MOZ, Nummer 58
Dezember
1990
Wohnungsnot und Wahlkampf:

Räumungsterror in Ostberlin

Der Westen macht Ernst. Am 14. November wurden im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain 17 Häuser von der Westberliner Polizei gewalttätig geräumt. Es gab über hundert zum Teil schwer verletzte Hausbesetzer/innen und 500 Festnahmen.

Bild: G.A.F.F./O. Jandke
Bild: G.A.F.F./O. Jandke

Die alte Dame ist 77 Jahre alt, erst in den achtziger Jahren hatte sie das Eigentum an ihrem Berliner Altbau in der Pfarrstraße 112 an den damaligen DDR-Staat verloren. Jetzt hat sie die Rückgabe beantragt, doch die Mühlen der neuen Westbürokratie mahlen langsam.

Die allmächtige Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV), die heute in bezirkliche Wohnungsbaugesellschaften mit beschränkter Haftung aufgeteilt wurde und im Alleineigentum des Senats steht, hält ihre Hände auf die Häuser. Und sie hat, ohne die Eigentümerinnen zu fragen, für alle Häuser in der Pfarrstraße — hier sind über zehn besetzt — mit einer Ausnahme Räumungsanträge gestellt. Ein Verhalten, das grob gegen das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen verstößt, aber das kümmert den SPD-geführten Senat nicht.

Das Haus der alten Dame — Pfarrstrasse 112 — wurde entsprechend geräumt, obwohl sie dagegen ist und es gerne sehen würde, wenn die BesetzerInnen wieder einziehen würden.

Genauso erging es einer GmbH, die einen langfristigen Mietvertrag hat und auch nichts gegen die Besetzungen hatte. Auch hier hat die Wohnungsbaugesellschaft Räumungsanträge gestellt.

Der damals noch rosagrüne, jetzt nur noch SPD-bestückte Senat schafft sich so seine Eskalation selbst. Er stellt als Alleineigentümer Räumungsanträge und läßt dann, von seiner Polizei tatkräftig unterstützt, vom Bundesgrenzschutz und westdeutscher Bereitschaftspolizei die Häuser räumen mit dem Argument, es lägen ja schließlich Räumungsbegehren der EigentümerInnen (was nicht stimmt, die stammen nämlich von seiner eigenen Wohnungsbaugesellschaft, die auch die Verwaltungsrechte nach Eigentumsrückübertragung verlieren wird) vor.

Auch wurde ein beliebiges Datum in die Welt gesetzt: der 24.7.’90, nach dem keine Besetzungen mehr akzeptiert werden würden. Dieses Datum setzte die SPD damals, um gegen die von der CDU geführte DDR-Regierung, die keine Polizeieinsätze gegen besetzte Häuser durchführte, Wahlkampf führen zu können. Einen sachlichen Grund für dieses Datum — euphemistisch ‚Berliner Linie‘ genannt — gibt es nicht. Bei den aktuellen Räumungen wurde auch keine Rücksicht darauf genommen. ob die Häuser vor oder nach diesem Datum besetzt worden waren.

In der letzten Woche wurden 17 Häuser in Berlin geräumt, davon allein am 14. November 12 Häuser in der Mainzer Straße im Bezirk Friedrichshain — unter Einsatz zum Teil erheblicher Gewaltmittel, Räumpanzer, Tränengas, Wasserwerfer, Blendgranaten, Hubschrauber, Gummigeschoßen, in einem Fall wurde sogar scharf geschossen und ein Demonstrant durch einen Querschläger verletzt. Die Festgenommenen, auf die eine Lawine von Strafverfahren wegen Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch und anderer Delikte zurollt, sind schon nicht mehr zu zählen: sicherlich weit über 500 Personen.

