FORVM, No. 120
Dezember
1963

Presse und Freiheit

Pressefreiheit ist in der Demokratie theoretisch unbestritten, doch in der Praxis scheiden sich die Geister. Über die Aufgabe der Presse und die Rolle der unabhängigen Presse hat es daher lebhafte Diskussionen gegeben, insbesondere im FORVM und im theoretischen Organ der SPÖ. [*] Die Möglichkeit der Unabhängigkeit der Presse ist das Unterpfand der Pressefreiheit, denn dadurch wird erst erreicht, daß Nachrichten, Meinungen und sonstiges Gedankengut unbehindert verbreitet werden können. Unabhängigkeit ist aber nur dann gewährleistet, wenn, unbeeinflußt vom Interessen- und Parteienstandpunkt, Meinung geäußert und Stellung bezogen werden kann.

Hierauf beziehen sich zwei grundsätzliche Einwände:

  1. Soll es gestattet sein, die Pressefreiheit skrupellos auszunützen?
  2. Gibt es überhaupt „unabhängige“ Presse? Ist sie nicht vielmehr immer in irgendeiner Form finanziell abhängig?

Die Presse hat die Aufgabe, die unartikulierte öffentliche Meinung zu artikulieren (René Marcic). Gemeinhin steht in der Demokratie die Aufgabe im Vordergrund, den Mißbrauch von Macht anzuprangern und somit einzuengen. Wie weit darf die Presse nun in ihren Angriffen gehen? Welche Mittel darf sie gebrauchen? Fast hinter jedem Blatt steht eine Interessengruppe, die bestimmte Zwecke verfolgt.

Sollen totalitäre Bewegungen „total“ die freie Meinungsäußerung mißbrauchen können, um Wasser auf ihre Mühlen zu treiben? Im Falle ihres Sieges wäre die Aufhebung der Pressefreiheit ihre erste Tat.

Die Antwort einer demokratischen Verfassung auf die Frage, inwieweit sie antidemokratischen Strömungen Bewegungsfreiheit einräumen will, ist verhältnismäßig einfach: Die Grenzen reichen so weit, als die Existenz der Demokratie nicht bedroht ist. Je weiter diese Grenzen gesteckt werden können, desto gesünder die Demokratie. Werden sie zu eng, so ist im Gemeinwesen etwas faul.

Viel schwieriger ist die Antwort dort zu finden, wo Blätter aus Geschäftsinteressen — also nur, um den Absatz zu steigern — skrupellos Angriffe starten und, weit in die Intimsphäre eindringend, zum Mittel der Diffamierung greifen. Unter Umständen können gewiß auch scharfe Formulierungen berechtigt sein. Es wird auf den Zweck ankommen, den die Veröffentlichung verfolgt. Soll sie der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen, so ist sie löblich, soll nur dem Geschäft gedient werden, so ist sie verwerflich.

Aber wie sollten hier gesetzliche Grenzen gezogen werden? Es kann nicht zweierlei Recht geben — je nach der guten oder bösen Absicht. „Seriös“ ist eine moralische Qualität, und das Urteil hierüber liegt eigentlich bei den Lesern. Der Satz „Jedes Volk hat die Presse (besser: die Boulevardpresse), die es verdient“ hat seine Berechtigung. Damit aber wird das Pressewesen zum Problem des kulturellen Niveaus eines Volkes und damit zum Problem der Erziehung. Über „seriös“ oder „unseriös“ entscheidet der Leser, der Käufer. Wenn sich mit Anständigkeit Geschäfte machen ließen, würden die unseriösen Zeitungen sofort seriös.

Damit sind wir schon beim nächsten Einwand, dem der finanziellen Abhängigkeit.

Eine Zeitung kostet Geld, und zwar desto mehr, je besser sie ist. Des weiteren: je größer die Auflage, desto höher die Herstellungskosten. Ein Blatt mit Massenauflage kann bestenfalls gestützt werden, aber es muß doch annähernd zum Herstellungspreis abgesetzt werden. Keine Interessengruppe und keine Partei kann sich den Luxus leisten, eine Tageszeitung mit Massenauflage dauernd zu verschenken oder weit unter den Gestehungskosten zu verkaufen. Damit wird jede Zeitung vom Herausgeber als Financier und vom Leser als Käufer abhängig; wenn durch Inserate ein wesentlicher Kostenzuschuß erreicht werden soll, wird sie auch von den Inserenten abhängig.

Eine Zeitung vollständig unabhängig führen zu können, ist folglich bloße Fiktion. Sie muß sich den Geldgebern und dem Publikum anpassen. Es gibt keine Zeitung, in der die Redakteure gänzlich unbeeinflußt, nur ihrem Gewissen verpflichtet, rückhaltlos ihre Meinung sagen und die zu veröffentlichenden Nachrichten nach eigenem Ermessen auswählen können. Die Presse ist Objekt im Meinungsstreit, der Redakteur Mittel, Subjekt mit erwartetermaßen subjektiver Meinung. Eine Waffe mit weitreichender Wirkung überläßt man nicht zum persönlichen Gebrauch.

