FORVM, No. 481-484
April
1994

Rosa Jochmann

Epitaph

Am 19. Juli 1901 in Wien geboren, als Demokratin, Sozialistin und Mensch weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt. Für ihre Gesinnung war sie insgesamt neun Jahre inhaftiert, davon sieben Jahre im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Von 1945-1967 war sie Mitglied des Nationalrates. Sie starb am 28. Jänner. Franz Richard Reiter hat aus Gesprächen mit Rosa Jochmann ein Portrait zusammengestellt.

Am 19. Juli 1901 in Wien geboren, als Demokratin, Sozialistin und Mensch weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt. Für ihre Gesinnung war sie insgesamt neun Jahre inhaftiert, davon sieben Jahre im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Von 1945-1967 war sie Mitglied des Nationalrates. Sie starb am 28. Jänner. Franz Richard Reiter hat aus Gesprächen mit Rosa Jochmann ein Portrait zusammengestellt.

Der Erste — auch für uns Kinder ein Schreckgespenst

Mein Vater war Eisengießer, meine Mutter Wäscherin und Bedienerin. Beide waren aus Mähren eingewandert. Mein Vater lernte nie deutsch. Wir sprachen nur tschechisch daheim. Wir waren sechs Kinder in einer Zimmer-Küche-Wohnung. Der Erste, an dem der Zins bezahlt werden mußte, war auch für uns Kinder ein Schreckgespenst, denn der Zins für so eine winzige Wohnung hat damals genauso viel gekostet, wie der Vater in einer Woche verdient hat: 12 Gulden. Lebenslang erinnere ich mich an meine weinende Mutter, die nicht wußte, wie sie den Zins bezahlen soll. Damals gab es auch noch das Schuldenbüchel beim Greißler. Wir haben nur auf Schulden einkaufen können. Meine Aufgabe war es, immer wenn der Zins bezahlt werden mußte, zum Greißler zu gehen, und ich mußte ihm sagen: „Herr Dufke, die Mutter läßt bitten, Sie sollen uns noch weiter aufschreiben, denn in dieser Woche kann sie nichts bezahlen, weil wir den Zins bezahlen müssen. Wir haben ja leider kein Geld.“

Zum Versetzen hatten wir fast nichts. Das einzige, was wir hatten, war der Winterrock meines Vaters. Wenn der Winter kam, war es die Sorge meiner Mutter, das Geld zu haben, den Winterrock aus dem Versatzamt auszulösen. Die Geldsorgen von damals sind unbeschreiblich. Es war eine schwere, schreckliche Zeit. In der Schule hatten wir gelernt: „Den Fleißigen gehört die Welt.“ und „Wer arbeitet, wird auch dafür belohnt.“ Meine arme Mutter hat Tag und Nacht gearbeitet, der Vater ebenfalls. Sie wurden nicht dafür belohnt. Meine Mutter ist mit 41 Jahren, mein Vater mit 45 Jahren gestorben.

Bitte, ich möchte arbeiten

Es gab überhaupt keine Rechte für den arbeitenden Menschen. Ich war kaum 14 Jahre alt, da stand ich am Fabrikstor des „Zuckerlschmid“ und bat den Beamten, der da herausgekommen ist: „Bitte, ich möchte arbeiten.“ Er hat mich aufgenommen. Bald darauf kam ich in einen Betrieb, der Kabeldrähte für die Schlachtfelder erzeugte. Um sieben Uhr früh mußte ich in der Fabrik sein, um sechs Uhr abends war Schluß. Ich mußte als 15jährige genauso viel und genauso gut arbeiten wie die Erwachsenen, aber ich bekam nur die Hälfte des Lohnes. Es handelte sich um einen Schichtbetrieb. Da geschah es, wenn meine Ablöse, die Frau Frank, die mir eine mütterliche Freundin war, krank wurde, daß der Meister zu mir sagte: „Weißt du, du mußt auch über die Nachtschicht dableiben. Leg dich eine Stunde hin. Dann mußt du weitermachen. Denn die Nachtschicht darf nicht ausfallen.“ Ich legte mich eine Stunde hin, machte die Nachtschicht durch, und am Morgen sagte der Meister: „Rosa, du mußt dableiben, denn jetzt ist ja deine Zeit.“ So stand ich als 15jährige 36 Stunden bei einer sehr schweren Arbeit. Aber ich war nicht traurig darüber. — Ich war glücklich und freudig, denn ich wußte, daß ich für die Nachtschicht, die ich zusätzlich gearbeitet hatte, zusätzlich entlohnt würde.

