FORVM, No. 178
Oktober
1968

Neokolonie Österreich

Anmerkungen zum Ökonomischen Programm der SPÖ

Das Problem der wirtschaftlichen Entwicklung kann als das Zentralproblem der ökonomischen Theorie seit dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden. Die Konkurrenz der sozialistischen Länder, die in ihrer ersten Phase der primären sozialistischen Akkumulation mittels zentralistischer Planungstechniken Wachstumsraten von durchschnittlich zehn Prozent erreichten, war eine Herausforderung an die Entwicklungskräfte eines Systems, das bisher dem Wachstumsproblem kaum Aufmerksamkeit schenken mußte — angesichts der verschiedenen Kriegs- und Nachkriegskonjunkturen einerseits, der Schwäche der Sozialdemokratie anderseits.

Was man entweder nicht als Problem erkannte oder aber durch die Lehre von den automatischen Regenerationskräften des „freien Unternehmertums“ abschieben wollte, hat für die Stabilität der spätkapitalistischen Produktionsverhältnisse lebenswichtige Bedeutung gewonnen seit dem Ende der durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Rekonstruktionsphase, einer Hochkonjunktur, deren wichtigste Faktoren der aufgestaute Nachholbedarf an Konsumgütern und die profitable Auswertung der neuen Technologien waren, die als Nebenprodukt der Rüstungsforschung während des Krieges abfielen.

Eine Analyse der Wachstumsfaktoren muß jedem Wirtschaftsprogramm vorausgehen, wenn die vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Methoden zur Beseitigung der Krisenursachen mehr sein sollen als falsches Bewußtsein.

Die Beschreibung jener Krisenfaktoren sieht im „Ökonomischen Programm“ so aus: für die Verzögerung des Wirtschaftswachstums beziehungsweise für die strukturellen Schwächen der österreichischen Industrie seien erstens der „Mangel an Privatinitiative“, das Fehlen von „experimentierfreudigen, kenntnisreichen und unkonventionell denkenden Unternehmerpersönlichkeiten“, zweitens die „bescheidenen finanziellen Hilfsquellen“, das „enorme Budgetdefizit“ und das „strukturelle Leistungsbilanzdefizit“ verantwortlich; dann wieder der „Mangel an Voraussicht“ oder der Mangel an „Unternehmerpersönlichkeiten“. Weiters seien für die Stagnation bestimmend, daß „nicht richtig“ investiert wurde, daß die „finanzielle Unterstützung des Investitionsprozesses“ fehlt und daß das Kapitalangebot „unzureichend“ ist.

Was als erstes auffällt bei dieser Analyse der Wachstumshemmnisse, sind die Parallelen mit der bürgerlichen „Erklärung“ jener Umstände, die nach der Meinung der kapitalistischen Ideologie für die zurückgebliebenen Verhältnisse in den ehemaligen Kolonien verantwortlich seien. Denn an dem Elend von zwei Dritteln der Menschheit sei nicht die imperialistische Ausbeutung der Kolonien, ihre gewaltsame Transformation zu Rohstofflieferanten schuld, sondern der Mangel an Unternehmerinitiative und Kapital, und überhaupt wollen die ja nur in der Sonne liegen.

Daß es in allen Ländern zu jeder Zeit Menschen mit Ideen und Initiative gegeben hat, daß sie aber unter völlig verschiedenen sozialen und ökonomischen Verhältnissen ebenfalls verschiedene Erscheinungsformen von „Initiative“ entwickeln mußten, daß nicht die „Persönlichkeit“ oder ähnlich mystische Begabungen die Ursache dafür sind, daß einer Handelskapitalist wird und nicht Landgraf, sondern die bestimmten historischen Bedingungen die Gesetze gestalten, in denen sich „Initiative“ entfalten kann — das alles ist undurchschaubar für eine Ideologie, die genau weiß, warum sie die letzte Schuld dem einzelnen zuschiebt. Hier hat das „Ökonomische Programm“ sich auf den Boden der bürgerlichen Ideologie begeben, den die europäischen Arbeiterparteien in Wirklichkeit nie ganz verlassen haben.