Möglichst viele Zeitungen

Es gibt also keine Unabhängigkeit der Presse, aber gerade deshalb brauchen wir die unabhängige Presse. Das ist kein Widerspruch. Eben weil es eine Vielfalt von Abhängigkeiten gibt, muß es eine möglichst große Zahl von Zeitungen geben, um die verschiedenen Meinungen und Mitteilungen zu Wort kommen zu lassen. In der breiten Öffentlichkeit soll sich dann daraus die öffentliche Meinung bilden.

Zeitungen, die eine Weltanschauung oder Gesinnung zu vertreten haben, können von vornherein nicht unabhängig sein, denn sie müssen die Ereignisse an Hand ihrer Ideologie betrachten. Jede Weltanschauung proklamiert in letzter Konsequenz ihre Weltgültigkeit und Unfehlbarkeit. Die Schreibweise eines solchen Blattes kann objektiv nur vom Standpunkt seiner Weltanschauung sein. Die große Bedeutung der Meinungspresse besteht darin, konkret ausgerichtete Anschauungen zu vertreten und dadurch die Meinungsbildung bewußt zu beeinflussen. Die unabhängige Presse hingegen kann sich zufolge ihrer Ungebundenheit nicht durchwegs einseitig orientieren.

Die einseitige Information und Meinungsbeeinflussung führt zu einer „fiktiven“, den Tatsachen widersprechenden Auffassung. Aufgabe der partei-, nicht aber interessenunabhängigen Presse ist es, korrigierend und mäßigend in den Meinungsstreit einzugreifen, Entstellungen und Widersprüche aufzuzeigen. Man kann die Wahrheit nur so lange entstellen, als die Lüge nicht offenbar wird. Zusammengesetzte Steine eines Mosaiks ergeben immerhin für den, der sich der entsprechenden Mühe der Betrachtung unterzieht, ein Gesamtbild. Die unabhängige Presse kann die Fähigkeit entwickeln, ausgleichend zwischen Standpunkten zu wirken.

Der unabhängigen Presse, wie der Presse ganz allgemein, fällt in der Demokratie eine wichtige Rolle zu; der bekannte deutsche Presserechtler Martin Löffler stellt dazu fest: „Die moderne Presse ist in der Lage und berufen, heute als vierter Träger der öffentlichen Gewalt gegenüber dem gefährlichen Machtstreben des ständelosen Parteienstaates das gesunde Gegengewicht zu bilden. In Erfüllung dieser staatspolitischen Funktion stellt die Presse heute eine öffentlich-rechtliche Institution dar, die mit vollem Recht Verfassungsschutz für sich beanspruchen darf.“ [**]

Vorsprung der „Boulevardpresse“?

Entartungen im Pressewesen müssen schärfstens verurteilt werden. Aber man darf dabei das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Es wird oft so getan, als ob die Boulevardpresse eine Verfallserscheinung der heutigen Zeit sei. Aber schon Friedrich Austerlitz, langjähriger Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“ vor Oscar Pollak, schrieb 1926 im „Kampf“: „... Denn die wirkliche Wahrheit, die ganze Wahrheit ist die melancholische Erkenntnis, daß auf dem Gebiete der Presse das Gemeine einen unüberbietbaren Vorsprung besitzt, daß die Gunst des Publikums vor allem dem Niedrigen und Verächtlichen zufliegt. Die Vorstellung, daß die Menschen in der Zeitung das Geistige und Sittliche suchen, war ja immer eitel, denn in jedem Lande waren zu jeder Zeit Zeitungen wahrzunehmen, die ihre Macht und Popularität nur ihren zweideutigen und zweifelhaften Eigenschaften zu danken hatten.“

Trotz dieser nicht zu leugnenden Mißstände und Entartungen ist aber die Bedeutung der Presse seither weiter gestiegen — und die Arbeiterbewegung, welche Austerlitz von der Boulevardpresse bedroht sah, ist weiter gewachsen.

Besser Mißbrauch der Presse- und Meinungsfreiheit als deren fühlbare Einengung. Das Presserecht kann gegen Willkürakte der Presse Handhaben bieten, aber zu weitgehende Beschränkungen der Pressefreiheit nehmen der Presse die Möglichkeit, gegen Willkür der öffentlichen Gewalt aufzutreten. Überdies soll man die Führung eines Blattes nicht hinsichtlich einiger Entgleisungen, sondern nach der Gesamthaltung dieses Blattes beurteilen.

Es gibt kein einzelnes völlig freies und unabhängiges Blatt, aber wenn die Pressefreiheit voll gewährleistet ist, existiert in der Gesamtheit der Blätter die Unabhängigkeit der Presse. Die öffentliche Meinung ist der Extrakt einer Vielzahl von Meinungen. Das Urteil liegt beim Publikum.

Daß die Urteilskraft der Leser gehoben werden muß, ist freilich eine andere und durchaus zu bejahende Frage.

[*Oscar Pollak: Die denaturierte Parteipresse, „Die Zukunft“, Juni 1963; Franz Kreuzer: Antwort an einen Kritiker, „Die Zukunft“, Juli 1963.

[**Martin Löffler: Presserecht (erschienen 1955), Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit (erschienen 1959).

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