Die Sorgen für meine Geschwister, die noch in die Schule gegangen sind, die Sorge für meinen Vater, all das kann man überhaupt gar nicht beschreiben. Es gab keine Hilfe. Es gab kein Kindergeld. Es gab keine Fürsorge. Es gab kein Waisengeld. Es gab nichts.

Ich kann kein Unrecht sehen, ich kann aber auch kein Unrecht erleiden

Ich habe nie daran gedacht, politisch tätig zu werden. Einen gewissen familiären Hintergrund gab es. Mein Vater war Sozialdemokrat. Was mich immer bewegt hat und was mich auch heute noch bewegt: Ich kann kein Unrecht sehen, ich kann aber auch kein Unrecht erleiden. Ich kann es nicht ertragen, wenn mir jemand Unrecht tut und muß es richtigstellen. Aber noch weniger kann ich zuschauen, daß einem anderen Unrecht geschieht. Ich bin in die Gewerkschaft gekommen, als wir eine Lohnerhöhung hatten und eine alte Frau davon ausgeschlossen war, weil sie lediglich die Werkstätten aufräumte. Als uns der Gewerkschaftssekretär mitteilte, was wir an Lohnerhöhungen haben werden, aber diese Frau ausgeschlossen bleibt, da weiß ich gar nicht, wo ich den Mut hernahm, um mich zu melden und zu erklären, daß es ein Unrecht ist, daß diese Frau nichts bekommt und daß wir alle dafür sind, daß auch sie etwas bekommen soll. Da wurde dieser Gewerkschaftssekretär auf mich aufmerksam, und er lud mich eines Tages zu einer Konferenz der Gewerkschaften ein. Wir sollten über einen neuen Tarifvertrag abstimmen. Allerdings lagen dort auf einem Tisch schon ganze Stöße frisch gedruckter neuer Tarifverträge. Ich meldete mich wieder zu Wort. Ich protestierte dagegen, daß wir über die Tarifverträge reden sollten, wo sie in Wirklichkeit offensichtlich bereits abgeschlossen waren. Daraufhin lud mich der Obmann des Chemischen Verbandes, Julius Weiß, ein, mit ihm zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit dauerte dann 15 Jahre. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, daß er Jude war. Als ich aus dem Lager nach Hause gekommen war, habe ich zu meinem großen Leid erfahren, daß auch er in der Gaskammer erstickt worden ist.

Die Nacht über Österreich

Es kam dann — wie ich das immer nenne — die Nacht über Österreich. Und zwar begann sie schon am 12. Februar 1934, eigentlich gehört der 15. Juli 1927 auch dazu, aber der Bürgerkrieg begann ja am 12. Februar 1934. Ich ging in die „Illegalität“ und wurde steckbrieflich verfolgt. Meine Aufgabe als Kreisleiterin für Niederösterreich war, in Niederösterreich von Ort zu Ort zu wandern, um Nachrichten, die Arbeiterzeitung, Flugblätter u.s.w. zu bringen. Ich bin dann verhaftet worden und ungefähr zwei Jahre gesessen. Aber man muß um der Gerechtigkeit willen sagen, daß man die Behandlung der Häftlinge während dieser vier Jahre von 34-38 nicht damit vergleichen kann, was später, im Konzentrationslager, gekommen ist. Als Häftling im Landesgericht oder im Polizeigefangenenhaus war man immer ein Mensch, war man eine Frau, man wurde nicht gefoltert. Ich spreche jetzt nicht vom Anfang. Da wurden Menschen leider gehängt und die Schutzbündler geschlagen. Später aber wurde man wie ein Mensch behandelt. Man konnte sogar Bücher bekommen. Die Aufseher waren anständig.

Dann aber kam die andere Zeit, die Unverdrängbare. Ich war sieben Jahre im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingesperrt. Wir, die wir aus dem Konzentrationslager zurückgekommen sind, wir sind keine freien Menschen. Die Gnade des Vergessenkönnens ist keinem beschieden, der im Konzentrationslager war. Das kann man nicht vergessenen. Es ist nicht so, daß es, je weiter es wegrückt, einfacher und leichter würde. Es bleibt. Das ist nicht nur meine Empfindung. Wir sind durch das Tor des Lagers nur scheinbar in die Freiheit gegangen.