SPÖ die bessere ÖVP

Das Programm übernimmt an einem wesentlichen Punkt des Argumentationszusammenhanges die apologetischen Theorien der bürgerlichen Ökonomie ungeprüft. Es konnte die Ideologie der wissenschaftlichen Kategorien der Warenwirtschaft nicht durchbrechen mittels kritischer Begriffe, die zur Entschuldigung des schlechten Ganzen nicht taugen dürften; die apologetische Theorie macht das Erkennen von bestimmten Vorgängen unmöglich, weil entweder die Fragen falsch gestellt sind oder weil gewisse theoretische Konstruktionen bestimmte Lösungen — nämlich sozialistische — nicht zulassen.

Die Analyse, die den, an den fortgeschrittenen Ländern gemessen, unterentwickelten Stand der österreichischen Produktivkräfte dadurch erklären will, daß sie spezifisch koloniale und neokoloniale Phänomene auf Österreich überträgt, weiß unbewußt viel von den tatsächlichen Zuständen. Denn in Österreich entwickeln sich zunehmend Verhältnisse, die denen in den ehemaligen Kolonien zumindest verwandt sind.

Die Schwierigkeiten beim Aufbau einer der hochentwickelten Industrie angemessenen Infrastruktur; das Fehlen einer Industrie, die die neuesten Erkenntnisse der Technologie anwenden könnte, also der unterentwickelte Zustand der Fertigwarenindustrie; dann die Schwäche der strategisch wichtigsten Industrien, der chemischen, pharmazeutischen und elektronischen Industrie; die arbeitsintensive Landwirtschaft, die unverhältnismäßig viel Arbeitskräfte benötigt; der österreichische Export, der auf Grundstoffe konzentriert ist, deren Weltmarktpreise seit Jahrzehnten fallende Tendenzen zeigen; die Besitzverhältnisse beim Aktienkapital, von dem ein Viertel, aber ein strukturell bedeutendes Viertel, in ausländischem Besitz sich befindet — all das ergänzt sich zum Bild eines Landes, das unerwartet neokoloniale Tendenzen entwickelt.

Diese Tendenzen sind vom „Ökonomischen Programm“ auch angeführt, aber nicht hervorgehoben in ihrer ganzen Tragweite; die wirklichen Ursachen für die Regression der österreichischen Produktionsverhältnisse zu neokolonialen sind nur durch eine historische Analyse deutlich zu machen, die mit dem Zusammenbruch der Monarchie einzusetzen hätte.

Daß zum Beispiel die Produktionskapazitäten der VÖEST für ein viel größeres Absatzgebiet gebaut wurden, wie auch die Erdölindustrie in Lateinamerika nicht für Lateinamerika gedacht ist, wirft ein helleres Licht auf die Ursachen der Stagnation verschiedener Produktionszweige als die Rede von der fehlenden Unternehmerinitiative.

Die konzentrierte Verwendung der ERP-Gelder zum Aufbau der Grundstoffindustrien, während die kapitalintensive Fertigwarenindustrie den viel zu kleinen Privatbetrieben überlassen wurde, die jetzt ein Opfer der offensiv arbeitenden ausländischen Monopole und Oligopole zu werden drohen — diese falsche Investitionsstruktur hat zu Bedingungen geführt, die heute die Errichtung von international konkurrenzfähigen Industrien fast unmöglich machen.

Weitere Parallelen zu den Verhältnissen in den Ländern, deren Wirtschaft in jahrhundertelanger Abhängigkeit von den imperialistischen Großmächten bestimmte Strukturen entwickelt hat, bestehen in der warenmäßigen Zusammensetzung des österreichischen Außenhandels. Wenn für die unterentwickelten Gebiete kennzeichnend ist, daß sie hochwertige Produktionsanlagen nicht selbst herstellen können, sondern durch Tausch gegen Rohstoffe und Halbfertigwaren aus dem Ausland beziehen müssen, und daß die ausländischen Produzenten alle Formen von politischem und ökonomischem Druck dafür einsetzen, diesen Zustand zu erhalten, der ihnen billige Rohstoffe und unverbrauchte, leicht zu kontrollierende Absatzmärkte garantiert — dann zeigt eine Untersuchung der österreichischen Handelsstruktur deutlich, daß ähnliche Tendenzen hier sich anbahnen und daß die wirtschaftspolitischen Versuche der Vergangenheit, diese bedrohlichen Tendenzen aufzuhalten, bisher kaum Erfolge aufweisen. Das Ökonomische Programm stellt dazu fest:

Ein hoher Prozentsatz unseres Exports entfällt auf Grundstoffe und Halbfabrikate, bei denen sich die Absatzlage auf den Weltmärkten gegenüber früher verschlechtert hat. Die hochwertigen Fertigwaren spielen im österreichischen Export hingegen eine wesentlich geringere Rolle als etwa bei den Exporten Schwedens, Hollands und der Schweiz.

