MOZ, Nummer 40
April
1989
EG-Parlament

Nur ein einziges Chaos

Fünfhundert Abgeordnete, dreimal so viele BeamtInnen, DolmetscherInnen, SekretärInnen, KonsulentInnen. Plus LobbyistInnen. Einmal im Monat tagt der Jahrmarkt. Eine Reportage aus Straßburg.

„Kein Parlament in Westeuropa ist so weit entfernt von den basisdemokratischen Ansprüchen wie jene Versammlung von 518 Abgeordneten aus zwölf Ländern, die neun verschiedene Sprachen sprechen und aus über 70 verschiedenen Parteien stammen“, heißt es desillusionierend in einer EG-Broschüre der europäischen „Regenbogenfraktion“ über das Straßburger Europahaus.

Jens Bonde, dänischer Gründer der „Regenbogenfraktion“, sagt es noch deutlicher: „Das Europäische Parlament ist ein Marionettenverein. Die wahre Politik wird in Brüssel gemacht, wo sich Kommissäre und Lobbyisten der Großkonzerne die Türschnalle in die Hand geben!“ Sind wir blauäugigen Alpenrepublikaner falsch, hätten wir unsere Reportage besser in Brüssel anlegen sollen? Bonde: „Ah wo! Brüssel ist eine einzige Geheimsache, eine Stadt der gutgepolsterten Türen. Da ist Straßburg ein großer Jahrmarkt dagegen.“

Einmal im Monat, von Montag bis Freitag, tagt der Jahrmarkt. Rund fünfhundert Abgeordnete und dreimal so viele BeamtInnen, JournalistInnen, DolmetscherInnen, KonsulentInnen, SekretärInnen werden für eine Woche lang geschäftig. Sie hasten von der Fraktionssitzung zur Ausschußsitzung, von der Ausschußsitzung ins Plenum, vom Plenum ins Büro, vom Büro zur Dokumentenausgabe und stolpern dabei mindestens einmal am Tag über die bereits legendären Aluminiumkisten, die, vollgestopft mit Unterlagen, ständig zwischen den Tagungsorten Straßburg und Brüssel hin- und hergeschleppt werden und zum alltäglichen Reisegepäck der ParlamentarierInnen geworden sind.

Ein Tag Parlament auf den rechnerischen Punkt gebracht, heißt bis zu 20 Kilometer täglich rauf, runter, hin- und herlaufen, heißt aber auch, daß die Abgeordneten dafür rund 3.000 Schilling Taggeld kassieren und der Arbeitsplatz eines Parlamentariers jährlich knapp acht Millionen Schilling kostet. Für 518 Abgeordnete wären das somit gute 4,1 Milliarden Schilling im Jahr.

Plenum in Straßburg

Mehrsprachige Parlamentsdiener

Das Hohe Haus am Wiener Ring nimmt sich im Gegensatz dazu wie ein ausrangierter, müder Laden aus. Ein Saaldiener in Straßburg spricht mehr Sprachen als drei östereichische Durchschnittsabgeordnete zusammen: auf der Suche nach einem Abgeordneten telefoniert der Parlamentsdiener eine Reihe von Büros an und parliert dabei einmal dänisch, dann spanisch, und weil er zuletzt bei einem Portugiesen landet, auch noch portugiesisch.

Übertroffen werden diese beamteten Sprachtalente nur von „Seiner Hoheit“ Otto von Habsburg.

Der CSU-Abgeordnete mit österreichischem Paß spricht neben Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Kroatisch auch noch Ungarisch und Latein fliessend. Auch im Parlament, wenn’s sein muß. Und wenn er zwischendurch zum Telefon greift und seine Mutter anruft, dann ist er deutsch und stramm: „Wie geht es Ihnen?
Sie müssen sich etwas schonen! Ich werde Sie selbstverständlich besuchen ...“, kann man da den „Kaiser“ von der ganz privaten Seite kennenlernen.