Die Stunde der Verzweiflung Die Stunde der Erlösung

Neben den jüdischen Frauen, Mädchen und Kindern, die ja alle in die Gaskammer gegangen sind — alle —, waren es die polnischen Frauen, die von der SS am meisten verfolgt und gequält wurden. Vor allen anderen die Intelligenz und die Jugend. Es gab eine Gruppe von Studenten und Intellektuellen, von denen alle wußten, daß sie eines Tages erschossen werden würden. Ich, als Blockälteste vom Politischen Block, bekam eines Abends eine Liste. Darauf stand, daß am nächsten Tag die und die Nummer — wir waren ja nur Nummern — nicht ausrücken, nicht zur Arbeit gehen darf. Sie wußten alle, und ich natürlich auch, daß sie am nächsten Tag erschossen werden.

Am nächsten Tag kamen diese 20 bis 25 jungen Frauen auf einen besonderen Block. Dorthin bekamen sie das Essen, wie die anderen auch. Aber sie aßen nichts mehr. Sie haben den ganzen Tag gebetet und heilige Lieder gesungen. Eine dieser Frauen hat ihre letzten Gedanken, Gefühle, Ängste und Hoffnungen zu Papier gebracht. Die Titel ihrer Niederschrift waren: „Die Stunde der Verzweiflung“, „Die Stunde der Sehnsucht“, „Die Stunde der Hoffnung“ u.s.w. — Je näher die Stunde heranrückte, als die sogenannte Todesaufseherin sie holen kam, desto positiver wurden diese Aufzeichnungen: „Die Stunde des Glaubens“ und „Die Stunde der Erlösung“.

Um sechs am Abend, als wir beim Zählappell standen, ging die Todesaufseherin zu dem Block und öffnete ihn. Heraus kamen diese bildschönen, liebenswerten, intelligenten Mädchen, Hand in Hand, mit fröhlichen Gesichtern. Lächelnd winkten sie uns zu. Hinter ihnen wurden die Särge geführt — später gab es auch keine Särge mehr —, eine viertel Stunde später hörten wir die Salve, dann die „Gnadenschüsse“, und dann wußten wir, daß sie alle getötet waren. Eine besondere Grausamkeit bestand darin, daß sich unter den Polinnen oft Mutter und Tochter im Lager befanden und sie nicht Mutter und Tochter zusammen sterben ließen. Man muß sich das vorstellen: Die Mutter stand beim Zählappell, an ihr vorbei wurde ihre vielleicht einzige, geliebte Tochter geführt, sie wartete wie wir auf die Salve, und jetzt wußte sie, daß ihre Tochter erschossen war. Oder umgekehrt: Die Tochter stand beim Zählappell und ihre Mutter wurde vorbeigeführt und erschossen.

Soscha, ein junges polnisches Mädchen von 17 Jahren

Man kann ein Konzentrationslager nur überleben, wenn man Menschen findet, um die man sich kümmert, für die man sorgt. Einer meiner „Schützlinge“ war Soscha, ein junges, polnisches Mädchen von 17 Jahren. Die Polinnen waren nach den Jüdinnen, wie ich schon sagte, die, die am meisten von der SS verfolgt wurden. Soscha mußte in der SS-Küche Erdäpfel schälen. Da hat die Soscha in ihrem Hunger ein Stück rohen Kartoffel in den Mund gesteckt. Das sah die Aufseherin und machte eine Meldung. Das bedeutete, daß Soscha 14 Tage später zum Strafrapport kam und zu 25 Stockschlägen verurteilt wurde. Ich war damals auch im Bunker. Im Bunker herrschte totale Finsternis. Man wußte nicht, ob man die Augen zu oder offen hatte, weil es so stockdunkel war. Man verlor jeden Begriff von Licht. Ich war fünf Monate im Bunker. Die Verurteilung zu 25 Stockhieben bedeutete, daß man auf den Bock gespannt wurde, die Hände und Füße in Klammern, die Schläge auf das nackte Gesäß. Neben dem Prügelbock stand ein Holzfaß, in dem die Knute lag. Die Knute bestand aus unzähligen, dünnen Lederriemen, die am Ende verknotet waren. Sie „ruhte“ in dem Holzgefäß von Dienstag bis Freitag und von Freitag bis Dienstag, denn an den beiden Tagen war immer Strafvollzug. Dann mußte die, die geschlagen wurde, jeden Schlag zählen. Wenn sie einen Schlag nicht gezählt hat, wurde dieser Schlag wiederholt. Man hörte in der Zelle, in der man eingesperrt war, jeden Schlag. Man hörte das Schreien der geprügelten Häftlinge. Man mußte schreien! Es gab eine einzige, die es, ohne zu schreien, aushielt. Meine Soscha hat erbärmlich geschrieen. Dann, nach den 25 Schlägen, warf man sie nackt in die Zelle neben mir. Es gibt ja kaum eine Kerkermauer, die so dicht ist, daß man sich nicht verständigen kann. Das Klopfsystem zum Beispiel ist ganz einfach. Man bekommt rasch eine solche Fertigkeit, daß man sich mit dem Nachbarn stundenlang unterhalten kann. Deshalb bin ich genau unterrichtet, wie es Soscha erging. Die Soscha hat nach dieser Tortur schrecklich geblutet. Die Dr. Käthe Leichter, die auch ins Gas gegangen ist, die hat immer gesagt: „Rosa, einen einzigen Körper sollte man der Menschheit zeigen können, wie der ausschaut, wenn er von diesem Strafvollzug kommt.“ Die Soscha hat drei Tage und vier Nächte nach der Mutter geschrieen. Da ich ja tschechisch kann — wenn man so lange wie ich im Lager war, versteht man ja von vielen Sprachen etwas, vom Polnischen, Russischen, Französischen —, weiß ich, was sie geschrien hat. Immer die Hilferufe nach der Mutter. Sie wollte, die Mutter soll ihr helfen. Aber die Mutter konnte ihr nicht helfen. Die Schreie sind immer leiser geworden. Und dann, in der vierten Nacht, ist es ganz still geworden. Da wußte ich: Die Soscha ist erlöst.

