräumen reagiert er mit dem nachdrücklichen „Angebot“, die Individuen sollten sich aktiv und kreativ an der Lösung von Problemen beteiligen. Galt beispielsweise in der tayloristischen Fabrik der passive, dem durchgeplanten Arbeitsprozess vollständig unterworfene Arbeiter_innen als Idealtypus, so sind nun Tugenden wie Selbständigkeit oder Eigeninitiative gefragt. Während zuvor die Subjektivität der Arbeitskräfte unterdrückt wurde, fordern die neuen Managementkonzepte „Selbstorganisation“ und „Kreativität“. Und in New Economy-Magazinen gilt Nonkonformismus als Schlüssel zum beruflichen Erfolg. Originelle Typen und Querdenker_innen stellen gewissermaßen das Glamour-Modell für den Gehorsam gegenüber den Imperativen der Flexibilisierung dar. Solche Modelle haben natürlich nichts mit der Marxschen Entfremdungskritik gemein. Gilles Deleuze behauptet gar, das sich selbst verwirklichende Subjekt stelle einen „Untertan“ im ganz besonderen Sinne dar. Demnach sind die einstmals gegen die kapitalistische Verdinglichung ins Spiel gebrachten Eigenschaften wie Emotionen und Kreativität zu einem wichtigen Rohstoff ökonomischer Verwertungsprozesse geworden. Ein Mehr an Selbstverwirklichung wird jetzt allerdings mit größeren ökonomischen Risiken und sozialer Unsicherheit erkauft. Gleichzeitig eröffnet die Adaption der „Künstlerkritik“ neue Verwertungsmöglichkeiten im Bereich des Konsums.

Die „Kreative mit den vielen Eigenschaften“ stellt heute einen wichtigen Sozialtypus des flexiblen Kapitalismus dar. Die Normen des Schöpferischen strukturieren ganze Berufsstände und beeinflussen im hohen Maße soziale Aktivitäten in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Doch sind mit der Vereinnahmung von Eigenverantwortlichkeit und Selbstverwirklichung Forderungen nach Autonomie und Kreativität vollständig erledigt? Und bleiben die auf „Nonkonformismus“ basierenden Erfahrungen tatsächlich dazu verdammt vom „Geist des neuen Kapitalismus“ neutralisiert und in Lebensstile transformiert zu werden? Zunächst: Flexible Normalisierungsstrategien kommen lediglich in einem bestimmten Spektrum der sozialen Realität zum Einsatz. Die Rückkehr des „strafenden Staates“ und dazugehörige „Law-and-Order“-Kampagnen (siehe die „viktorianischen“ Reaktionen des britischen Staates auf die im Sommer 2011 stattfindenden Riots) sind eindeutige Indikatoren dafür, dass die klassischen Formen der Repression weiterhin Bestandteil der Sozialdisziplinierung sind. Dies gilt nicht nur in straf- und ordnungspolitischer Hinsicht, auch die „Selbstverwirklicher“ sind unter Druck geraten: Lange Studienzeiten, experimentelle Lebensformen und biographische (Ein-)Brüche werden von dem vorherrschenden Leistungssystem (in der Regel) gnadenlos abgestraft.

Die Diagnose von Deleuze blendet zudem aus, dass eine Selbstverwirklichung zu konsumtiven Zwecken immer noch mehr mit dem alten nonkonformistischen Modell gemein hat, als die neoliberale Figur des innovativen „Querdenkers“. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung ist der alte Entstehungsgrund von subversivem Nonkonformismus – nämlich Erfahrungsverhinderung durch soziale Normen und Gebote – durchaus weiter gegeben. Es wäre also danach zu fragen, was wem verboten ist und zu welchen Selbstverwirklichungspraktiken die Subjekte im flexiblen Kapitalismus angehalten werden – und zu welchen nicht. Bei der Frage nach einem kollektiven Handeln gegen die Zumutungen der kapitalistischen Kreativwirtschaft und die „Ökonomisierung des Kulturellen“ helfen möglicherweise folgende Forderungen: „Die Wieder-Versachlichung der personalisierten Techniken, das Verfügen über Rückzugsmöglichkeiten, die nicht vom Zwang zur Reproduktion aufgefressen werden, die Wieder-Aneignung des Selbst durch das Selbst, die De-Ökonomisierung der Seele, des Körpers, der Präsenz, der Sexyness; die Re-Politisierung, Re-Objektivierung, Re-Reifizierung von Fähigkeiten, Skills, Wissen.“ (Diedrichsen 2011: S. 128)

Literatur:

  • Amin, Ash (2006): Kulturelle Ökonomie und Stadt. In: Christian Berndt/Johannes Glückler (Hg.): Denkanstöße zu einer anderen Geographie der Ökonomie. Bielefeld, S. 111-135
  • Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz (Franz. Orig. 1999)
  • Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main (Franz. Orig. 1990)
  • Diederichsen, Diedrich (2011): Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung. In: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin, S. 118-128
  • Florida, Richard (2004): The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everday Life. New York (Erstveröffentlichung 2002)
  • Holm, Andrej (2010): Wir Bleiben Alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Münster
  • Lefebvre, Henri (1969): Aufstand in Frankreich. Zur Theorie der Revolution in den hochindustrialisierten Ländern. Frankfurt am Main/Berlin (Franz. Orig. 1968)
  • ders. (1972): Die Revolution der Städte. München (Franz. Orig. 1970)
  • ders. (1977): Die Produktion des städtischen Raums. In: arch+, Heft 34, S. 52-57 (Franz. Orig. 1976)
  • ders. (1978): Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien. Frankfurt am Main (Franz. Orig. 1962)
  • ders. (2009): Le droit à la ville. Paris (Erstausgabe 1968)
  • McRobbie, Angela (2007): Die Los-Angelesierung von London. Drei kurze Wellen in den Kreativitäts- und Kultur-Mikroökonomien von jungen Menschen in Großbritannien. In: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität. Wien, S. 79-91
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