Heft 3-4/2000
Juni
2000

Neues aus Nahost

In Israel und seinen Nachbarstaaten überschlagen sich in den letzten Monaten die Ereignisse. In Österreich ist ein Sammelband zum Thema erschienen.

Innerhalb weniger Tage zog sich die israelische Armee Ende Mai überraschend früh aus dem Libanon zurück. Gleichzeitig mit dem Rückzug der Israelis zerfiel auch schon deren libanesischer Verbündeter, die christliche Miliz Südlibanesische Armee (SLA), was die Räumung der letzten Stellungen im Südlibanon eher einer Flucht, als einem geordneten Rückzug gleichen ließ.

Die geräumten Stellungen von SLA und israelischer Armee konnten direkt von der Hizb Allah, der vom Iran und Syrien unterstützen Schiitenmiliz, übernommen werden. Bisher scheint es so, als ob diese Übernahmen relativ ruhig und ohne größere Auseinandersetzungen verlaufen sind. Kollaborateure der SLA wurden nach bisherigen Informationen, sofern sie nicht auf israelisches Territorium geflüchtet sind, nicht dem „Volkszorn“ überlassen, sondern der libanesischen Justiz übergeben. Freude über den Rückzug aus dem Südlibanon herrscht seither nicht nur im Libanon, wo sofort hunderte Flüchtlinge wieder in ihre Dörfer im ehemaligen „Sicherheitsstreifen“ zurückkehrten, sondern auch in Israel. Zwar kritisierten viele rechte Politiker den Rückzug als „Flucht“, die jungen Soldaten feiern jedoch das Ende des langjährigen, glücklosen Libanon-Abenteuers.

Ob mit diesem Rückzug an der Nordgrenze Israels Ruhe einkehren wird, läßt sich hingegen noch nicht absehen. Die Hizb Allah hat angekündigt, weiterhin für die Befreiung des gesamten Libanon kämpfen zu wollen. Einige umstrittene Farmen liegen nach libanesischer Auffassung auf dem Staatsgebiet des Libanon, während sie nach israelischer Lesart zu den immer noch besetzten und annektierten syrischen Golanhöhen gehören.

Auf dem Golan sieht es bei weitem nicht so rosig aus, wie im Südlibanon. Während sich Israel aus dem Südlibanon auch ohne Friedensvertrag mit Beirut zurückgezogen hat, sind die Golanhöhen für Israel sowohl strategisch als auch als Landwirtschafts- und Siedlungsgebiet viel zu wichtig, als daß es nach dem Scheitern der Friedensgespräche mit Syrien zu einem einseitigen Rückzug kommen würde. Die Golanhöhen sind neben Ostjerusalem das einzige der besetzten Gebiete, das voll annektiert wurde. Mittlerweile sind fast die Hälfte der BewohnerInnen des Golan israelische SiedlerInnen, die der Aufgabe des Golan zugunsten eines Friedensvertrages mit Syrien massiven Widerstand entgegensetzen. Trotzdem wäre die Regierung Barak grundsätzlich zu einer Aufgabe des Golan bereit gewesen, allerdings nicht bis zur Grenzlinie von 1967, da diese den Zugang Syriens zum See Genezaret gesichert hätte. Israel wollte und will die gesamte Küstenlinie des Sees weiterhin selbst kontrollieren, während Syrien auf jeden Fall einen Zugang zum See erhalten will. Eine Aufgabe der strategisch wichtigen Abhörstation auf dem Berg Hermon, mit der Israel bis über die syrische Hauptstadt Damaskus hinaus jede militärische Bewegung Syriens beobachten kann, wäre für Israel ebenfalls sehr schmerzlich. Da sich die Regierung Barak bereits zu sicher war, daß der alte, kranke syrische Präsident Assad auf jeden Fall einen Friedensvertrag benötigte, verhandelte die israelische Regierung aus einer Position der Stärke, die wiederum Assad die Möglichkeit nahm, eine Einigung innerhalb Syriens und der arabischen Staaten als Sieg zu verkaufen. In der komplizierten Psychologie des Nahost-Konfliktes ist jedoch genau diese Möglichkeit eines „ehrenhaften Friedens“ eine Grundvoraussetzung für jeden Politiker, der sich noch länger an der Macht halten will.

Welche Schwierigkeiten arabische Politiker bekommen können, deren Politik als Kapitulation vor dem israelischen Staat betrachtet wird, zeigt sich derzeit im Zentrum des Nahost-Konfliktes, in jenem Landstrich, der immer noch entweder als Israel oder als Palästina bezeichnet wird. Je näher die Ausrufung eines eigenen Palästinenserstaates rückt, und je deutlicher es wird, daß dieser Staat keinesfalls die gesamten 1967 besetzten Gebiete umfassen wird, sondern nur einen „Fleckerlteppich“, der mehr an ehemalige südafrikansiche Bantustans wie Bophuthatswana oder Kwa Zulu erinnert, als an einen wirklich unabhängigen Staat, desto mehr verliert Arafat an Einfluß in der palästinensischen Bevölkerung und desto unattraktiver wird diese Art des „Friedensprozesses“ auf beiden Seiten. Nicht nur islamisch-integralistische oder linksnationalistische Palästinenserorganisationen sprechen mittlerweile von der Möglichkeit einer neuen Intifada, sondern auch viele Israelis halten eine solche Entwicklung für durchaus möglich. Am Ende könnte die israelische Regierung — so deren Befürchtung — einen Friedensvertrag mit einem alten Mann abschließen, der längst nicht mehr die Kompetenz hat, einen solchen zu unterzeichnen, da er innerhalb der palästinensischen Gesellschaft dermaßen diskreditiert ist, daß er die reale Macht längst verloren hat.