Berlin 14.11.’90. Räumung der Mainzer Straße im Stadtbezirk Friedrichshain durch Spezialeinsatztruppen der Polizei.
Bild: G.A.F.F./O. Jandke

Freiräume plattgewalzt

„Diese Fakten machen es unmöglich, im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz von Verhältnismäßigkeit auch nur zu sprechen. Polizeiliche ‚Lösungen‘ in dieser Dimension werden ‚notwendig‘, wenn die politisch Verantwortlichen politische Lösungen nicht wollen und deshalb systematisch hintertreiben“, heißt es in einem Unterstützungsaufruf für die BesetzerInnen zum Polizeieinsatz in der Mainzerstraße, wo mit besonderer Härte ein ganzer Straßenzug geräumt wurde. Für mehrere Stunden tobte hier ein Bürgerkrieg, der vom Berliner Senat ohne Veranlassung vom Zaun gebrochen wurde. Zurück bleibt ein verwüstetes Stadtviertel. Die BesetzerInnen waren verhandlungsbereit wie in allen anderen Häusern auch; der Senat hatte die Verhandlungen einseitig abgebrochen und sich so seinen Vorwand zum Zuschlägen selbst geschaffen. Das Unverständnis vieler Ost-BerlinerInnen und auch Ost-Berliner HausbesitzerInnen für eine solche Gewalteskalation wird rücksichtslos übergangen. Eigentumsmittel werden nicht zurückgegeben, EigentümerInnen unter Druck gesetzt, um nach Belieben schalten und walten zu können.

Noch immer sind ca. 110 Häuser in Ost-Berlin besetzt. Und es stellt sich die Frage: Will die Berliner SPD tabula rasa machen und alle Häuser räumen?

Brutaler hatten die früheren CDU-Regierungen auch nicht versucht, das Problem der Hausbesetzungen, das in Wirklichkeit ein Problem der Wohnungsnot ist, zu ‚lösen‘. Ein polizeiliches, gewaltsames Umgehen mit dem Problem der Wohnungsnot, anstatt wirkliche Lösungen zu diskutieren und in Angriff zu nehmen, kann nur zu weiterer Eskalation führen. Aber wer kann sich schon damit profilieren, Obdachlose von der Straße zu bringen oder selbstverwaltete Lebens- und Arbeitsprojekte zu unterstützen?

Der Altbaubestand in Ost-Berlin ist in einem großteils völlig heruntergekommenen Zustand, Tausende von Wohnungen standen und stehen leer, die völlig unfähige Bürokratie der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) hat diesen Mißstand über Jahrzehnte verwaltet, verschuldet, aber auch Eigeninitiative bis zur Besetzung und Instandsetzung geduldet. In Ost-Berlin sind nicht nur über 100 Häuser, sondern Tausende von Wohnungen — leise — besetzt. Hier wäre es angebracht, Freiräume zu eröffnen und zu erhalten, anstatt alles, was nicht mit dem blankgeputzten Hauptstadt-Bild, das von CDU bis SPD und AL so gerne beschworen wird, plattzuwalzen.

Hinzu kommt: es ist Wahlkampf in Berlin (2.12.1990: Bundestags- und Landtagswahlen). Die SPD will sich als Macht von Recht und Ordnung profilieren, wie schon so oft in ihrer Geschichte. Die AL ist aus der Koalition ausgetreten, um nach dem 2. Dezember — wenn sie darf — sofort wieder einzutreten und zwischenzeitlich linke Stimmen durch einen pseudoradikalen Schritt zurückzugewinnen.

Die Ost-Berliner Bevölkerung ist verunsichert bis entsetzt, das „Neue Forum“, das sich gewaltfrei zwischen Polizei und Demonstrantinnen stellt, wird als Vermittler zurückgewiesen. Bärbel Bohley fordert den Rücktritt von Polizeisenator Pätzold (SPD). 15.000 demonstrierten gegen die Politik des Senats, weitere Demonstrationen werden folgen.

Mompers Glitzerhauptstadt wird es auf absehbare Zeit nicht geben.