So viel erreicht

Bevor ich 1945 in den Nationalrat gewählt wurde, hatte ich nie im Entferntesten daran gedacht. Von meinem Standpunkt einer begeisterten Sozialistin aus muß ich sagen, daß wir so viel erreicht haben, wie es sich unsere Pioniere der Arbeiterbewegung niemals gedacht hätten. Für mich ist es beglückend, daß es möglich ist, daß in Österreich, auch wenn es viele große ungelöste Probleme gibt, kein Mensch hungern muß, daß es jedem, auch wenn er nur die Mindestrente hat, sogar wenn er arbeitslos ist, heute ungleich besser geht, als es in meiner Jugend der Fall war.

Wenn mich jemand frägt, was mich am meisten begeistert hat, als ich aus dem Lager nach Hause gekommen bin, muß ich natürlich an erster Stelle sagen, daß diese Hölle vorbei war, aber dann gleich: Ich war der glücklichste Mensch, als ich bei der ersten Wahl an den Plakat wänden sah, daß die verschiedenen Parteien die Möglichkeit hatten zu werben. Denn in einem Einparteienstaat möchte ich nicht leben. Ich bin ein ewiger Optimist. Es wird wahrscheinlich eine Welt werden, in der es ein Glück und eine Freude sein wird zu leben. Aber niemals wird man die Menschen gleichmachen können, nicht in ihrem Denken, nicht in ihrem Fühlen.

Zum Guten wenden

Ich begegnete Bruno Kreisky zufällig, gleich nachdem er aus der Gestapohaft entlassen worden war. Ich kann nicht wiedergeben, wie schrecklich er damals ausgesehen hat. Das Glücksgefühl, als ich von der Galerie aus Dr. Kreisky als Bundeskanzler im Parlament sah, kann ich ebenfalls überhaupt nicht beschreiben. Im selben Moment, als ich ihn als Bundeskanzler sah, sah ich ihn, wie er aus dem Gestapokeller gekommen war. Das zeigt: Man soll nie den Mut verlieren. Wenn man es kann, leider kann es ja nicht jeder, muß man immer die Hoffnung und das Vertrauen und den Glauben in sich haben, daß sich die Dinge zum Guten wenden. Und die haben sich gewendet.

Wenn mich heute manche fragen, warum ich noch über das Lager rede, so ist meine Antwort: Ich will dadurch erreichen, daß niemals wieder die Menschen so etwas Furchtbares erleben müssen; daß niemals mehr Menschen eingekerkert und gefoltert werden. Ich weiß, daß es gegenwärtig auch so etwas in der Welt gibt. Das tut mir in tiefster Seele weh. Es tut mir in tiefster Seele weh, daß die Menschen nicht zueinander finden.

Ich werde das Jahr 2000 nicht mehr erleben, dessen bin ich mir sicher. Aber eines wünsch’ ich mir: Dann, wenn angestoßen wird und wenn der letzte Glockenschlag im Jahr 2000 verklingt, sollen die Menschen glücklich darüber sein, daß sie in einer friedlichen, in einer demokratischen Welt leben können. Das ist mein innigster und mein einziger Wunsch.

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