Carla Barbarella

Es ist längst nicht so ein langwieriges Manöver wie in Österreich, wenn man versucht, an einen Abgeordneten heranzukommen. Einmal akkreditiert, bedient man sich entweder des Haustelefons und wählt den Gesuchten über dessen Büro oder Piepserl an oder klopft einfach an. Egal, ob Graf Stauffenberg oder die Kommunistin Barbarella, Le Pen oder Jiri Pelikan — wenn sie gerade in ihren kleinen, zehn Quadratmeter großen Kabinetten mit Schreib-, Schlaf- und Waschgelegenheiten sitzen, werden sie ohne viel Wichtigtuerei sagen: „Kommen Sie nur!“ oder „Wie wär’s in einer Stunde?“ Aufgeblasenheit und Präpotenz, versichert uns die italienische Kommunistin Carla Barbarella „gibt es hier in Straßburg sicher weniger als in gewissen heimischen Parlamenten“. Der Grund, so die Politologin, liege darin, daß die Macht der Abgeordneten sehr klein ist. „Wer glaubt, daß wir befugte Volksvertreter sind“, meint Barbarella, „den muß ich enttäuschen.“ Nach wie vor arbeitet die Kommission in Brüssel jene Entwürfe aus, die dann vom Ministerrat in nicht-öffentlichen Sitzungen beschlossen oder verworfen werden. Die Parlamentarier dürfen höchstens ihre Einwände dagegen kundtun und sagen: „Einspruch, Euer Ehren.“

Als die Kommission und der Rat die Erhöhung der Strahlenwerte (z.B. bei Milch von 370 auf 1.000 Bq) beabsichtigten, machten die europäischen Volksvertreter Gebrauch von ihrer destruktiven Gestaltungsmöglichkeit und erhoben dagegen Einspruch. Aber: die darauf von ihnen vorgeschlagenen Werte wurden vom Rat abgelehnt. So blieb es bei den alten Grenzwerten. Insgesamt werden rund 75% der Änderungsanträge, welche die Parlamentarier in den letzten Jahren eingebracht haben, vom Ministerrat kommentarlos zur Seite geschoben.

Ähnlich den Grünen fungiert Barbarellas kommunistische Fraktion als kompromißlose Streiterin im Parlament. Nur, daß die Kommunisten gefürchtet sind. Nicht, weil sie immerhin die viertgrößte Fraktion stellen, sondern, wie die knapp 50jährige Barbarella versichert, „weil die anderen Fraktionen mit unserer Solidarität nicht zu Rande kommen“. Während sich konservative Deutsche auf Grund national-egoistischer Interessen leicht mit ihren konservativen Brüdern und Schwestern in England in die Haare geraten, „halten die italienischen Kommunisten mit den französischen genauso zusammen wie die spanischen mit den französischen“. Barbarella, die Mitglied des sensibelsten aller Ausschüsse, nämlich des Budgetausschusses ist, fungierte in ihrer zehnjährigen Parlamentskarriere bereits zweimal als Sprecherin dieses Ausschusses. „Das ist nicht bloß ein Zeichen für unsere Stärke, es ist eine echte Chance, konstruktiv mitstreiten und mitbestimmen zu können. Diese Position haben wir den Grünen voraus.“

Die fünfzehn Abgeordnete starke Gruppe der „Regenbogenfraktion“ sieht nach den Worten der Innenarchitektin Undine Bloch von Blottnitz ihre parlamentarische Aufgabe darin, „grüne Inhalte zur Diskussion zu stellen und überall die Nase hineinzustecken“.

Undine-Uta Bloch von Blottnitz

Die „Regenbogenfraktion“ deckt das Parlament fleißig mit Berichten ein, wie etwa mit jenem über die erhöhte Zahl von Krebserkrankungen in der Umgebung der britischen Wiederaufbereitungsanlage Windscale, der immerhin zur Folge hatte, daß sich das Parlament mehrheitlich für die Stillegung der Anlage aussprach. Blottnitz: „Das einzig Wichtige ist, daß unsere Fakten hundertprozentig stimmen. Denn klar versuchen die etablierten Parteien, uns im Interesse diverser Großkonzerne niederzumachen.“ Die Grünen waren es auch, die den Transfer von Atommüllfässern quer durch Europa aufgedeckt und nachgewiesen haben, daß „im EG-Raum überhaupt keine Kontrolle existiert, was das spaltbare Material angeht“, so Blottnitz. Und diese Dinge, meint die Innenarchitektin, sollten wir ÖsterreicherInnen uns gründlich durch den Kopf gehen lassen, bevor wir den Schritt in die EG tun. „Gerade, was die Umwelt betrifft, die Gesundheit, die Politik der Großkonzerne, die Atommafia, da passieren in diesem EG-Raum schon Dinge, die Ihr Euch nicht unbedingt aufhalsen solltet.“ Das einzige Argument, das aus Sicht der Grünen für einen Beitritt Österreichs sprechen würde, sei die Tatsache unserer Neutralität. „Angesichts der militärischen Sicherheitsvorhaben des vor der Tür stehenden Binnenmarktes könntet ihr als kleiner Bremser fungieren“, meint Blottnitz.

