FORVM, No. 140-141
August
1965

Sechs der Brüder sind wir gewesen ...

Der große Krach in Brüssel ist da. Ohne jede pariserische Elegance hat de Gaulle die Tür zur EWG mit einem Knall geschlossen, der Widerhall in der ganzen Welt gefunden hat. Und doch ist dieser Exodus Frankreichs bei weitem nicht jene Sensation, zu der er hinaufgeredet und hinaufgeschrieben wurde. Denn daß die Sechsergemeinschaft von Krise zu Krise lebt und dabei gar nicht so schlecht gedeiht, ist eine Tatsache, deren sich alle Darwinisten als eines Beweises für die förderliche Kraft des struggle for life freuen dürfen.

Überraschend kam die neue Krise nur für jene, die den inneren Verhältnissen der Gemeinschaft zu wenig Aufmerksamkeit schenkten und nicht wahrhaben wollten, wie wenig wohl sich de Gaulle in seiner EWG-Haut fühlt. Denn daß Brüssel nicht der Fels ist, auf dem er sein „Europa der Vaterländer“ bauen kann, und daß er nicht daran denkt, dieses politische Leitziel irgendwelchen, und sei es selbst den profitabelsten wirtschaftlichen Zusammenschlüssen zu opfern, sollte man wissen. Was können dem General Exportzuschüsse und Agrarfonds gegenüber grandeur, gloire und mission sein, alles Synonyma für den einen Begriff: de Gaulle?

Solange die Sechsergemeinschaft seinen Plänen förderlich oder zumindest nicht hinderlich ist, wird er sie akzeptieren und als gut rechnender französischer Hausvater das meiste für die Seinen herausschlagen; aus dem Agrarfonds zum Beispiel im Wirtschaftsjahr 1962/63 die Kleinigkeit von rund 15 Millionen Dollar, etwa fünfzehnmal soviel, als Italien für sich retten konnte.

Doch sowie die EWG darangeht, ihre politischen Ziele zu realisieren, wie sie vor allem Bonn propagiert, und das Wort Supranationalität fällt, reagiert de Gaulle allergisch. Er kann nicht anders, es sei denn, er lasse von seiner eigenen Europavision, und das sollte man lieber nicht erwarten.

Dies alles vorausgesetzt, war seit langem klar, daß der General jede Chance, eine Revision des Römer Vertrages zu erzwingen, nutzen würde. Denn so falsch es ist, zu glauben, er wolle die EWG sprengen, so utopisch ist es, anzunehmen, er würde sie sich als politische Zwangsjacke anlegen lassen. Was er will, ist eine EWG, die ihm wirtschaftlich nützt und ihn politisch nicht behindert. Und das wäre nur eine EWG, die sich auf ihre ökonomische Integration beschränkt oder ihre politischen Ziele nach denen von Paris orientiert. Beides ist bisher nicht geschehen.

So mußte denn der 31. Dezember 1965, mit welchem Tag das bisherige Prinzip der Einstimmigkeit durch die dritte Stufe der Integration und das Mehrheitsprinzip für EWG-Beschlüsse abgelöst werden soll, für de Gaulle ein Stichtag sein, den er nicht tatenlos auf sich zukommen lassen konnte. Denn mit diesem Tag endet für ihn die Möglichkeit, Entwicklungen der Gemeinschaft durch sein Veto zu blockieren, und die Stimme der grande nation wird um keinen Centime mehr wert sein als die des joli petit Luxembourg.