Solange sich durch den „Friedensprozeß“ die konkreten Lebensumstände für die PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten nicht verbessern, sondern sogar vielfach verschlechtern, ist kaum zu erwarten, daß sie eben diesen „Friedensprozeß“ unterstützen werden.

Angesichts dieser Sackgasse in die sich die israelisch-palästinensischen Verhandlungen manövriert haben, ist unter palästinensischen Intellektuellen wieder eine alte Idee aktuell geworden, die in den dreißiger Jahren von einer Gruppe linker Zionisten vertreten wurde. In einem „Offenen Brief an die israelische Öffentlichkeit“, der kürzlich in der israelsichen Tageszeitung Ha’aretz erschien, warnen 119 palästinensische Intellektuelle — unter ihnen Prominente wie Hannan Ashrawi, 1991 Verhandlungsleiterin der palästinensischen Delegation in Madrid oder Zakai Muhammad, Herausgeber der Zeitschrift al-Karmel — vor dem Scheitern des Friedenspozesses. Ein wirklicher Frieden im Nahen Osten kann für die 119 Intellektuellen entweder durch die Schaffung eines eigenen Nationalstaates in allen 1967 besetzten Gebieten mit Ost-Jerusalem als zukünftige Hauptstadt, oder — und hier würden sie sich mit dem linkszionistischen Vorschlag aus den dreißiger Jahren treffen — die Schaffung „eines binationalen demokratischen Staates für beide Völker in den historischen Grenzen Palästinas“ erreicht werden. In einer festgefahrenen Situation, in der die Stimmung in den besetzten Gebieten immer wieder zur Explosion führen kann, könnte ein solcher Vorschlag einen anderen Ausweg aufzeigen, einen Ausweg, der einmal ohne die Errichtung neuer Nationalstaaten und damit auch ohne ethnische Säuberungen und Vertreibungen auf irgend einer Seite auskommen würde.

Rechtzeitig zu diesen interessanten Entwicklungen im Nahen Osten ist nun ein Sammelband zur Geschichte und gegenwärtigen Entwicklung des Nahostkonfliktes erschienen. Das Buch setzt sich aus verschiedenen Referaten zusammen, die im April 1998 im Rahmen eines Seminars des Pädagogischen Instituts des Bundes im Jüdischen Museum in Wien gehalten wurden, und die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Nahostkonflikt beschäftigen.

Der Beitrag von Anas Schakfeh, Vertreter der islamischen Glaubensgemeinschaft auf dem Seminar, kommt trotz versöhnlicher Gesamtintention nicht ohne implizite Vergleiche zwischen der Shoah und der Vertreibung der PalästinenserInnen aus, wenn er meint: „Eine echte und äußerst bedauerliche Katastrophe des jüdischen Volkes hat als unmittelbare Folge die Katastrophe des palästinensischen Volkes hervorgerufen. D.h., das palästinensische Volk hat die Rechnung bezahlt für die Verbrechen der Nationalsozialisten in Europa.“ Schließlich stellt er auch noch fest, daß sich das „palästinensische Volk [...] aus tragischen Umständen (Holocaust) von der Welt im Stich gelassen [sieht]“.

Aber auch Uri Avnery, ein bekannter israelischer Journalist, der sich seit über vierzig Jahren für die Verständigung mit den PalästinenserInnen einsetzt, schafft es nicht, völkische Kategorien grundsätzlich in Frage zu stellen. Er stellt zwar fest, daß „Nationalismus [...] auch für die Araber eine ganz neue Idee“ war und der jüdische Nationalismus, der Zionismus, als Antwort auf die europäischen Nationalismen, die Ausgrenzungen und Pogrome gegen Jüdinnen und Juden in Europa entstanden sei, versucht aber schließlich doch zu beweisen, daß es schon immer ein palästinensisches und ein jüdisches Volk gegeben hätte, die sich nur gegenseitig anzuerkennen bräuchten und das Land fair teilen müßten, um dann nebeneinander zwei Nationalstaaten zu bewohnen. Er erkennt, daß der Nationalismus in Europa und der Nationalismus der beiden direkt beteiligten Seiten viele Probleme erst geschaffen hat, aber er setzt nicht bei einer Kritik des Nationalismus an, um diese Probleme auch zu lösen.

Sehr interessant und was die Situation in Österreich betrifft, auch aktueller denn je, ist der Beitrag von Sabine Loitfellner über die Shoah im kollektiven Gedächtnis Israels und Österreichs. Alles in allem handelt es sich um ein Buch, das durchaus einen Einstieg in die Thematik geben kann und durch eine gute Bibliographie von John Bunzel ergänzt wird. Es glänzt aber weder durch Aktualität noch durch grundsätzlichere theoretische Reflexionen.

Werner Gatty / Gerold Heckle / Gerhard Schmid (Hg.): Der Friedensprozess im Nahen Osten. Gedanken und Reflexionen zur Politik. Studien-Verlag, Innsbruck — Wien — München 1999, 157 Seiten, 248,- öS; 34,- DM

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