Dem hält ihr dänischer Fraktionskollege Jens Bonde entgegen: „Ihr dürft doch nicht glauben, daß Eure Neutralitätsinteressen eine aufrüstende EG tangieren. Entweder Ihr habt zu kuschen, oder Ihr werdet einfach überhört!“ Die Dänen mußten nach ihrem Dafürhalten bereits oft kuschen: z.B., daß sie sich nicht gegen die Einfuhr von Pharmazeutika wehren können, die in Dänemark und von der WHO auf die schwarze „krebsfördernde“ Liste gesetzt worden sind, aber von der EG toleriert werden und von den EG-Mitgliedern toleriert werden müssen, „auch wenn wir dagegen sind“, so Bonde. „Wir wollen raus aus der EG, da werdet doch Ihr nicht unbedingt rein wollen. Die wenigen Vorteile können die Nachteile nie aufwiegen!“ meint der dänische Anti-EGler.

Monsieur Le Pen meint

Aber nicht nur Abgeordnete tun ihre Meinung kund. Es wäre beinahe eine kommunikationswissenschaftliche Arbeit wert, den meinungsmachenden Einfluß der Dolmetschergarde in Straßburg zu analysieren. Ein Beispiel: das Plenum debattiert über das Ausländerwahlrecht. Le Pen meldet sich zu Wort. Kein Dolmetscher findet sich, der ihn in der Ich-Form redend übersetzt. „Monsieur Le Pen meint“, hört man da über den Kopfhörer. Eine Kommunistin meldet sich als Kontrarednerin. Die ins Deutsch übersetzende Dolmetscherin ist offensichtlich begeistert von dem, was die Italienerin vorzubringen hat. Ihre Übersetzung ist spannender als der Sermon der Abgeordneten selbst.

Oder: Ein Stockkonservativer aus der zweitgrößten Fraktion, der „Fraktion der europäischen Volkspartei“, wird von einigen Übersetzern nicht sonderlich heiß geliebt. Ergo: leiernde, zum Einschlafen verleitende Simultanübersetzung.

Straßburgs Dolmetscher sind bei jedermann gefragt. Sie gehören zu den bestinformiertesten Parlamentsarbeitern. Sie wissen, was sich in den nicht-öffentlichen Fraktions- und Ausschußsitzungen abspielt, wer mit wem und wer mit wem nicht kann. Deshalb geht man gerne ab und zu mit ihnen essen, um sich nach dem neuesten Tratsch und dem Geplänkel in der Gegenfraktion zu erkundigen. Ihr Arbeitstag dauert oft 14 Stunden, aber wenn’s zuviel wird, ist’s zuviel: Undine, eine ganz besonders Routinierte, geht dann einfach in den Sitzungssaal, wo sich seit Stunden ein Ausschuß über nichts einig wird, und meint dort ganz gelassen: „Ich würde Euch raten, daß Ihr Euch beeilt, denn wir sind müde und wollen endlich nach Hause.“

Damit die Arbeitenden in dem riesigen Glaspalast nicht ganz abgespannt und abgerackert ins Bett fallen müssen, bietet das Europahaus einige Nischen, wo frau/man sich für ein paar Stündchen vom Streß erholen kann: ein Gourmet-Restaurant der feinsten Sorte mit teuersten Delikatessen, eine Sauna, ein Friseur und etliche Champus-Bars.

Weil es auch sparsame Abgeordnete gibt, die die kleine Couch in ihrem winzig kleinen Kämmerchen dem komfortablen Hotelbett vorziehen, bietet der hauseigene Laden neben hunderten von Zeitungen, Süßwaren und Büchern auch die kleinen, lebensnotwendigen Toiletteartikelchen an.

Bestens ausgestattet ist das Parlament mit unzähligen Sitzgelegenheiten, die — weich und angenehm gepolstert — nicht selten den einen oder anderen Journalisten oder Kameramann zu einem Zwischendurchnickerchen verleiten. Keiner, weder der Präsident noch die alles überwachenden Saaldiener, würden sich an den Herumlungernden stossen. In unseren heiligen steifen Wiener Hallen wäre ein derartiges Panoptikum wohl mehr oder weniger undenkbar.

Marco Panella

Hier darf auch der fraktionslose, stets mit zerzaustem Haar herumlaufende italienische Journalist Marco Panella nicht fehlen. Panella, der von Cicciolinas „Radikaler Partei“ ins Parlament delegiert ist, gilt als der „Chaot“ von Straßburg. Als exzellenter Kenner der Geschäftsordnung ist er dafür gefürchtet, diese ständig durcheinanderzubringen. Als Gesellschaftspolitiker, der sich für Schwule, Lesben und Prostituierte einsetzt, will er mit seinen Aktionen vor allem eines aufzeigen:

„Daß das Parlament nichts anderes als ein einziges Chaos ist.“

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