Der Tag für einen Coup gegen Brüssel wurde der 30. Juni, nicht weil eine zwingende Notwendigkeit bestanden hätte, gerade dann aktiv zu werden, sondern weil die formale Möglichkeit gegeben war. Bis dorthin hätte nämlich Übereinkunft über die Finanzierung des gemeinsamen Agrarmarktes erreicht werden sollen. Dies gelang nicht, war aber im Begriffe, zu gelingen. Allerdings zeichnete sich eine Lösung ab, die den General empören mußte: die Hallstein-Kommission war drauf und dran, die Weichen zum supranationalen Teileuropa zu stellen, indem sie an einem Entwurf arbeitete, der Eigenmittel der Gemeinschaft und deren Kontrolle durch das Straßburger Europaparlament vorsah. Hier sollte eine Europa-Katze aus dem Sack gelassen werden, die das Pariser Europa-Konzept radikal zerstören konnte, wenn man sie nicht beizeiten abwürgte. Es war für Couve de Murville als Ratspräsidenten nicht eben leicht, der Weisung des Generals zu folgen und in den Morgenstunden des 1. Juli mit der Begründung, der Termin sei überschritten, die Sitzung aufzuheben. Seither ist Frankreich in Brüssel nicht mehr zu sprechen.

Denkt man, anders als de Gaulle, rein wirtschaftlich, dann ist diese Torpedierung des Agrarfinanzierungsgesetzes gerade für Frankreich ein sehr schlechtes Geschäft, und in der Tat sind die französischen Landwirtschaftskreise auf den General böse. Dieser aber muß nach dem Rücktritt Deferres von der Kandidatur nicht mehr sehr viele innenpolitische Rücksichten nehmen, und als kleines Trostpflaster hat er den Agrariern höhere Getreidepreise zugestanden.

De Gaulle denkt nicht in erster Linie ökonomisch. Für ihn ist die Wirtschaft ein Instrument der Politik, und eine Politik in Brüssel, die sich anschickt, jene souveräne Bewegungsfreiheit, die er für seine mondialen Pläne braucht, zu stören, wird er sich niemals aufzwingen lassen.

Was weiter? Propheten an die Front! Tatsächlich drängen sich die politischen Wahrsager in allen Institutionen, Ministerien und Journalen zum Wort, doch ihre Stimmung schwankt zwischen tiefster Desperation und Morgenstern’schem Optimismus, der eines guten Endes gewiß ist, weil ein schlechtes ‚‚nicht sein darf“. Die einen sehen die Liquidierung der EWG kommen. Österreichs Handelsminister Dr. Bock weiß es besser und nennt Pessimismus „Wunschdenken“. Die Londoner „Financial Times“ schreiben von „Frechheiten der Brüsseler Eurokraten, denen de Gaulle eine Lehre erteilen mußte“. Das gaullistische Parteiblatt „Nation“ meint, Frankreich könne, zum Unterschied von den anderen, „nicht berufenen“ EWG-Ländern, seine tausendjährige Berufung nicht aufgeben. Der Gedanke, Frankreich zu erniedrigen, sei für die Besiegten von gestern verführerisch gewesen, für die anderen EWG-Partner gleichgültig. „Le Monde“ ist — so wie Österreichs Außenminister Dr. Kreisky — davon überzeugt, daß die wirtschaftlichen Verflechtungen der sechs heute schon so stark sind, daß eine Sprengung der EWG unmöglich ist.

Das größere Vertrauen als auf die Automatik der irreversiblen Entwicklung ließe sich freilich auf die Lebenskraft der Brüsseler Bürokratie setzen, die tatsächlich weiterarbeitet, als stünde hinter ihr noch eine Regierung. Eine Idee ist viel leichter umzubringen als ihre Verwaltung. Wenn, wie man sagt, eine Katze sieben Leben hat, dann hat eine Bürokratie siebenmal sieben.

Daß aber dieses gleiche Vertrauen nicht auf die Kennedy-Runde gesetzt werden kann, in der die sechs Brüsseler Brüder nicht mehr unisono auftreten können, und daß von einem Brückenschlag zwischen EFTA und EWG auf lange hinaus nicht die Rede sein kann, ist ohne Zweifel. Auch Österreich wird sich zu gedulden haben. Seine Assoziationswünsche sind heute Brüssels allerkleinste Sorgen.

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