Noch 1963 betrug der Anteil der Rohstoffe am gesamten Export Österreichs 17 Prozent, während der Anteil der chemischen Erzeugnisse von 4 Prozent (1952) auf 3,4 Prozent gefallen war.

Die entsprechenden Tendenzen in den österreichischen Importen sind ebenfalls unverkennbar; sie gleichen den Importstrukturen der unterentwickelten Gebiete. Der Prozentsatz an chemischen Erzeugnissen, Textilien und anderen Fertigerzeugnissen am Gesamtimport betrug 1952 15,8 Prozent, 1963 war er auf 27 Prozent gestiegen. Die Vergleichszahlen beim Import von Maschinen betragen 11,4 Prozent und 20 Prozent.

Weil das Schwergewicht des Exports auf den Grundstoffen und Halbfabrikaten liegt, und weil gerade diese Produkte vorwiegend ın die EWG-Staaten exportiert werden (so wurden zum Beispiel 1965 74 Prozent der Rohstoffe in die EWG ausgeführt, gegenüber 7 Prozent in die EFTA), scheint Österreich in ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis zur EWG zu gelangen, deren in Bildung begriffenen supranationalen Riesenkonzerne nur wenig Interesse haben werden an einer leistungsfähigen Industrie in Österreich, die ihre bisher sicheren Absatzchancen nur stören könnte.

Diesen Tendenzen zu einer neokolonialen Handelsstruktur entspricht auch die Entwicklung des Tertiärsektors:

Der Dienstleistungsbereich wächst in Österreich stetig, während die Erzeugung von Sachgütern auf einem für Industriestaaten unterdurchschnittlichen Niveau stagniert und die Landwirtschaft überbesetzt ist.

Das Wachstum des Tertiärsektors, also Handel, Geldwesen, öffentliche und private Dienste, und das gleichzeitige Unvermögen, eine hochentwickelte Fertigwarenindustrie aufzubauen, paßt in das Bild eines Staates, dessen besondere historische Bedingungen — gewaltsame Herauslösung aus einem größeren Wirtschaftsgebiet durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg; dann ständige Krisen und Arbeitslosigkeit; dann Eingliederung in die fortgeschrittene Wirtschaft Nazideutschlands; schließlich einseitiger Aufbau der Grundstoflindustrien — die permanente Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verhinderten.

Der Spätkapitalismus fand in Österreich nie statt

Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, wie sie für die Herausbildung der oligopolitischen Märkte der spätkapitalistischen Staaten notwendig war, hat in Österreich nie stattgefunden.

Weil aber für den Vertrieb der neuen Konsumartikel nicht nur neue Bedürfnisse erzeugt, sondern ein besonderer Dienstleistungs- und Verteilungssektor aufgebaut werden muß — zum Beispiel Autoreparaturwerkstätten, Zubehörlieferanten, Tankstellen und Autostraßen im Zug der expandierenden Autoindustrie —, so entspricht der österreichische Tertiärsektor zwar den Interessen der ausländischen Hersteller von langlebigen Konsumgütern, eine nationale Konsumgüterindustrie fehlt aber weitgehend.

Nach jenen Gesetzen, die die Entwicklung der Infrastruktur und des Dienstleistungssektors der unterentwickelten Länder bestimmen, produziert auch Österreich fortwährend die Bedingungen für reibungslosen Absatz der ausländischen Konsumgüter. Die ökonomische Funktion der Bordelle in Saigon, die seit der Anwesenheit der US-Soldaten expandieren, ist kaum zu unterscheiden von der ökonomischen Funktion der Autobahnraststätten und Tiroler Gasthöfe.

Den gefährlichen Zustand aufzuheben, der darin besteht, daß in Österreich zwar ständig die Voraussetzungen für den Absatz der modernen Konsumgüter hergestellt werden, ohne aber die Voraussetzungen für eine stetige Industrialisierung schaffen zu können, muß eine vordringliche Aufgabe eines sozialistischen Wirtschaftsprogramms sein, das die Entwicklung von ökonomischen Verhältnissen zum Ziel hat, die eine Verwendung aller menschlichen Fähigkeiten ermöglichen, und nicht ein Volk von Hilfsarbeitern.

Mehr als guter Wille

Was allgemein als „Strukturkrise“ bezeichnet wird, sind Tendenzen, die ein neokoloniales Abhängigkeitsverhältnis Österreichs zu den spätkapitalistischen Industrieländern herbeiführen können.

Die geplante Politik des Ökonomischen Programms ist der Gefährlichkeit der strukturellen Unterentwicklung nicht angemessen. Weder eine „Modernisierung der Budgetpolitik“ noch ein „Industrialisierungskonzept“ können die zunehmende technologische und wirtschaftliche Abhängigkeit verhindern, wenn nicht wesentliche Eingriffe in die bestehenden Entscheidungsstrukturen vorgenommen werden.

Eine wirkungsvolle Rahmenplanung, die mehr sein soll als guter Wille, hat zur Voraussetzung, daß bedeutende Entscheidungsbefugnisse über Ausmaß und Art der Produktion in die Hände gesellschaftlicher Kontrollinstanzen gelegt werden, die allein eine Lenkung der Gesamtproduktion ermöglichen, die frei ist von partiellen Unternehmerinteressen.

Solange die Investitionsentscheidungen oder die Festsetzung des Produktionsausstoßes und der Preise maßgeblich von privaten Profiterwartungen bestimmt werden, ist eine vernünftige Industrialisierungspolitik nicht zu realisieren. Wenn auch in Zukunft die österreichische Wirtschaftsstruktur, die Zusammensetzung der Güterproduktion und das zu frühe Wachstum des Tertiärsektors zuerst die Interessen der ausländischen Konzerne fördern und den Aufbau einer nationalen Industrie immer schwieriger machen, dann wird die totale Unterordnung und Eingliederung Österreichs in die Wirtschaftsräume der hochentwickelten Länder nicht zu vermeiden sein. Österreich muß unmittelbar mit einer umfassenden nationalen Industrieplanung beginnen, die aber eine Umwälzung der ökonomischen Machtverhältnisse zur Bedingung hat.

Die gesellschaftliche Kontrolle der privaten Akkumulationszentren (womit nicht ein parlamentarischer Ausschuß gemeint ist, sondern eine dezentralisierte Entscheidungsstruktur auf allen gesellschaftlichen Ebenen) wird die „zweite Industrialisierungswelle“ erst möglich machen. Nachdem der Aufbau der österreichischen Grundstoffindustrien längst abgeschlossen ist, muß eine Phase der intensiven Entwicklung der Industrie einsetzen; vor allem die chemische, elektronische und Produktionsgüterindustrie müssen gezielt entwickelt und die Konsumgüterindustrie vereinheitlicht und rationalisiert werden.

Kontrolle der Führer

Da diese nationale Industrialisierung mit dem äußersten Widerstand sowohl der ausländischen Konzerne wie der kleinen, auf sicheren und langfristig optimalen Profit rechnenden österreichischen Unternehmer stoßen muß, werden die notwendige Abschaffung bestehender Privilegien und die Verwirklichung einer demokratischen Kontrolle des Produktionsprozesses nur mit der aktiven Unterstützung durch die Masse der Lohn- und Gehaltsempfänger möglich sein; der Weg zum Sozialismus geht immer noch durch die Betriebe.

Daß das Ökonomische Programm am Anfang zwar die „Demokratisierung der Wirtschaft“ als Ziel der Reform angibt, in den anschließenden konkreten Entwürfen aber vergißt, daß Demokratie auch im Bereich der Ökonomie zumindest Kontrolle der Führer durch die Geführten bedeutet, macht die Ohnmacht einer Bewegung deutlich, der die empirische Soziologie die politischen Grenzen zu stecken scheint.

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